Gleichheit aller Menschen ist dummes Gefasel.
Tahar Ben Jelloun im Gespräch mit Estelle Surbranche
Ich treffe Tahar Ben Jelloun bei ihm zuhause, nicht weit vom Panthéon, im Herzen des berühmten Quartier Latin, dem Viertel der französischen. In seiner Wohnung besetzen hunderte Bücher – und nicht etwa die seinen – den Platz, vom Sofa bis zum Schreibtisch. Auf einem Beistelltisch sind auch Bücher aufgeschichtet. In den Ecken stehen farbige Gemälde mit ein paar elegant kalligraphierten Versen. Tahar Ben Jelloun ist nicht nur Schriftsteller und Dichter, er ist auch Maler und wird bald im Grand Palais ausstellen, wie er uns erzählt. Mit einer Handbewegung fegt er die Bücher vom Sofa und bittet uns, Platz zu nehmen. Das Gespräch kann beginnen.
Sie wollten schon länger über Schlaflosigkeit schreiben?
Das Thema taucht immer wieder in meinen Büchern auf. Einmal, weil ich mich damit gut auskenne. Schlaflosigkeit ist eine Nachwirkung meiner Zeit im Militärgefängnis vor fünfzig Jahren. Die Schlaflosigkeit ist zu meiner hartnäckigen Gefährtin geworden… sie will mich nicht verlassen.
Sie nehmen keine Schlafmittel?
Ich weigere mich Schlafmittel einzunehmen, denn ich will mich nicht daran gewöhnen. Doch ich nehme trotzdem kleine Sachen… Kurz und gut, ich verhandele die ganze Zeit mit mir selbst. Schlaflosigkeit ist für einen Schriftsteller interessant, denn sie ist ein Moment, in dem man alles in Frage stellt. Doch meine Schlaflosigkeit bewirkt keinen großen Schaffensdrang. Zum Beispiel schreibe ich nie nachts. Ich schreibe morgens am Schreibtisch, in aller Ruhe.
Und wenn Sie nicht schlafen können, haben Sie da keine Lust auszugehen, Leute zu treffen?
Nein, ich drehe mich im Kreis… Ich räume auf. Die Nacht ist zum Schlafen da, man sollte sie nicht stören… (Schweigen) Aber ich fand es interessant dieses Thema mit Humor, mit Leichtigkeit, sogar surrealistisch zu behandeln, daher die Idee von Schlaflos. Der Held entdeckt, dass er, wenn er Leuten beim „Abgang“ hilft, Schlafkreditpunkte sammelt. Es ist ein unmoralischer Roman. Es gibt keine Polizei, es gibt kein Urteil. Er wird sogar zu einem poetischen, nützlichen Mörder… Das ist einer der Gründe, warum das Buch laut CNews, einem französischen Informationssender, einer der besten Kriminalromane des Jahres 2019 ist.
Hat Sie das erstaunt?
Ja… Ich habe noch nie einen Kriminalroman geschrieben. Ich kann das gar nicht… Man braucht eine besondere Technik. In meiner Jugend habe ich Maigret gelesen, Chase… Doch für mich war es ein minderwertiges Genre. Ich habe mich dann lieber mit dem Kino beschäftigt, besonders mit den amerikanischen Thrillern.
Hat Ihnen diese Übung des Krimischreibens gefallen?
Ich kam zufällig dazu, doch es hat mir Lust gemacht, einen „echten“ Thriller zu schreiben. Ich finde die Figur des Berufskillers interessant. Keine Emotion, kein Affekt. Sie haben keinerlei Bedenken. Wenn jemand Sie morgen bittet, ihren Nachbarn umzubringen, wird es Ihnen schwerfallen. Aber denen nicht. Hitchcock sagte, „niemand ist sich dessen bewusst, aber jemanden töten ist sehr schwer“. Nicht, wenn Sie von weitem eine Maschinengewehrsalve abgeben. Doch wenn er vor Ihnen steht und Sie auf ihn einstechen müssen ist es sehr schwer. Im Film Der zerrissene Vorhang fällt es Paul Newman schwer zu töten. Das Leben widersetzt sich.
Haben Sie sich erkundigt, wie man jemanden töten kann?
(Lachen) Nein, ich stelle es mir vor… Aber es ist doch einfach, oder? Mein Held taucht in Kliniken auf, wo der Tod bereits zugange ist. Man braucht nicht viel Kraft. Als das Buch in Frankreich erschien, waren meine Stammleser schockiert. Als ich in den Buchhandlungen las, kamen die Leute, um mich zu beschimpfen (Lachen). „Monsieur, Sie haben uns an Geschichten mit einer bestimmten Moral gewöhnt und jetzt, peng, töten Sie Menschen!… zudem töten Sie als erstes Ihre Mutter.“ Ich erwiderte: „Aber nein, ich erlöse meine Mutter, das ist nicht das Gleiche“. (Lachen)
Auch wenn es eine burleske Farce ist, so behandeln Sie doch wichtige Themen, wie das Recht auf einen würdigen Tod, was in Marokko und in Frankreich verboten ist…
Es ist doch wirklich merkwürdig, dass Frankreich immer noch zögert, den Leuten zu erlauben in Würde von uns zu gehen. Zum Beispiel, mein Freund Guy Bedos (Kommentar der Interviewerin: ein berühmter französischer Komiker, der kürzlich verstarb) hatte mir vorher gesagt: „Ich habe mir den Arzt schon ausgesucht“. Doch es gibt Ärzte, die deswegen Schwierigkeiten bekommen haben. Man müsste ein System finden, bei dem der Abgang von Ärzten begleitet wird. Heute muss man nach Belgien fahren und dafür bezahlen.
Anfangs geht es darum, den Leuten beim Abgang zu helfen… Dann sagt ihm ein Freund „wir können mehr tun“ und da wird es politisch!
Ja, denn er beginnt Dreckskerle zu töten: Drogenhändler, einen Pädophilen, Folterer oder den reichsten Mann Marokkos. In Marokko haben wir steinreiche Leute, die Milliarden Dollars besitzen und nichts für ihr Land tun. Für mich war es Rache an diesen Schweinehunden, die auf dem Rücken Marokkos und der Marokkaner riesige Vermögen angehäuft haben und nichts zurückgeben… im Gegensatz zum Beispiel zu Bill Gates, der über eine Stiftung Menschen hilft.
Jedenfalls fällt Töten ihm ziemlich leicht.
Ja, aber zugleich: wer achtet denn auf die Alten in den Krankenhäusern? Ich denke, es ist ziemlich einfach, hineinzugehen, einen Kittel anzuziehen und jemanden zu ersticken.
Es geht auch um den Wert eines Menschenlebens. In Ihrem Buch sind nicht alle Leben gleich viel wert, denn sie bringen ihm nicht die gleiche Anzahl an Nächten voll Schlaf. Ein Vagabund bringt nichts ein, ein Minister viel…
Ich habe das aus einem Interview mit einem Auftragskiller entnommen. Als sie ihn fragten, wie er sein Honorar festlegte, meinte er „Das hängt davon ab.“ Der Vagabund im Viertel kostet fünfzig Dollar. Doch falls ich den Präsidenten töten soll, wird es erheblich teurer.“
Dabei leben wir doch in Gesellschaften, wo alle Menschenleben gleich viel wert sein sollen, oder?
Ja, vor dem Gesetzt sind alle gleich, aber nicht vor dem Tod. Sehen Sie sich doch nur an, wie es zum Beispiel mit dem Coronavirus läuft. In manchen Ländern hat man eine Auswahl getroffen und zum Beispiel auf den Intensivstationen die Unterfünfundsechzigjährigen bevorzugt. Wer siebzig war oder älter, den hat man sterben lassen. In den europäischen kapitalistischen Gesellschaften ist der Einzelne im Wesentlichen so viel wert, wie er auf seinem Bankkonto hat. Gleichheit aller Menschen ist dummes Gefasel. Alles wird nach dem Besitz bemessen. Ich erinnere mich, als im Januar 2015 nach den Morden bei Charlie Hebdo Staatschefs nach Paris kamen, um mit zu demonstrieren, waren die Mächtigen wie Angela Merkel in der ersten Reihe. Sarkozy, der ehemalige Präsident, schaffte es nicht, sich in die erste Reihe vorzudrängen. Er war nicht mehr Präsident, er war nichts mehr. Es ist das Gesetz des Dschungels. Ohne Macht oder Geld hat man nichts. So funktioniert unsere heutige Gesellschaft und die Leute haben sich daran gewöhnt. Also gibt es auch keine Bedenken mehr.
Wo leben Sie heute?
Zwischen Paris und Tanger. Das ist meine Heimatstadt. Doch seit Februar war ich nicht mehr dort. Ich sollte im Oktober nach Berlin reisen, doch da wir Pariser dort in Quarantäne gehen müssen, muss ich es verschieben.
Sie sind also ein guter Beobachter der Entwicklung der Gesellschaft in Marokko, besonders in Bezug auf die Emanzipation der Frau.
Ich vertrete das Recht auf Gleichheit zwischen den Menschen, daher auch Gleichheit zwischen Männern und Frauen. In manchen islamischen Ländern beruft man sich auf den Islam und die Religion, um die Frauen zu unterdrücken. Das ist unerträglich.
Frauen waren immer Teil Ihrer Romane, aber in diesem erkämpfen sich einige von Ihren Figuren eine Art Unabhängigkeit.
Da Frauen keine Rechte haben, nehmen sie sich ihre eigenen Rechte und setzen sich mit ihrem Temperament und ihrem Charakter durch. Das Problem ist, dass arme Frauen ohne viel Phantasie weiter niedergeschlagen werden. In Marokko wehren sich die Frauen. Die marokkanische Zivilgesellschaft wird im übrigen von Frauen bestimmt. Alle diese Vereinigungen – touche pas à mon enfant, les femmes célibataires…- werden von Frauen geleitet. Es gibt eine Entwicklung und die Islamisten werden bekämpft. Leider wird das Land heute von völlig unfähigen Islamisten regiert. Letztes Jahr gab es eine große Bewegung, um den Artikel 490 abzuschaffen, der uneheliche Beziehungen, Homosexualität… verbietet. Tausende marokkanische Männer und Frauen schlossen sich an. Doch die Regierung schert das nicht. Es sind rückschrittliche Islamisten. In der Verfassung von 2011 sollte auch die Gewissensfreiheit festgeschrieben werden. Die Islamisten, diese gefährlichen Idioten, haben alles daran gesetzt, das zu verhindern. Zur Zeit steht das – in Bezug auf die arabischen Länder – nur in der tunesischen Verfassung. Das ist grundlegend. Das Recht des Einzelnen zu sagen, dass er nicht an Gott oder nicht an Mohamed glaubt. Wer das heute in Marokko zu sagen wagt, kommt ins Gefängnis. In Ägypten oder Saudi-Arabien ist es ein Apostat und man kann dafür zum Tod verurteilt werden.
Zugleich verhindert das ja die sexuelle „Perversion“ nicht, wie Sie im Buch aufzeigen.
Alles ist möglich. In Marokko gibt es wie überall auf der Welt die schlimmsten sexuellen Perversionen… aber sie sind versteckt. In Deutschland gibt es Clubs, um seine sexuellen Phantasien auszuleben. In Marokko sind alle Heilige … scheinbar. Kürzlich las ich die Memoiren einer Prostituierten, die erzählte, wie die Mullahs oder Islamisten die schlimmsten Schweinereien von ihr verlangten; danach gingen sie in die Moschee und hielten Moralpredigten.