Leseprobe: Mike Knowles: „TIN MEN“

 

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© Christoph Kretschmer / Adobe Stock

Os war auf dem Weg zu Sully’s Tavern, später als geplant, denn das Dreckstück im Kabuff hatte einfach nicht das Maul aufmachen wollen. Os hatte dem Typen gegenübergesessen und das Reden seinem Partner Woody überlassen. Wie immer hatte Woody den Kerl eingewickelt, hatte ihm verklickert, was sie bereits sicher wussten und was sie in ein, zwei Tagen würden beweisen können. Woody knackte fast jeden Fall; wenn er den Vernehmungsraum betrat, hatte er immer alle Trümpfe in der Hand. Meistens knickte der Verdächtige unter der Beweislast schnell ein, und alle konnten pünktlich Feierabend machen. Heute Abend war es anders gelaufen. Der kleine Wichser war auf frischer Tat ertappt worden. Woody hatte ihm die Aufnahmen der Kamera im Minimart auf der gegenüberliegenden Straßenseite gezeigt. Grobkörnige Bilder zwar, die aber erkennen ließen, wie er die alte Frau überfallen hatte, und Woody hatte sie ihm als Nägel zu seinem Sarg verkauft. Os hatte den Vergewaltiger beobachtet, der stocksteif dagesessen und die Wand hinter den beiden Cops angestiert hatte. Er hatte nicht nach einem Anwalt verlangt, und Woody hatte ihm in aller Deutlichkeit klargemacht, dass er nur durch ein Geständnis noch auf irgendeinen Deal hoffen konnte. Aber der Typ war stumm geblieben, hatte zugehört und sie nicht angesehen. So war das über Stunden gegangen, dann hatte der Drecksack zum ersten Mal den Mund aufgemacht: »Anwalt.«

Os war gerade rechtzeitig wieder reingekommen, um dieses einzige Wort mitzuerleben. Die sechs Buchstaben fegten die sorgfältig eingefädelte Vernehmung vom Tisch wie eine Hand die Figuren eines Schachspiels zwei Züge vor Schachmatt. Woody hatte resigniert die Hände gehoben, gesagt »Wie du willst«, und war, die beiden Kaffeebecher in den Händen, an Os vorbei aus dem Raum gegangen. Er hatte nicht aufgegeben, er musste pinkeln. Im Laufe der Vernehmung hatte er mindestens sechs Tassen Kaffee runtergekippt und Nachschub verlangt, wann immer Os seinen Stuhl nach hinten geschoben hatte, um aufzustehen. Os sah seinem dürren Partner nach. Der Vergewaltiger starrte stur geradeaus. »Du hättest reden sollen«, sagte Os. Der Typ lächelte leicht. Os spürte, wie sich seine Nackenhaare aufstellten. Am liebsten hätte er den Typen mit der Fresse zuerst in die Betonwand gedonnert, hart genug, um Zähne rauszuschlagen und Knochen zu brechen, aber das ging hier drin nicht. Im Nebenzimmer stand ein Monitor, auf dem andere Detectives das Verhör verfolgten. Os hatte mehr Stunden auf diesen kleinen Bildschirm gestarrt als auf seinen eigenen Fernseher zu Hause. Er kannte den Kamerawinkel und das ziemlich unscharfe Bild genau und hatte sich absichtlich den linken Stuhl ausgesucht. So saß er mit dem Rücken zur Kamera. Die Kamera war nach Durchschnittsmaßen ausgerichtet. Os war mindestens einen Kopf größer und fünfzig Pfund schwerer als alles, was einem Durchschnittsmenschen ähnelte. Seine Übergröße bedeutete, dass die Kamera ihrer Aufgabe nicht mehr gerecht wurde, wenn sich Os auf den linken Stuhl im Vernehmungsraum setzte. Os war eins achtundneunzig groß, und wenn er sein Jackett über die Stuhllehne legte, hing es auf dem Boden. Dadurch waren seine Füße nicht zu sehen. Woody hatte vor Jahren einen Witz über Os’ XXL-Jackett gerissen: Er würde darin aussehen wie Onkel Fester von der Addams Family. Ein paar Kollegen hatten gelacht, und ein neuer Spitzname war geboren. Der Name überlebte keine Woche, aber Os hatte nie vergessen, was die Kamera sah – und was nicht.

Er stellte die beiden Kaffeebecher in die Mitte des Tisches, zog sein Jackett aus und setzte sich. »Das Gespräch war ein bisschen einseitig.« Der Vergewaltiger beäugte den Kaffee. Nachdem er mit angesehen hatte, wie sein anderer Vernehmer Tasse um Tasse schlürfte, hatte er jetzt natürlich Durst. Os sah die Becher an, dann den Mann. Er zuckte die Achseln. »Nur zu.« Der Vergewaltiger streckte die mit Handschellen gefesselten Arme aus und hob langsam den Plastikbecher an den Mund. Der Kaffee war besonders schlecht und besonders heiß, wie der Mistkerl zu Os’ großer Freude schnell herausfand. Beim ersten vorsichtigen Schluck verbrannte er sich die Zunge, zuckte zusammen und wollte den Becher wieder abstellen. Als er noch etwa drei Zentimeter über der Tischplatte schwebte, streckte Os das Bein aus und schob den Stuhl des Typen ein Stück nach hinten. Die Bewegung war schnell und behände und an Os’ Oberkörper nicht abzulesen. Der Vergewaltiger hatte seine Aufmerksamkeit auf den Kaffeebecher gerichtet und kapierte einen Sekundenbruchteil zu spät. Die abgerundete Tischkante bot weniger Halt als eine alleinerziehende Alkoholikerin, und schon landete der Becher im Schoß des Vergewaltigers. Ein Schrei, dann kippte der Stuhl um, als der Mann aufsprang und an die Wand zurückwich, wobei er krampfhaft versuchte, sich den Stoff seiner Hose vom Körper zu ziehen. Os erhob sich ebenfalls und zog umständlich Papierservietten aus der Tasche. Er hatte oft genug Kaffee auf seinen Anzug verschüttet und immer einen dicken Packen der dünnen Dinger dabei. Da der jammernde Typ keine Anstalten machte, sie zu nehmen, drückte Os sie ihm gegen die Brust und hielt sie dort fest. »Du musst besser aufpassen. Die Becher sind echt heiß«, sagte er gerade laut genug fürs Mikrofon. Denn Os wusste nicht nur, was die Kamera im Vernehmungsraum sah, sondern auch, was das Mikrofon hörte. Über die Jahre hatte er herausgefunden, dass es im Kabuff eine tote Zone gab, in der nichts aufgezeichnet wurde, was unter normaler Gesprächslautstärke lag. Os drückte dem erstarrten Mann die Servietten an die Brust, ließ sie dann mit einer kaum wahrnehmbaren Bewegung los und bohrte ihm einen Daumen in den Brustkorb. Eine von inzwischen abgekühltem Kaffee noch feuchte Hand landete auf seiner und versuchte, den eingedrungenen Daumen wegzuziehen. Os wandte das Gesicht von der Kamera ab und sagte: »Hoff mal lieber auf einen miserablen Anwalt. Vergewaltiger leben draußen gefährlich. Da können einem schlimme Dinge passieren.« Dabei senkte er seinen schweren rechten Stiefel auf den leichten Nike-Trainer des Vergewaltigers herab und erhöhte den Druck, ohne dass mehr zu erkennen gewesen wäre als ein plötzliches Aufkeuchen, zu leise für das schlechte Mikrofon. »Und jetzt entschuldige dich dafür, dass du den Kaffee verschüttet hast.« »T-tut mir leid.« Os hob die Stimme, damit das Mikrofon ihn hörte. »Kann ja mal passieren.« Er nahm den Fuß weg, gab dem Vergewaltiger einen Klaps auf den Rücken und wandte sich um, um sein Jackett von der Stuhllehne zu ziehen. »Setz dich«, sagte Os. »Ich versuch dir jetzt mal einen Anwalt zu besorgen.«

Als er endlich Feierabend hatte, war es spät geworden. Er hatte gehofft, noch rechtzeitig zum Kampf im Sully’s zu sein. Dort war es nie sehr voll, und auf Os’ Bitte hin schaltete der Barmann immer bereitwillig auf ESPN2 Classic Boxing um. Heute lief Cassius Clay gegen Sonny Liston. Os mochte Liston. Vor seiner Profikarriere war der ehemalige Schwergewichtschampion Knochenbrecher für die Mafia gewesen. Harte Muskeln und ein schwarzes Herz. Und er kämpfte, als hätte er eine Riesenwut auf die Welt. Jeder Schlag sollte wehtun – sogar seine Führhand war aus Dynamit. Clay hatte ihn geschlagen, aber Liston hatte dafür gesorgt, dass er sich den Sieg schwer erkämpfen musste; als Clay aus dem Ring stieg, wusste er, was er hinter sich hatte. Os schaute beim Fahren immer wieder nach allen Seiten. Nach Jahren im Streifenwagen und noch mehr Jahren bei der Armee reichte ihm der Blick geradeaus auf die Straße nicht. Er fuhr zu schnell und kam trotzdem nicht weiter, weil irgendein Arschloch bei der Stadt die Ampeln so geschaltet hatte, dass niemand mehr als zwei Grünphasen hintereinander schaffte. Er drehte das Lenkrad seines Jeeps hin und her und verfluchte die Uhr. 23:14. Wahrscheinlich war der Kampf schon zu Ende. Er würde gerade noch mitbekommen, wie Liston das Handtuch warf, und dann seinen Drink zu koreanischem Pingpong leeren müssen. Durch den Vergewaltiger und den verpassten Kampf waren Os’ Nerven angespannt, und als er einen Typen gegen eine Hauswand pissen sah, rissen sie. Drei weitere Männer hingen auf der winzigen Rasenfläche vor dem Haus rum und warteten, bis der vierte sein nasses Geschäft verrichtet hatte. In seiner Zeit in Uniform hatte Os die Tür dieses Hauses nach Beschwerden über das darin hausende Pack zweimal eingetreten. Die Tür war immer noch zugenagelt, die vier Typen waren also schlau genug, den Hintereingang zu benutzen. Os parkte drei Häuser weiter und stieg aus. Mit gesenktem Kopf ging er die Straße entlang. Er schlug den Kragen seines Wollmantels hoch und stopfte die Hände in die Taschen. Die Temperatur war heute nicht über minus fünf gestiegen, die Nacht schien den Nachmittag als Ansporn zu nehmen und das Thermometer noch mal um zehn Grad zu drücken, nur um auf dicke Hose zu machen. Os’ Klamotten verkündeten nicht Cop, ebenso wenig wie seine Hautfarbe. Die meisten würden einen Schwarzen nicht für einen Polizisten halten. Os war scheißegal, wofür die meisten ihn hielten. Oft nutzte er den allgemeinen Rassismus zu seinem Vorteil; Vorurteile halfen ihm, viel näher an die Arschlöcher ranzukommen. Wenn die zu blöd waren, ihn für einen Cop zu halten – ihr Pech. Die vier unterbrachen ihr lautstarkes Gegröle erst, als Os den Gehweg verließ und den schneebedeckten Vorgarten betrat. Der bräunliche Schnee hatte nichts mit dem weißen Zeug auf einer Weihnachtskarte gemeinsam. Die Stadt schüttete Unmengen von Sand und Salz auf die Straßen, und die Schneepflüge schmissen den Brei auf die Grundstücke der Anwohner. Das Gras unter dem Schneematsch überlebte nur, wenn jemand wirklich viel Zeit und tonnenweise Wasser einsetzte. Os Knowles vermutete, dass keiner von diesen Junkies irgendwas zum Wachsen bringen konnte. »Was willste?« Die Frage kam von einem Weißen, der sich auf der Haustreppe niedergelassen hatte. Ein anderer aus der Gruppe stand auf, ein schwarzer Typ mit dem Gesicht voller Narben und zwei Zahnlücken. Os überlegte, was die vier genommen haben mochten. Meth war allerorten, aber wie die Medien berichteten, hatte sich in letzter Zeit auch Fentanyl verbreitet. Die Notfallärzte konnten sich schon mal für die Mischung aus beiden Drogen bereit machen. Dirty hieß das. Os musterte die vier verdreckten Junkies und fragte sich, ob sie auf Ironie standen. In den vier Augenpaaren, die ihn anstarrten, war kein Fentanyl zu erkennen. Jeder der Männer hatte irgendeinen Tick, ein wippendes Knie oder schnelles Blinzeln, was nicht für ein Opiat sprach – es waren Methheads. Os verteilte im Kopf Nummern. Der Laberer war Nummer eins, der, der aufgestanden war, seine Nummer zwei. Der dritte Typ und der Pinkelnde waren Mitläufer, die er ignorieren konnte. Alles hing von Nummer eins und zwei ab. Os hielt seine Dienstmarke hoch. »Aufstehen.« »Ein Scheißbulle? Scheiße, wir ham nichts gemacht. Was willst du von uns, ey? Das is’ Scheißprofiling, Mann«, sagte der Weiße. Das gefiel Os – als schwarzer Cop für Profiling beschimpft zu werden. »Aufstehen«, wiederholte er. Er öffnete seinen Mantel, damit die vier seine Waffe sahen und kapierten, dass er es ernst meinte. Die anderen beiden, ein kleiner Latino und der Pisser, ein blasses Pummelchen, kamen jetzt auf die Verandatreppe zu. Nummer eins blieb auf seinem Arsch sitzen. Da Os nicht im Vorgarten aktiv werden wollte, hielt er ihm eine Karotte hin. »Hände an die Seitenwand. Los jetzt.« Os beobachtete, wie der drogenverranzte Verstand von Nummer eins diese Information verarbeitete. Es dauerte ein bisschen, bis er kapiert hatte – vier gegen einen, von der Straße nicht sichtbar. Sein Lächeln entblößte die wenigen verbliebenen braunen Zahnstummel. Was sich anscheinend nie jemand klarmachte: Wenn Meth etwas so Hartes wie einen Zahn kleinkriegte, hatten die Organe im Körper keine Chance. »Okay, Officer«, sagte Nummer eins. »Machen wir.« Nummer zwei lächelte und folgte Nummer eins um die Hausecke. Die anderen beiden Junkies schwangen hinterher wie ein wackelnder Arsch. Os beäugte die vor ihm trabende Meute. Meute war das passende Wort. Die Typen sahen aus wie dürre, klapprige Hunde – Kojoten. Hunde sind Aasfresser und jagen im Rudel. Sie isolieren ein schwächeres Opfer und reißen es nieder, aber immer gibt es ein Alphatier, das die Beute auswählt. Dass die vier Männer sich so spät am Abend draußen rumtrieben, bedeutete, dass sie nichts mehr zu rauchen hatten – die Meute brauchte Futter. Jäger machen sich meistens nichts aus Kojoten – sie sind auf größeres Wild aus –, aber da entgeht ihnen was. Ein paar Wildhunde in die Ecke getrieben, das gibt einen echten Kampf. Danach interessiert einen kein Hirsch mehr. Der schmale Durchgang neben dem Haus war auf der einen Seite von der Ziegelsteinwand, auf der anderen von einem Holzzaun begrenzt, der zum Nachbarhaus gehörte. Os konnte Nummer eins nicht sehen, als der rief: »Sollen wir die Hände hochheben, Officer?« Os fühlte das Adrenalin losrauschen. »An die Hauswand.« Und dann kam es. »Zwing uns doch.« Nummer drei und vier waren die Mitläufer, loyal, aber auch high auf etwas, das irgendein Küchenchemiker gemischt hatte. Sie brauchten eine Weile, um die Bedeutung der Worte ihrer Alphas zu verarbeiten und zu kapieren, dass das Wörtchen »uns« bedeutete, dass sie diejenigen waren, die sich als Erste bewegen sollten. Os wartete nicht, bis die elektrischen Impulse in den Matschbirnen von Nummer drei und vier übergesprungen waren. Bevor der kleine Latino sich auch nur gerührt hatte, trat Os ihm das Rückgrat ein. Der Latino war höchstens eins fünfundsechzig und spindeldürr. Os wählte sein Ziel so, dass der kleine Mann nicht bloß von seinem Fuß abprallte, sondern der Rücken sich durchbog, und dann gab es irgendwo in seinem Inneren ein lautes »Plopp«, und der Latino fiel gegen seinen Kumpel, der daraufhin das Gleichgewicht verlor und schwankte. Os trat über den Latino hinweg und schlug dem Pisser dreimal hart auf den Hinterkopf. Er krachte mit dem Gesicht gegen die Hauswand und klappte zusammen. Nummer eins und zwei verzogen sich in den Hinterhof. Sie hatten mehr Verstand als die anderen beiden; als Os um die Ecke kam, hatten sie bereits die Hände oben. »Komm doch, Bulle.« Aus dem Narbengesicht klangen die Worte noch hässlicher. Nummer eins und zwei rückten ein Stück auseinander, damit Os in zwei Richtungen gleichzeitig kämpfen musste. »Für die Marke und die Knarre gibt’s ’ne Menge Kohle«, sagte Nummer eins. »’Ne Menge.« Os blieb an der Hausecke stehen, sodass der Seitendurchgang hinter ihm lag. Die Junkies rechneten mit ihm auf dem offenen Hinterhof, einen Plan B hatten sie nicht. Als sie kapierten, dass er nicht tat, was sie wollten, versuchten sie, ihn mit Beschimpfungen wie »Pussy« und »Feigling« aus der Deckung zu locken, aber Os rührte sich nicht vom Fleck. Er öffnete nur seinen Mantel und zeigte ihnen die Dienstmarke. Schließlich wurde Nummer zwei gierig, ließ den Plan fallen und sprang mit einem hohen Kick auf Os zu. Damit hatte er nicht gerechnet. Für einen Junkie war Nummer zwei ganz schön fix, und der Kick zielte darauf ab, Os seitlich am Kopf zu treffen. Der Methhead ließ dabei sogar ein »Hijah« hören. Os’ Reflexe waren besser als gut, außerdem hatte er den Vorteil, dass sein Hirn nicht von Meth vernebelt war. Er bewegte sich vorwärts und flirtete zunächst mit dem Kick, um dann plötzlich die Richtung zu ändern und sich so tief zu bücken, dass der Angriff ins Leere lief. Os ließ den Tritt seinen Zenit erreichen und änderte wieder die Richtung. Der Sekundenbruchteil zwischen Höhepunkt und Rückzug reichte ihm. Explosionsartig schoss er aus der gebückten Haltung nach oben und stieß mit beiden Händen hammerartig gegen das dürre Bein, das immer noch auf Augenhöhe in der Luft hing. Nummer zwei wurde von seinem Fuß gerissen, und an der Art, wie er sein Bein festhielt, als er rücklings auf dem Boden lag, wusste Os, dass irgendwas darin gerissen war. Nummer eins holte jetzt ein Teppichmesser aus der Tasche und schob mit dem Daumen die Klinge hoch. Os hätte seine Glock ziehen können, aber er war nicht auf eine Verhaftung aus, und eine Schießerei wäre zu laut gewesen. Der Junkie kam auf ihn zu und säbelte mit großen Messerschwüngen die Luft klein. Das sollte geschickt und gefährlich wirken, sah aber bloß schludrig aus. Dann setzte Nummer eins einen vertikalen Schwung von unten an, mit dem Ziel, Os die Messerspitze in den Bauch zu rammen und hochzureißen bis zum Hals. Os warf sich diagonal dagegen und wich der Klinge um wenige Zentimeter aus. Nummer eins hatte viel Kraft in den Angriff gelegt, und als er sein Ziel verfehlte, stolperte er nach vorne, Opfer seines eigenen Schwungs, auf einen Ellbogen zu, der direkt vor seiner Nase hing. Os erreichte mit einer Hüftbewegung maximale Drehkraft, und Nummer eins fiel um wie vom Blitz getroffen. Die harte Schneedecke brach unter seinem Gewicht und hüllte ihn ein. Im Dämmerlicht der wenigen Straßenlaternen hinter dem Haus sah Os, dass das Gesicht des Junkies ziemlich platt war. Os hob einen Fuß und versank dabei mit dem anderen tiefer im Schnee. Die dicke Gummisohle seines Stiefels hing wie eine dichte schwarze Regenwolke über dem Gesicht des Junkies. Er wollte gerade zutreten, als sein Handy klingelte. Erst wollte er den Anruf ignorieren, aber das war nicht sein Stil – die Pflicht rief. Os setzte den Fuß wieder im Schnee ab und fischte sein Handy aus der Tasche. »Yeah?« »Os, ich brauch dich hier an der 110 Ferguson Avenue South«, sagte Jerry Morgan, Detective Sergeant der Mordkommission von Division 1. Die Adresse klang vage vertraut. »Was ist los, Jerry? Ich hab gerade Feierabend gemacht.« Jerry seufzte, und Os sah vor sich, wie der rundliche Sergeant in seinem Schreibtisch nach seinem schier unerschöpflichen Süßigkeitenvorrat kramte. »Wir haben einen Polizistenmord. Sie war nicht im Dienst. Es ist bei ihr zu Hause passiert. Sie war auf Bandenkriminalität angesetzt. Julie Owen. Kennst du sie?« »Nein«, sagte Os. »Sieht schlimm aus, Os. Ich brauch dich da.« Der Wunsch, dem Methhead die Fresse einzutreten, verschwand wie eine Münze in der Hand eines Zauberers. Os stieg über den schlapp daliegenden Junkie hinweg und ging zur Straße. »Ich bin in zehn Minuten da.«

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