Leseprobe: Marcello Fois – Abschiede

 

… Vor allem anderen
© Christoph Kretschmer / Adobe Stock

Als sie Gea mitteilten, dass ihr Vater gestorben war, wohnte sie schon seit einigen Tagen bei den Ludovisis. Das Gericht hatte verfügt, dass sie die Ludovisis von jetzt an ihre Familie nennen musste.

Sicher ließ sich nicht behaupten, dass dieser Tod sie nichts anginge. Immerhin handelte es sich um ihren Vater und um den Mann, der ihrem Bruder Lilo Böses angetan hatte.

Jahre später, als sie zur Frau geworden war, las sie irgendwo, dass Oreste Bomoll sich bis zu seinem Tod für unschuldig erklärt hatte. Und dass die Formulierung er war gestorben durch die zutreffendere er hat sich das Leben genommen zu ersetzen war. Das mochte wie eine sprachliche Spitzfindigkeit klingen, brachte aber in jeder Hinsicht einen wesentlichen Unterschied zum Ausdruck. Zumindest in den Augen von Gea. Wie immer die Dinge auch gelaufen sein mochten, sie wusste sehr gut, was sie gesehen hatte. Und dem Polizeibeamten, der sie befragte, hatte sie nichts verheimlicht, genau wie die Tante es ihr aufgetragen hatte. Denn die Tante hing sehr an ihr und an Lilo.

Es war ein Nachmittag mitten im Herbst. Die Familie, der sie anvertraut worden war, lebte weit entfernt von dem Ort, an dem sie geboren worden war. Von den Fenstern des neuen Hauses ging der Blick auf Felswände und zu einem Streifen reinweißen Himmels. Die Ludovisis waren anständige Leute und hatten sie mit der größtmöglichen Herzlichkeit aufgenommen. Und sie hatte dem eine gewisse Passivität entgegengesetzt. Sie hatte sich trösten, ernähren, kleiden, kämmen lassen und alles Übrige. Sie hatte zugelassen, dass sie mit ihr all das machten, was eine Familie mit den eigenen Kindern machen muss. Als sie ihr an diesem Nachmittag mitteilten, dass ihr Vater gestorben war, nahm sie die Nachricht daher wie eine weitere bislang in der Schwebe hängende Angelegenheit auf, die endlich ad acta gelegt werden konnte: Lilo, ihr Zwillingsbruder, war verschwunden; die Tante war abgereist; der Vater war gestorben.

Signora Ludovisi traute sich nicht, sie zu streicheln, wenngleich sie dachte, dass in dem Moment eine liebevolle Geste sicherlich angebracht wäre. Und Gea verhielt sich so distanziert, dass jegliche Berührung von vornherein unmöglich war.

Noch am selben Abend jedoch, in dem eigens für sie hergerichteten Zimmer, zeigte sie Nicola, dem Sohn der Ludovisis, wie man sich umarmt.

»Dein Vater ist gestorben. Vor drei Monaten, als du im Heim warst«, sagte Signora Ludovisi gedehnt, mit einer Spur von Bedauern, weil ihr keine weniger unverhüllte Formulierung eingefallen war.

Einige Minuten zuvor hatten sie noch davon gesprochen, dass der echte Winter vor der Tür stehe, es schneien werde, man sich gut einpacken müsse, wenn man das Haus verlässt, und dass bald wieder die Heiße-Schokoladen-Zeit anbrechen werde. Und dann, ganz unvermittelt, hatte Signora Ludovisi gesagt: »Gea, da ist etwas, das ich dir sagen muss.« Und die Veränderung in ihrem Ton hatte dem jähen Vorbeirauschen der Wolken geglichen, das einen sonnigen Vormittag in einen grautristen Nachmittag verwandelt. »Setzen wir uns doch einen Moment«, hatte sie gesagt, war ihr zum Sofa vorausgeeilt und hatte mit der flachen Hand auf den leeren Platz neben sich geschlagen. Gea war ihr gefolgt, aber anstatt sich auf den ihr zugewiesenen Platz zu setzen, hatte sie den Sessel gegenüber gewählt. »Dein Vater ist gestorben, vor drei Monaten, als du im Heim warst«, sagte Signora Ludovisi mit Nachdruck. »Sie wollten abwarten, bis du eine Pflegefamilie hättest, bevor sie es dir mitteilten. Jetzt hast du uns.« Dann deutete sie eine liebevolle Geste an, merkte aber, dass das Mädchen zu weit weg war und ihre Geste am Ende plump wirken würde, also ließ sie davon ab.

Gea sah sie an. Dann blickte sie um sich. Sie hörte Nicola mit seinen Freunden im Hof Fußball spielen und sah, dass sich der Fetzen Himmel über den Bergkämmen kobaltblau gefärbt hatte. »Eine heiße Schokolade wäre mir jetzt doch willkommen«, sagte sie.

 

ERDE

Ich schwöre, die Erde wird sicher vollkommen sein für
ihn oder sie, die vollkommen sind.
Die Erde bleibt Stückwerk und brüchig für ihn oder
sie allein, die Stückwerk und brüchig bleiben.

 

Walt Whitman Grashalme,
übersetzt von Hans Reisiger, Zürich 1985

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