Leseprobe: Taylor Brown – Maybelline
1
Howl Mountain, North Carolina
Herbst 1952
Der Wagen setzte sich im Morgengrauen in Bewegung. Die Scheinwerfer warfen ihr Licht auf die alten Serpentinen, welche die Berghänge durchzogen, während Donner und ein Echo des Donners zwischen den Bergkämmen hindurch hallte und ringsherum grollte. Die Straße führte im Zickzack vom Hochland ins Dunkel der Täler hinunter, vorbei an mit Dynamit gesprengten Bergkuppen und bisweilen den blassen Sehnen der alten Forststraßen folgend, die diese Erhebungen vor einem halben Jahrhundert durchzogen hatten. Er fuhr stetig gen Osten, wobei der Wagen brummend endlose Meilen durch die dunkler werdende Landschaft mit ihren Gebirgsausläufern zurücklegte und eine fast unsichtbare Staubwolke hinter sich herzog, die sich auf Briefkästen und Rinder und bereits geerntete Tabakfelder legte. Die Straße führte immer weiter hinab, überließ sich der Geschwindigkeit des Wagens und der Hitze des Motors, während Sterne über der Umgebung kreisten.
Die langen Kurven entfalteten sich vor der Fahrzeugfront. Die Obst- und Gemüsestände, Werbetafeln und Scheunen am Straßenrand waren groß genug, um die Wagen von Männern mit Dienstmarke zu verbergen. Die Straße führte eine Anhöhe hinauf, und das Gelände lag beinahe nackt vor dem weiten blauen Himmel. Die spärlichen Lichter der Fabrikstadt, errichtet auf dem Plateau des Piedmont, brannten in der Ferne. Die Stadt Gumtree. Bald summte die Straße, war asphaltiert und führte durch große Laubwaldbestände. Die Textilfabriken erhoben sich lang und riesengroß auf dem steilen Felsen über der Stadt, während schwarzer Rauch aus den vielen Schornsteinen aufstieg wie bei Ozeandampfern auf einem Meer aus Erdmasse. Sämtliche Fenster waren erleuchtet, als würden sich die Leute drinnen auf einer Party oder einem Ball vergnügen.
Die Männer und Frauen kamen aus den Bergen, um stundenlang in der Hitze dieser von Flusen erfüllten Räume zu schuften, wo sie Socken und Strümpfe fertigten. Die zweite Schicht endete um zehn. Dann kamen die Arbeiter wie Gespenster hustend und weiß bestäubt aus den Ziegelbauten, bereit für einen Schluck Whiskey.
Der Wagen überquerte den Damm und fuhr in die Stadt hinein. Das Tal war zur Stromerzeugung vor zwei Jahrzehnten geflutet worden; aus dem Damm entlud sich eine Reihe flacher weißer Wasserfälle im Mondlicht. Der Wagen umrundete den Hauptplatz, wobei der starke Motor die Ladenfronten erschütterte wie menschengemachter Donner. Da waren der Lebensmittelladen, die Apotheke und das Billigwarenhaus. Der Juwelier, der Schuster und das Eisenwarengeschäft.
Läden, in denen die Fabrikarbeiter auf Pump kauften und das Geld von ihrem Lohn abgezogen wurde. Der Wagen fuhr weiter, und die Arbeiterviertel ballten sich vor seiner Motorhaube, flache, kleine, sich im Besitz der Fabrik befindliche Häuser, dicht an dicht mit ihren quadratischen, kurz geschorenen Rasen. Häuser, die so klein waren, dass man eine Schrotflinte abfeuern und sämtliche Räume damit treffen konnte. Manche hatten es getan. Der Wagen fuhr zwischen ihnen hindurch bis zur Stadtgrenze, wo die Straße langsam in Richtung See abfiel.
End-of-the-Road hieß sie. Das letzte Überbleibsel der Ortschaft, bevor sie vom Wasser verschlungen wurde. In den Auwäldern standen Kneipen und Bordelle, Häuser für alles, was der Körper brauchte. Schatten zuckten über ihre Fenster, die in einem kränklichen Gelb schimmerten. Ein Ort für einen Drink und einen Streit, ein fremdes Bett, fremde Sterne, die über fremde Himmel flogen, wenn man einen Blick riskierte. Dahinter versank die Straße in der Tiefe. Dort unten befand sich das alte Tal, wo einst Menschen gelebt hatten, lange bevor die energiehungrigen Fabriken kamen. Angeblich gab es dort unten Hütten mit offenen Türen für die Fische, ihre Kiefernholzböden ertränkt und kalt. Es gab Bäume, verkümmert und leblos, die sich in der Tiefe wiegten wie von Zeitlupenwind bewegt. Die Knochen von Landbewohnern lagen dort unten, Wesen, die vor der kommenden Flut nicht gewarnt worden waren. Das Klopfen von Äxten und Hämmern der Maschinen erzeugte keinen grollenden Donner oder dusteren Himmel. Noch nicht. Als das Wasser kam, waren angeblich ein paar übellaunige alte Tabakpflücker auf ihrem Land geblieben, um die Regierung zu ärgern, aber die meisten bezweifelten das. Was nicht schwerfiel, so flach und ruhig war der See, dessen Geheimnisse niemals an die Oberfläche dringen würden.
Die erste Lieferung an diesem Abend ging an einen heruntergekommenen Bungalow mit vergitterten Fenstern und geriffelten Seitenwänden, als wäre jemand mit einem Spachtelmesser zugange gewesen. Im Dach war eine Delle, in der Regenwasser schwamm. Der Rasen war von Reifenspuren rötlich aufgewühlt. Zerbeulte Autos standen kreuz und quer. Gestalten mit hängenden Schultern, die von Mehl bedeckt zu sein schienen, standen vor dem Küchenfenster an. Münzen glänzten in ihren Händen.
Fünfundzwanzig Cent pro Shot.
Mit großen Augen beobachteten sie, wie der Wagen – ein Ford Coupé – an ihnen vorbei zur Rückseite des Hauses rumpelte. Er hielt, und der Fahrer stieg aus, sein Gesicht unter einer alten schwarzen Melone versteckt. Er klopfte an die Tür und hörte, wie sie mit mehrfachem Klacken entriegelt wurde. Die Tür ging auf. Ein weißer Mann in einer fleckigen Schürze kam heraus. Dick. Sein Gesicht und seine Haare hatten einen ungesunden Glanz. Die Treppe zitterte unter ihm, als er herabstieg.
»Ich dachte schon, Sie kommen nicht«, sagte er.
»Steuerfahnder?«
»Heute Abend nicht«, erwiderte Rory.
Der Mann zuckte mit den Achseln und reichte ihm ein Bündel Geldscheine. Rory öffnete den Kofferraum.
Mit jedem Halt kam der See näher, und die Straße glitt auf die völlige Dunkelheit hinter den Bäumen zu. Mit jedem Halt wurden die Kunden betrunkener und schäbiger. Ein paar, die die Straße so weit heruntergefahren waren, kamen nicht mehr zurück.