Tahar Ben Jelloun

Schlaflos

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© Christoph Kretschmer / Adobe Stock

Es war, als hätten sich die positiven Nebenwirkungen meines Verbrechens nach und nach verflüchtigt. Musste ich erneut töten, um der Schlaflosigkeit Herr zu werden? Nachts ließ ich die Menschen aus meinem Umfeld an meinem geistigen Auge vorbeiziehen und fragte mich, wen ich auswählen sollte. Der älteren Schwester meiner Mutter ging es nicht besonders gut. Ich mochte sie; sie war witzig und intelligent, aber auch sehr rassistisch. Für sie waren Schwarze Untermenschen, Sklaven. So war die Welt eben. Sie gab zu, das sei nicht gerecht, doch wenn es Gott so wollte, konnte sie sich doch seinem Willen nicht widersetzen. Ich könnte sie töten, überlegte ich, aber sie war in einer Privatklinik untergebracht. Also würde es schwierig, an sie heranzukommen, und vor allem allein mit ihr zu sein. Ihre Kinder hielten abwechselnd an ihrem Krankenbett Wache.

Meine Frau wäre auch eine Option. Wenn ich nicht so ein Feigling wäre, würde ich den Engel Azrael anrufen, damit er mich von ihr befreit. Sie hat eine Schlafapnoe. Er müsste den angehaltenen Atem nur um eine oder zwei Minuten verlängern, und der Tod träte ein. Sie fragen sich, warum ich bereit wäre, meine eigene Frau zu opfern? Ich nenne sie weiterhin meine Frau, aber in Wahrheit sind wir seit mehr als zwei Jahren geschieden. Trotzdem verfolgt sie mich auch jetzt noch und will mir schaden. Doch leider besitze ich nicht die Fähigkeit, Engel herbeizurufen, und ich schaffe es auch nicht, den Wunsch, sie loszuwerden, in die Tat umzusetzen. Ich bin wie alle, ich verlasse mich lieber auf das Schicksal, den Zufall, diese Art virtuelle Magie, die eines Tages an unserer Stelle handelt. Deshalb kam ich schließlich auf Lalla Zineb, meine Halbschwester, die ein Dutzend Jahre älter ist als ich. Sie hat gleich mehrere Krankheiten: Diabetes, Bluthochdruck, Atembeschwerden, hohes Cholesterin. Sie steht nicht mehr auf, läuft nicht mehr, betet im Sitzen und wartet darauf, dass Gott sie zu sich nimmt. Sie wartet auf ihn, als werde er an ihrer Tür klingeln und sie höflich bitten, sich auf die letzte Reise vorzubereiten. Immer wieder schiebt sie den Vorhang am Fenster beiseite, um zu sehen, ob ein Gesandter Gottes an der Tür steht. Jedes Mal wird sie enttäuscht. Sie mag ihr Leben nicht mehr. Sie sagt, Gott habe ihr die Zeit gegeben, alle ihre Kinder und Enkelkinder zu verheiraten, und nunmehr sei ihr Werk vollbracht. Seit ihr Mann bei einem Unglück umgekommen ist, hat sie keine Freude mehr am Leben. Sie wäre also eine perfekte Kandidatin für meine Befreiungsaktion. Doch dafür müsste ich nach Ouazzane reisen, eine schwer erreichbare Region. Ich bräuchte auch einen Vorwand, zum Beispiel könnte ich ihr ein Medikament mitbringen, das es in Marokko nicht gibt, oder ein Geschenk aus Mekka. Sie liebt alles, was von dort kommt. Fünfmal hat sie die Pilgerfahrt unternommen und hält es für das größte Glück, an den heiligen Stätten des Islam zu sterben. Ich hätte ihr die Reise schenken können, damit sie sich dort von den Menschenmengen niedertrampeln lassen kann und an Ort und Stelle stirbt. Doch ich war nicht gläubig genug, es auf einen Versuch ankommen zu lassen.
Ich bin nach Ouazzane gefahren, habe ein Auto mit Fahrer gemietet. Ich bin unfähig, in Marokko Auto zu fahren, denn die Leute dort halten sich nicht an die Verkehrsregeln. Mein Fahrer hingegen konnte die Reaktionen der Autofahrer perfekt voraussehen und so Unfälle vermeiden. Er war ein schlauer, aber äußerst rassistischer Mensch, der behauptete, weder die Juden noch die Schwarzen ausstehen zu können; dabei hatte er selber eine sehr dunkle Hautfarbe; er fand es normal, seine Töchter daran zu hindern, im Ausland zu studieren und seiner Frau zu verbieten, sich frei zu bewegen. Ein Experte in Verschwörungstheorien. Alles lässt sich durch die Machenschaften der Feinde des Islam und der Muslime erklären. Ich habe vergebens versucht, ihn zur Vernunft zu bringen. Er war so borniert und unbelehrbar, dass ich den Kampf schließlich aufgab. Immerhin war es mir gelungen, ihn davon abzuhalten, Juden und Schwarze in meiner Gegenwart zu verunglimpfen. Er hielt sich zurück, was ihm sichtlich schwerfiel. Es kostete ihn große Anstrengung.
Ich kam mittags an. Die Hitze war unerträglich. Ich dachte bei mir, das wird mein Vorhaben, sie in den Tod zu führen, erheblich vereinfachen. Vor ihrer Tür sah ich einen Krankenwagen. Sie war dabei zu ersticken. Ich habe mich auf sie gestürzt und so getan, als umarme ich sie heftig; dabei presste ich meine gesamte Körpermasse auf sie, sodass sie überhaupt keine Luft mehr bekam. Sie starb noch vor Ankunft im Krankenhaus. Ich fragte mich anschließend, wie groß mein Anteil an ihrem Tod gewesen war. Dreißig Prozent? Fünfzig Prozent? Ich schätzte meinen Anteil auf über fünfzig Prozent. Das garantierte mir ein paar Nächte tiefen und langen Schlafes, den ich wirklich verdient hatte. Dennoch habe ich ihren Tod betrauert. Echte Tränen. Ich bin kein Ungeheuer. Ich erinnerte mich an die leckeren Gerichte, die sie uns zubereitete, wenn wir ausgehungert aus der Schule kamen. Sie war wirklich sehr nett. Keiner noch so kleinen Bosheit fähig. Ihre trauernden Kinder umarmten mich fest, und ich versuchte, sie mit Koranversen zu trösten, da ich wusste, wie sehr sie von diesem großartigen Buch hingerissen waren. Ich trocknete meine Tränen mit den Taschentüchern, die sie mir hinhielten. »Nun ist sie erlöst«, sagte ich ihnen, »sie ist glücklich im Paradies, denn eure Mutter war eine Heilige, davon zeugt ihr Leben.« Ein Anflug von Scheinheiligkeit kam hier zupass, schließlich hatte ich nicht unwesentlich zu ihrem plötzlichen Tod beigetragen. Dennoch bestehe ich darauf: Ich mochte sie wirklich.

Am gleichen Abend schlief ich trotz der Hitze und den näselnden Stimmen der Betenden wie ein Engel, nichts konnte mich stören. Voraussichtlich würde meine Tat mir mehrere Monate Schlaf einbringen. Dennoch musste ich in Zukunft eine radikalere Lösung für meine Schlaflosigkeit finden. Ich konnte doch nicht zum Serienmörder werden, um mein Problem zu regeln. Zu meiner Verteidigung muss gesagt werden, dass ich wirklich alles versucht und es gerade noch geschafft hatte. War ich deshalb nun zum Mörder geworden? Seltsamerweise hinderte mich das nicht am Schlafen. Ich konnte mein Gewissen mühelos beschwichtigen. Schließlich waren meine Mutter und meine Halbschwester am Ende ihrer Lebenszeit angekommen; ich überzeugte mich davon, ihnen zu Diensten gewesen zu sein, ihr Leiden erleichtert, ihnen die oft nutzlose Palliativpflege erspart zu haben. Natürlich hatte ich das Ende vorweggenommen und dem Todesengel Beihilfe geleistet. Doch ich hatte mich weder an jugendlichen noch an aktiven Menschen vergriffen und auch nicht an Fremden. Alles war gefühlvoll verlaufen. Bis jetzt hatte ich weder grobe Gewalt noch andere harte Mittel angewandt. Ich hatte meine Taten auch nicht mit irgendwelchen Inszenierungen vertuschen müssen. Meine Arbeit – ist das überhaupt eine Arbeit? – hatte keine Spuren hinterlassen. Ich war lediglich an Ort und Stelle gewesen, um den letzten Atemzug auszulösen.