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Cochon Noir

 

© Christoph Kretschmer / Adobe Stock

Ich war bei Nacht ausgezogen, während meine Mutter schlief. Einige Tage hatte ich mir Vorwürfe gemacht, nicht weil ich gegangen war, sondern weil ich mich heimlich davongeschlichen hatte. Ich hatte nicht viel mitgenommen, kaum mehr, als in den Kofferraum meines Wagens passte. Anatole war weich geworden, und auch heute noch konnte er manchmal dem Wunsch nicht widerstehen, mir eine Geschichte zu erzählen. Auf diese Weise versuchte er, mich zur Vernunft zu bringen. Vielleicht war das ein Weg, mir die Leviten zu lesen. Ich denke, dass er in gewisser Weise das Recht dazu hatte, wenn man sein Alter bedenkt. Anatole sprach in ruhigem Ton. Ob ich von der Tragödie gehört hätte, die sich am Cochon Noir ereignet hatte? Gab es Schweine wie Brot oder Schafe? War das ein besonderes Zeichen von Humor oder Ironie? Die Spur einer schlechten Erinnerung oder einer traurigen Verwirrung? Auf der Karte jedenfalls war Cochon Noir einfach nur die Bezeichnung für einen Ort, der ein paar Kilometer von hier entfernt lag und den ein Kanal von der befestigten Stadt trennte. Spärlich besiedelt, einige Weiden und vor allem flache Wiesen und Gräben, zwischen denen man sich nicht gut verstecken konnte. Anatole beschrieb eine Zeit, die er nicht miterlebt hatte. Es war im Mai 1940, er war noch nicht geboren. Tausende von Zivilisten, ganze Familien, waren zu Fuß, mit dem Fahrrad oder im Karren aus dem nahen Belgien geflohen. Sie machten sich auf den Weg, sie wollten dem Tod entrinnen. Man erzählte, dass denen, die zurückblieben, das Schlimmste widerfuhr. Man sprach von Kindern, die an Straßenlaternen aufgehängt, von Frauen, die erst vergewaltigt und dann zerstückelt wurden. Alles konnte passieren, und zudem war ihre aussichtslose Flucht bald zu Ende gewesen. Die Mutigsten hatten vielleicht daran gedacht umzukehren, aber das konnte man nicht wissen. Die Deutschen umzingelten den Küstenstreifen. Sie würden alles besetzen. Es war eine Sache von Stunden. Noch hielten die Franzosen die befestigte Stadt. Sie kontrollierten die Drehbrücke und erließen einen Befehl: Keine Zivilperson durfte passieren. So fanden sich Hunderte von Flüchtigen dort wieder, am Cochon Noir und am Ende ihrer Kräfte. Sie saßen in der Falle. Plötzlich waren Maschinengewehre im Einsatz und kurz danach Panzer. Das Morden hatte begonnen. Blindlings feuerten Geschütze von beiden Seiten. Der Boden war übersät mit Frauen, Kindern und aufgeplatzten Koffern. Erlösung hätte aus der Luft kommen können. Flugzeuge der Alliierten waren tatsächlich aufgetaucht. Franzosen oder Engländer? Wer auch immer, Hauptsache, sie beendeten das Massaker. Doch schnell hatten sie ihre Bomben ziellos auf das gesamte Gebiet abgeworfen. Inmitten der Überlebenden wurden die Kämpfe fortgeführt. Leichen von Soldaten wurden ins Massengrab gelegt. Die Leichen wurden niemals identifiziert. Später wurden Reihengräber ausgehoben. Es war schön im Mai 1940, sogar sehr heiß. Seit dem Beginn des Blutbads waren einige Tage vergangen, und es stank erbärmlich. Die Deutschen hatten auf die Menschen der Gegend geschossen, die die Toten beraubten. Niemals wieder würde jemand auch nur ein einziges Wort darüber verlieren.

Wir waren unter dem Vorzelt. Feiner Regen fiel. Kleine gelbe Schnecken streckten sich auf den Stängeln verdorrter Pflanzen aus. Wir tranken, ich ziemlich kalte Milch, Anatole einen sehr leichten Anis. »Kleine Kinder sind tagelang wie Gespenster durch die Gegend geirrt …« Was wollte er mir erklären? Dass unsere Gegend auf ganz besondere Weise durch das Unglück gezeichnet war? Dass Flüchtlinge hergekommen waren, und, schlimmer noch, jedes Mal wieder, um dem Krieg zu entgehen. Und das ließ die Einheimischen weniger tolerant und böser erscheinen, als sie sonst waren. Einige profitierten sogar ungeniert davon. Belgier, Sudanesen, Libyer oder Syrier, es würde immer schlecht ausgehen. »Leute von hier saßen in der Falle. Meine Mutter versteckte sich in einem Keller. Die Baracke über ihr ist hinweggefegt worden. Später zog man sie aus den Ruinen. Ein deutscher Offizier sprach sie an, aber sie blieb stumm. Man hatte ihr gesagt, dass man mit den Boches, also den Deutschen, nicht sprechen solle. Der Typ war allerdings nett …« Anatole trank seinen Anis aus und blieb noch ein wenig. Er sagte, dass seine Leber krank sei von dem, was er in der Zeit getrunken hatte, als er Brauereifahrer war. Damals leerte er oft die Reste der Flaschen in den Kästen, die zurückgegeben wurden. Danach hatte er andere Jobs gehabt, und das hatte ihn gerettet. Anatole trank nicht mehr zu viel Alkohol, außer bei seltenen Gelegenheiten. »Meine Mutter war schwanger, sie hatte meinen Bruder im Bauch, und er wäre nicht geboren, wenn sie unter den Trümmern gestorben wäre. Und ich auch nicht einige Jahre später … Kannst du dir die Welt ohne mich vorstellen?« Er lächelte. Noch wagte er es nicht, mir mit der Hand durch die Haare zu streichen, aber das würde bald kommen. »Sie geriet zwischen die Fronten, wie all die anderen, zwischen Freund und Feind, man wusste wirklich nicht, wer wer war, sie steckte in der Klemme, könnte man sagen … Was ich damit ausdrücken will, ist, solange du nicht zwischen zwei Übeln zerquetscht wirst, bist du immer noch am Leben, auch wenn du am Boden liegst, verstehst du?« »Du kannst dich nicht beklagen …« »Nicht mehr als erlaubt ist, Kleine, nicht mehr.«

An einem anderen Tag wies Anatole mit einer vagen Handbewegung nach Westen. Auf dieser Seite, vor dem Hintergrund der fernen Felsen, schienen Fabriken, ein Glockenturm, ein Leuchtturm, Schiffe und Landungsbrücken endlos aneinandergereiht. Zwischen alldem und uns erstreckten sich weite Dünen und das riesige Watt. Anatole musste nicht deutlicher werden. »Wie weit?«, fragte er, als ob er es nicht selbst wüsste. »Luftlinie? Drei Kilometer, schätze ich.« »Und war es so schlimm, wie man sagt?« »Schlimmer …« »Und doch ist nie jemand hierhergekommen …« »Das liegt zweifellos daran, dass sie Angst haben, sich zwischen den Hütten zu verlaufen …« »Sie wären mit Gewehrkugeln empfangen worden, weißt du? Wir haben nichts gegen Fremde, aber das wäre undenkbar.« Anatole hatte drei Vögel neu angestrichen. Es wehte ein laues Lüftchen aus Osten, und er stellte sie auf den Rasen, wo sie in gewisser Weise unsere bunt zusammengewürfelten Behausungen schützten. Ich hatte keine andere Wahl, als ihn glauben zu lassen, was er wollte. In diesem Augenblick fand ich die Vögel allerdings noch hässlicher als sonst. Mit Anatole sollte es mir oft so gehen, dass ich mich sehr anstrengen musste, um mich nicht zu ärgern, und nachträglich würde ich mir zum Trost immer sagen, dass endlich es eben nicht anders möglich war. »Du musst dich ablenken«, sagte er nach einer langen Pause und legte mir eine Hand aufs Haar, na also, hatte er es gewagt. Mich ablenken! Ich fragte mich, wie. Der Rat erschien mir unpassend von jemandem, dessen größtes Vergnügen in vielerlei Hinsicht tödlich war und nach langem, angespanntem Abwarten meist in Frust endete. Ich hatte Anatole schon einmal mit finsterem Gesicht und einem beinahe erloschenen Blick überrascht. Er hatte mich an meinen Vater erinnert, der an seiner Ecke des Tisches geweint und sich dann mit der Erklärung gerechtfertigt hatte, es wäre wegen einer schweren, einer furchtbaren Melancholie, und das hatte mich erschreckt. Waren wir zum Leiden bestimmt? Beinahe hätte ich daran geglaubt. Fatalerweise liebten wir uns auf eine umständliche, mühsame und beängstigende Art und Weise. Anatoles Hand in meinem Haar erinnerte mich an die Zeit, als ich klein war. Wenn ich einen Kirschkern verschluckte und meine Mutter Angst hatte, mir könnte die Luft wegbleiben und ich könnte ersticken, hätte sie am liebsten so schnell wie möglich die Feuerwehr geholt, während hingegen mein Vater mir den Schädel abtastete, um zu fühlen, ob mir womöglich schon Äste wuchsen. »Auf deinem Kopf wird ein Kirschbaum wachsen!« Und ich stellte mir vor, dass es mir kaum gelingen würde, mich im Bett unter die Laken zu legen oder durch die Küchentür zu gehen, und wie es sich anfühlen würde, wenn die Vögel die Kirschen pickten und im Herbst die Blätter fielen! Wann hatte ich aufgehört, daran zu glauben? Und wann hatte mein Vater seine gute Laune verloren? Er liebte mich, davon bin ich überzeugt, und trotzdem war er eines Tages weit fortgegangen, um seine unbändige Lebenslust zu befriedigen. Als Ablenkung gab es immerhin die Schiffe. Die Fähren, die in den noch im Bau befindlichen Hafen ein- oder ausliefen. Die Ungetüme, die sich manchmal stundenlang vor den Sandbänken geduldeten und darauf warteten, dass ein Lotse mit einem Hubschrauber kommen und sie zum anderen Hafen im Osten geleiten würde. All die Frachter, Schüttguttransporter, Öltanker, Containerschiffe und Segelboote! Bei guter Sicht sah man die weißen Felsen auf der anderen Seite des Meeres, die Klippen, von denen man schon immer geträumt hatte. All die Schiffe in einer einzigen und andauernden Bewegung, und dann der merkwürdige Leuchtturm, der schief im Sand steckte. In bestimmten Momenten gab ich mich einem unschuldigen Spiel hin. Ich schloss ein Auge, als ob ich durch ein Fernrohr blickte. Der Leuchtturm sah unscheinbar aus, und ich nahm ihn zwischen Daumen und Zeigefinger. Was für ein Gefühl von Macht! Oder ich hielt die Hand ganz flach, und die Schiffe strandeten auf meiner Handfläche. Sie erweckten nie den Eindruck, als führen sie schnell. Ich folgte ihrem Kurs. Manchmal umschloss ich sie fest mit der Faust. So behielt ich sie ein Weilchen bei mir und zögerte es immer hinaus, sie zurück aufs Meer zu entlassen. Anatole spürte, dass ich mit den Gedanken woanders war. Er berührte meinen Arm und schaute mich an, als ob er sagen wollte: »Sieh an, du hast immer noch Träume!« Und dann nahm er seine frisch angemalten Vögel vom Rasen und beklagte sich über die Feuchtigkeit, die das vollständige Trocknen verhinderte. Ich fragte mich, warum er sie nicht besser geschützt aufgestellt hatte. Hoffte er, dass sie nun, da sie angemalt waren, davonfliegen würden? An den Fingern hatte er schwarze und grüne Flecken. Er säuberte sie mit dem unteren Teil seiner bereits sehr schmutzigen Jacke. Jetzt war er trotz allem zufrieden mit sich. »Was gut wäre vor dem Sterben, das wäre, glücklich zu sein – wenigstens ein bisschen. Oder was meinst du?«