KAPITEL DREI

© Christoph Kretschmer / Adobe Stock

In jenem Sommer verloren wir alle drei Mädchen. Wir ließen sie entgleiten wie die Worte eines halb erinnerten Liedes, und als eine zurückkehrte, war es zunächst einmal nicht die, an die wir uns zu erinnern versuchten. Auch der Frühling schlich sich davon. Stahl sich fort in die Büsche und dort, an seiner Stelle, stand ein Sommer, der die Luft versengte, unsere Nasenlöcher verbrannte und den Gestank versiegelte. Wie die Deckel unserer Tupperdosen. »Jade Heddingly sagt, wenn es heiß genug wird, würde dein Schatten verpaffen«, berichtete ich. »Es heißt verpuffen!«, trumpfte meine Schwester auf. »Jade Heddingly ist eine Idiotin, genau wie du, und davon abgesehen kann dein Schatten weder verpaffen noch verpuffen oder sonst was. Dein Schatten ist immer da, du Dummkopf.« »Nicht im Dunkeln.«

Mum hatte recht: Im Dunkeln kann man seinen Schatten nicht sehen. Sie stand in der Küche und riss die Köpfe von Zylinderputzer-Stängeln. Flitsch, flitsch, flitsch. Sie knickte die verwelkten Blüten ab und ließ sie in das Spülbecken fallen, ihre feinen, stacheligen Haare hatten dasselbe Rostrot wie der Schorf, den wir uns von den Knien kratzten. Es war das Jahr, in dem der Kalte Krieg endete. Das Jahr, in dem sie für immer aufhörten, den Atari 2600 zu bauen. Ich war elfeinsechstel, doch das reichte nicht. Inzwischen hatten wir erfahren, dass Schatten in der Finsternis verschwinden. »Was hat Jade dir noch erzählt?«, fragte Laura. Sie wartete mit ihrer Frage, bis Mum in die Waschküche gegangen war und wir beide allein am Küchentisch saßen, wo wir so taten, als würden wir unsere Hausaufgaben machen. »Über Schatten?« »Über alles. Los, was hat Jade noch gesagt?« Jade Heddingly war vierzehn, was bedeutete, dass sie alt genug war, um eine Zahnspange zu tragen, aber nicht alt genug, um diese Zähne, ihre Zunge und den Rest ihres fiesen Mundwerks davon abzuhalten, »fraachen« zu sagen statt »fragen«. Jade sagte es weiterhin falsch, auch nachdem der Rest von uns Worte wie »Supamat« und »Schapijokse« hinter sich gelassen hatte, samt all den anderen Wortmixturen aus unserer Kleinkindzeit.

»Warum fraachst du nicht nach meiner Meinung?«, jammerte sie immer. Als ob man deshalb jemals seine eigene Meinung ändern würde. »Was hat Jade noch gesagt?«, echote ich. »Genau.« Ich lehnte mich vor und antwortete dann: »Sie hat mir gesagt, wenn man eine Leiche verstecken will, muss man sie gut zwei Meter unter der Erde begraben und dann einen Meter darüber einen Hund.« »Warum?« »Damit die Suchhunde der Polizei nur bis zum toten Hund graben und die Leiche darunter nicht finden.« »Das ist ja eklig!«, quietschte meine Schwester. »Na ja, du hast gefraacht.« »Ist es wahr?« »Weiß ich nicht«, gab ich zu. »Hat sie noch etwas anderes gesagt? Du weißt schon, irgendwas über … du weißt schon.« »Nichts.« »Bist du sicher?« »Ja, bin ich«, sagte ich abwehrend. »Jade weiß überhaupt nichts darüber«, fügte ich hinzu. Sie hatte überhaupt keinen Schimmer von irgendetwas. Was wir alle wussten – selbst damals –, war, dass das Tal stank. Himmel, es miefte. Es roch entsetzlich. Als wäre etwas Übles ausgegraben worden, bevor die Wolken sich wieder darüber schlossen, tief liegend, blutunterlaufen und erstickend. Sie haben nie herausgefunden, warum. Es war nicht allein Ruths Schuld. Das Tal hatte schon lange schlecht gerochen, noch bevor irgendeines der van Apfel-Mädchen vermisst wurde. Selbst von unserem Haus, oben auf dem westlichen Kamm, zog der Gestank an einem heißen, trockenen Tag die Schlucht hoch und klatschte uns ins Gesicht, und nachdem der Kalte Krieg zu Ende war, gab es nur noch heiße, trockene Tage. Jener Sommer war der heißeste in der Geschichte. Damals war das Tal nur durch Sackgassen erschlossen worden. Es war mit einem Einschnitt geöffnet worden, wo sich eine schmale zweispurige Straße hinunterschlängelte, herum, über den Fluss und dann wieder hoch und hinaus, doch die eigentlichen Erdarbeiten waren vor langer Zeit durchgeführt worden, von Menschen, die viel primitiver waren als wir. Das Tal war breit und tief. Beide Seiten waren mit Bäumen bedeckt. Dürre, verkrüppelte Kasuarinen ergossen sich aus dem Talkessel, schluckten das Sonnenlicht und erstickten den Tidefluss mit ihren Nadeln. Weiter oben wuchsen Myrtenheiden und Teebäume mit ihrem Duft nach Kampfer und Zitronen. Dann kamen Haarnadel-Banksien, Hagebutten und Eukalypten aller Art, bis hin zu Angophora-Bäumen, die verdreht und verstümmelt entlang des Kamms standen. In der Schule nannten wir das Tal »Poritze«.

Wir hielten uns von den Pryders und den Callum-Jungs fern sowie vom Rest der Handvoll Kinder, die entlang des Tals in den Ansammlungen armseliger Hütten lebten. Doch das Seltsamste an dem Ort waren nicht die Kinder, die dort lebten. Es war nicht die Stille oder die Art, wie die Sonne spät am Morgen ins Tal rutschte und sich am Nachmittag so schnell wie möglich wieder aus dem Staub machte. Nein, das Scheußliche daran war die Form dieses Ortes. Diese schrecklichen Klippen, von denen man stürzen konnte. Das Tal hatte keine V-Form, wie normale Flusstäler; stattdessen war der ganze Canyon wie ein ausgehöhltes U. Es war am Boden fast so breit wie oben, als wäre ein riesiger Felsen herausgemeißelt worden, aber irgendwie war es, als hätten wir auch den verloren. Es war eine fette Spalte. Eine Lücke. Selbst heute ist seine Topografie nur wegen dem erwähnenswert, was fehlt. Ich habe oft viele Stunden allein dort unten verbracht. Ich ging hin, wenn ich mich langweilte – wenn meine Schwester bei Hannah war – und wenn der Wind ausnahmsweise mal aus der richtigen Richtung wehte und der Gestank nicht so scheußlich war. Für gewöhnlich pflückte ich Heidekrautgewächse und saugte den Nektar aus ihren winzigen rosafarbenen Hälsen und dann tat ich so, als wären sie giftig und ich würde sterben. Damals war Sterben nichts, wovor man Angst haben musste. Zumindest hatte Hannah einmal gesagt, dass ihr Vater das gesagt hätte, und ihr Vater hatte es von Gott. Aber andererseits war Hannahs Vater nie wirklich gestorben und deshalb sagte ich: »Was weiß dein Vater denn schon?« Was keiner von uns wusste – was wir nie wissen würden –, ist, was mit Hannah und Cordie in jenem Dezember passiert war. Von Ruth wussten wir es, da sie zurückkam, die Lippen zu einem Jammern verzogen, als hätte sie ihr Geld fürs Mittagessen verloren, anstatt sich ganz allein im Busch zu verlaufen. (Oder schlimmer: nicht allein. Was, wenn sie nicht allein gewesen war?) Als man sie fand, guckte sie aus einer tiefen Spalte in einem der Felsbrocken am Fluss hervor. Sie steckte ganz unten drin, in den Spalt geschoben, als hätte sie versucht, mit den Füßen voran hineinzuspringen, doch die Schlucht hätte sich an ihr verschluckt. Hätte sie in letzter Minute wieder ausgespuckt. Wade Nevrakis erzählte uns, dass so viele Fliegen über Ruths Felsbrocken krochen, als die Polizei sie fand, dass es aussah, als würde er sich drehen. Doch die Eltern von Wade Nevrakis betreiben den Feinkostladen in der Nähe unserer Schule, also weiß ich nicht, warum Wade dachte, wir würden ihm glauben, dass seine Eltern irgendwo in der Nähe gewesen wären. (Aber als Kelly Ashwood verbreitete, dass Ruth noch genug am Leben gewesen wäre, um zu sagen: »Kannich’n Rainbow Paddle Pop, wenn ich sage, dass ich Halsweh habe?«, also konnte man das fast glauben, denn alle wussten, dass Kelly Ashwood eine Tratschtante war und auch, dass Ruth verfressen war.) Es waren dreizehn Detectives, zwei Sonderermittler aus der Stadt, Forensiker plus die gesamte örtliche Polizei und die Freiwilligen vom SES – dem staatlichen Rettungsnotdienst – notwendig, um Ruth an jenem Tag in dem Stein zu finden. Sie alle und die Rabenkakadus, die am Himmel darüber kreisten. Sie hätten nicht dort sein sollen, diese Rabenkakadus. Nicht in der Anzahl und nicht während der Brutzeit, und doch waren sie dort, flogen Runde um Runde, wieder und wieder, wie eine Schallplatte, die an einem Kratzer hängengeblieben war. Als sie Ruth entdeckten, waren ihre Augen zusammengekniffen, als hätte sie genug gesehen. Als könnte sie es nicht ertragen, hinzusehen. Und außer einem Streifen Dreck auf ihrer linken Wange und ein paar vertrockneten Piniennadeln, die in ihren geflochtenen Zöpfen steckten, wirkte sie unbeschadet, und so, als würde sie beten. Das hätte ihren Eltern gefallen.

Wir alle hörten an jenem Tag das Heulen der Sirenen, als sie sich stoßweise die Biegungen hochschraubten und dann aus dem Tal heraus, durch das am frühen Nachmittag bereits die Schatten krochen. Das Geräusch der Sirenen schwoll in jeder Kurve an und dann wieder ab. Lauter und dann leiser, während der Fahrer die Kurven nahm. Mrs. van Apfel war zu dieser Zeit in der Einsatzzentrale und wartete auf Detective Senior Constable Mundy und man erzählte, dass sie erstarrte, als sie die Sirenen hörte, da die Nachricht von Ruth sie noch nicht erreicht hatte. Mrs. McCausley, die an der Ecke unserer Sackgasse wohnte, war in der Einsatzzentrale und bereitete Tee für die Suchtrupps vor. Sie sagte, Mrs. van Apfels Kopf schnellte zu dem Geräusch herum wie der eines Hundes, der den Pfiff seines Herrchens hört. Jedes Heben und Senken der Melodie der Sirene sei gewesen »als würde Gott persönlich die Tür zum Schmerz dieser armen Frau öffnen und schließen«, erzählte uns Mrs. McCausley. Mrs. McCausley war »getuppert«. Zumindest hat sie mir das erzählt. »Sie war was?«, fragte Mum, als ich es ihr berichtete. »Solch ein Wort gibt es nicht.« Mum war Bibliothekarin, also wusste sie alles über Wörter. Wörter und abgelaufene Ausleihfristen. »Doch«, insistierte ich. »Mrs. McCausley hat es mir erzählt.« Doch es waren diverse Fragen und Antworten nötig, um herauszufinden, was sie meinte, und erst als ich erklärte, wie Mrs. McCausleys Leben sich zum Besseren verändert hatte, als sie erfuhr, dass Tupperdosen garantiert ein ganzes Leben lang hielten, keine Chips oder Risse bekamen und nicht abblätterten, verstand Mum, aus welcher Ecke das kam. »Verfluchtes Getuppere«, hörte ich sie zu Dad an jenem Abend sagen, als ich über dem Geländer hing und ihre Unterhaltung belauschte. »Jetzt verkauft sie schon Tupperdosen an unsere Kinder.« Und sie hörte sich genervt an, genau wie Dad, obwohl ich gar nichts gekauft hatte. Mrs. McCausley verkaufte Tupperdosen, obwohl es mehr ein Hobby war als ein Job. »Nur genug, um mich aus Schwierigkeiten rauszuhalten«, sagte sie. Obwohl alle sehen konnten, dass es bei Mrs. McCausleys Tupperware-Haustürgeschäften eher darum ging, Zwietracht zu säen, als ihr aus dem Weg zu gehen.

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