Leseprobe: David Heska Wanbli Weiden – Winter Counts

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© Christoph Kretschmer / Adobe Stock

Ich lehnte mich auf dem Sitz meines alten Ford Pinto zurück und lauschte dem Lärm, der aus dem Depot drang, der einzigen Kneipe im gesamten Reservat. Während ich den Laden beobachtete, gingen etliche Native Americans und weiße Rancher hinein. Wie ich wusste, war Guv Yellowhawk mit seinen Kumpel bereits drinnen und kippte Biere und Schnäpse. Guv unterrichtete an der Reservatschule alle möglichen Ballsportarten. Den Gerüchten nach trat er seinen Schülern, Jungs wie Mädchen, dabei gelegentlich etwas zu nahe. Ich wollte abwarten, bis er volltrunken war, damit die Party richtig losgehen konnte. In meinem Kofferraum lagen ein Baseballschläger und Schlagringe, doch würden sie wahrscheinlich gar nicht zum Einsatz kommen. Guv war ein fettes Stück Scheiße mit einer Fry-Bread-Wampe so riesig wie der Arsch eines Büffels.

Der Vater eines Mädchens aus der Schule hatte mich angeheuert, damit ich Guv krankenhausreif schlug. Guv hatte sich auf der Toilette an die Tochter herangeschlichen, sie zu Boden geworfen und vergewaltigt. Die Eltern hatten sich beim Direktor der Schule beschwert, aber Guv kam aus einer der mächtigsten Familien im Reservat, und die Schule hatte sich geweigert, disziplinarische Maßnahmen gegen ihn zu ergreifen. Der Direktor hatte den Eltern sogar mit einer Anzeige wegen Verleumdung gedroht. Die Tribal Police war machtlos. Das Ahnden schwerer Straftaten fiel in den Zuständigkeitsbereich der Feds, und sofern es sich nicht um Mord handelte, mischten die sich nicht ein. Das verängstigte Mädchen traute sich nicht mehr in die Schule, und Guv konnte weiterhin Kinder belästigen und missbrauchen.

Bei diesem Job verzichtete ich auf die Bezahlung. In den meisten anderen Fällen verlangte ich einen Hunderter für jeden Zahn, den ich ausschlug, und jeden Knochen, den ich brach. Doch Guv würde ich umsonst in den Hintern treten. Ich hasste ihn seit Jahren – schon als Teenager war er ein mieses Arschloch gewesen, das andere Kids terrorisierte, und mit Vorliebe Iyeskas wie mich. Natürlich war Guv immer nur mit seiner Gang unterwegs; ich konnte mich nicht daran erinnern, dass er jemals allein gekämpft hätte. Das würde sich heute Abend ändern.

»Gimme Shelter« von den Stones wurde aus der Tür der Bar über den Parkplatz geweht, und Songfetzen blieben wie Geister in meinem Kopf zurück. Ich zündete mir eine Zigarette an und wartete. Früher oder später musste Guv herauskommen.

Eine Stunde später sah ich ihn aus der Bar wanken. Er grölte irgendein Lied mit. Leise stieg ich aus dem Auto und versteckte mich hinter seinem glänzend neuen Pick-up. Damit keiner eine Delle in dem teuren Schlitten hinterließ, hatte er ihn ganz weit hinten auf dem Parkplatz abgestellt. Mir kam das sehr gelegen – so konnte ich ihn in die Mangel nehmen, ohne dass seine Saufkumpane was mitbekamen.

Ich trat aus dem Schatten. Guv trug verwaschene Jeans und ein T-Shirt mit dem Maskottchen der Fighting Sioux. Seine Augen waren glasig, und er stank nach Bier. Ich konnte das Muttermal auf seiner Stirn sehen, es hatte die Form eines winzigen Tomahawks.

»Hey, Guv.«

»Was is?« Er spähte ins Dunkle, konnte mich aber wohl nicht erkennen.

»Ich bin’s. Virgil.«

»Wer?«

»Virgil Wounded Horse.«

»Oh. Wolltest du was trinken? Die Bar hat grade zugemacht.«

»Ja, weiß ich. Hab auf dich gewartet.«

»Wieso?«

»Wegen Grace Little Thunder.«

Seine Miene verfinsterte sich. »Hab sie nicht gesehen.«

»Da hab ich was anderes gehört.«

»Ich kümmere mich um die Wakanheja. Bringe ihnen bei, was es heißt, Lakota zu sein. Einige Eltern wissen das nicht zu schätzen.« »Die Welt ist ganz schön ungerecht, was?« Ich versperrte Guv den Weg zu seinem Pick-up.

»Ich bringe den Kindern Sachen bei, helfe ihren Familien. Manchmal wollen sie mehr, als ich ihnen geben kann.«

»Der Heilige Guv.«

»Nein, nur ein Mensch.«

»Ein Mensch, der Jungs gern in den Arsch fickt und Mädchen befingert.«

»Du weißt doch, wie Kids sind. Die wollen immer Aufmerksamkeit. Sie erfinden was, und die Leute machen ein Mordsgeschrei.«

»Dann haben die anderen auch alles nur erfunden? Hab von dir und dem kleinen Joey Dupree gehört.«

Guv wollte an mir vorbeigehen. »Ich brauch so ’n Scheiß nicht. Hab noch nie gesehen, dass du der Oyate geholfen hast. Wie ich gehört hab, machst du gar nichts für die Gemeinschaft. Wenn du dich wegen irgendwas beschweren willst, dann geh doch zu Direktor Smith. Ich werd jetzt fahren.«

»Glaub ich nicht.«

»Weißt du was, du Pisser? Die Eltern von Grace Little Thunder sind Vollprolls. Die Mutter säuft und der Vater hat seit zehn Jahren nicht gearbeitet.«

»Das Mädchen ist erst neun.«

»Leck mich. Was geht dich das …«

Ich schoss eine harte Rechte auf Guvs Körpermitte ab. Die Wucht des Schlags hätte die meisten umgehauen, aber sein massiger Bauch fing sie ab.

»Scheiß Iyeska!«, knurrte Guv und holte aus.

Ich wich zur Seite aus und donnerte Guv die Faust gegen den Kiefer.

Er schüttelte den Kopf wie ein nasser Hund. Wieso stand der Mistkerl immer noch? Ich überlegte, den Baseballschläger zu holen, da schoss mir ein brutaler Schmerz in die Seite. Ein Nierenhaken, dann noch einer, fester als der erste. Stromstöße. Nervenimpulse. Oben bleiben, nicht zu Boden gehen, sonst ist es aus. Taumelnd, benommen suchte ich nach einer neuen Strategie, aber mein Hirn war wie ein Eisberg, der sich im Wasser auf und ab bewegte.

»Scheißhalbblut!«, schrie Guv.

Ich spürte seinen Speichel auf meinem Gesicht, dann lag ich auf dem Boden. Shit. Er trat mir in den Rücken, wieder und wieder, jeder Tritt hatte die Wucht eines Presslufthammers. Ich versuchte, durch die Wolke in meinem Hirn zu manövrieren. Guv keuchte, ihm ging langsam der Sprit aus. Schnapp dir seine Beine, dachte ich.

Ich schlang einen Arm um seine Knöchel und zog. Mit einem dumpfen Knall landete er auf dem Boden, und ich nutzte die Gelegenheit. Ich sprang auf, packte seinen rechten Arm und drehte ihn so lange nach hinten, bis ich einen Widerstand spürte. Dann drehte ich ihn noch ein Stück weiter.

»Wie gefällt dir das, Wichser?«, schrie ich.

Guv schaute zu mir hoch. »Fick dich, Halbblut.«

Er hatte Eier, das musste man ihm lassen. Ich dachte an die Zeit in der Highschool, als ich noch klein und schmächtig gewesen war. Dachte an die unzähligen Male, als Guv und die anderen »Vollblut«-Indianer sich auf mich gestürzt und verprügelt hatten, an meine wütenden Tränen, an die Demütigung, die mich noch heute verfolgten.

Kurz überlegte ich, ob ich Gnade vor Recht ergehen lassen sollte. So machte man es als Lakota, oder? Wacantognaka war eine unserer sieben Tugenden – sie bedeutete Gnade, Güte, Vergebung Mitgefühl. Das hatten uns die Lehrer in der Schule beigebracht. Von ihnen hatten wir gelernt, dass der Krieger als der mutigste und ehrenvollste galt, der seinen Feind mit dem Coupstab berührte und freiließ. Der Legende nach hatte sogar Crazy Horse seinen Mut bewiesen, indem er einen Pawnee-Krieger, den er über einen Fluss verfolgt hatte, nicht getötet, sondern ihm in Anerkennung seiner Tapferkeit die Freiheit geschenkt hatte. Wenn ich mich nach dem Lakota-Verständnis ehrenhaft verhalten wollte, musste ich Guv jetzt gehen lassen.

Drauf geschissen.

Ich drehte seinen Arm weiter nach hinten, bis er mit grauenhaftem Knirschen aus der Gelenkpfanne sprang. Dann holte ich mit dem Fuß aus und trat Guv mit voller Wucht gegen die Wange, sodass sein Kopf nach hinten ruckte. Ich riss das Knie hoch und rammte ihm den Stiefelabsatz ins Gesicht. Zähne zerbrachen knackend wie Kartoffelchips. Ich ging in die Hocke und packte ihn an den Haaren.

»Hör mir gut zu, Drecksack. Wenn du in der Schule noch einmal ein Kind anfasst, schneide ich dir den Schwanz ab und stecke ihn dir tief in den Hals. Verstanden?«

Er sagte nichts. Sein linkes Auge war zugeschwollen und blutig, seine Nase war verschwunden, hatte sich im Gesicht verkrochen. Blut lief aus dem schwarzen Loch, wo früher Mund und Nase gewesen waren.

»Reicht dir das als Coupstab, Arschloch?«

Ich bückte mich über ihn, um zu prüfen, ob er noch atmete. Schwach, aber immerhin. Auf dem Beton lagen ein paar Zähne. Sie sahen aus wie winzige gelbe Grabsteine. Ich sammelte sie ein und steckte sie in meine Hosentasche.