Preisgegeben

Aus dem Amerikanischen von Sven Koch

© Polar Verlag 2020

Die deutsche Übersetzung wurde ermöglicht durch die freundliche Unterstützung des Canada Council for the Arts.

 

For Frank Kuiack

Anmerkung des Verfassers

Dieses Buch ist ein Roman, alle Figuren und Orte sind frei erfunden. Obwohl die Handlung in der Region der Nördlichen Wasserscheide verortet ist, schildert das Buch keine reale Stadt oder Siedlung.

A violent order is a disorder; and great disorder is an order. These two things are one (Pages of illustrations).

»Connoisseur of Chaos« Wallace Stevens

 

1

© Christoph Kretschmer / Adobe Stock

Die Hütte war am Oberlauf des Springfield River errichtet worden – nicht weit vom Five Mile Camp entfernt, einem Arbeiterlager, in dem früher die bei O’Hearn Forestry Products beschäftigten Cree gelebt hatten. Das Gebiet gehörte zur Nördlichen Wasserscheide, der Northern Divide, wo die Flüsse sowohl nach Süden wie nach Norden fließen und alle Bäume Nadelbäume sind. Ein Land dichter grüner Wälder und großer und kleiner Wasserläufe: so viel fließendes Wasser, dass die meiste Zeit des Jahres ein leises Rauschen in der Luft liegt. Eine Familie hatte die Hütte gebaut: ein Mann, eine Frau und ein Mädchen, die eines Frühlings gekommen waren und damit angefangen hatten, aus dem verlassenen Camp Holz wegzuschleppen. Als O’Hearn von dem Diebstahl erfuhr, schickte er zur Überprüfung einen seiner Arbeiter, doch als der Mann nach Springfield zurückkam, riet er der Firma, die Sache abzuhaken. Die Familie sei coco – ein bisschen plemplem, aber harmlos. Tragwerk und Dachstuhl der Hütte seien primitiv zusammengefügt worden, der First deswegen schief und verzogen wie bei einem schlechten Hexenhaus. Die Tür bestehe aus roh behauenen Brettern, die Fenster seien alle verschieden groß. Aber das Allerseltsamste sei das Dach: die Schindeln nichts als plattgedrückte Bier- und Coladosen. Aus der Entfernung, sagte der Arbeiter und lachte bei der Erinnerung, sehe die Hütte aus wie ein bloß am Wipfel geschmückter Weihnachtsbaum, der jeden Moment umkippen könnte.

»Die sind in einem Jahr wieder weg«, versprach er O’Hearn. »Den Anwalt können Sie sich sparen, der kostet nur Zeit und Geld. Vergessen Sie diese komischen Vögel.« Die Familie verließ kaum einmal die Hütte und den Wald darum. Nur manchmal gingen sie in die nächste Siedlung, Ragged Lake, um den Scheck einzulösen, der dem Mann postlagernd in die Mattamy Fishing Lodge geschickt wurde. Auch ihre Lebensmittelvorräte kauften sie dort. Außer zu diesen beiden Anlässen – um in der Lodge beim Barmann den Scheck einzulösen und vom Koch Lebensmittel zu kaufen – schien die Familie keinen Umgang mit anderen zu haben. »Wollen Sie diesen Monat noch was anderes?«, fragte der Koch manchmal. »Eier kann ich Ihnen günstiger geben. Oder Whisky. Wollen Sie Whisky? Wenn ich’s dem Barmann sag, kriegen Sie welchen.« »Eier bring ich nicht heil nach Hause«, antwortete der Mann jedes Mal, »und Whisky brauch ich keinen.« »Wer hier oben braucht keinen Whisky?« »Tut einem nicht gut.« Dabei deutete der Mann auf seinen Kopf und machte ein Geräusch wie ein Pistolenschuss. »Bläst einem das Hirn weg.« »Das holt man sich dann mit mehr Whisky wieder zurück«, erwiderte der Koch. »Genau dazu ist Whisky ja da.« Aber der Mann kaufte nie Whisky. Nur Trockenmilch, Red-River-Porridge, Kaffee, Zucker, Mehl und andere haltbare Lebensmittel, die er alle sorgfältig in einem Rucksack verstaute. Den schulterte er und marschierte die ganze Strecke zurück zu seiner Hütte. Er war ein Mann mittleren Alters, seine langen blonden Haare waren ungewaschen und verfilzt. Im Sommer hingen Kriebelmücken und Sumachknospen darin, im Winter Eis und Schneeklümpchen. Er war groß und schlank, und meist trug er Latzhose und Flanellhemd. Seine Haut war wettergegerbt und ledrig wie die eines alten Mannes. Die Frau war hochgewachsen und schön. Das Mädchen sah aus wie die Mutter. Niemand aus Ragged Lake besuchte die Familie, und nachdem Five Mile Camp schon lange verlassen war, kam auch kaum jemand an der Hütte vorbei. Sie lag an keiner Schneemobilroute. Der Oberlauf des Springfield River galt allgemein als schlechtes Angelrevier, besser wurde es erst ein paar Kilometer südlich, wo er breiter wurde. Die Hütte war von anderen Menschen und ihrem Alltag so weit entfernt wie eine archäologische Ruine, die erst entdeckt werden musste.

Aus diesem Grund konnte keiner aus Ragged Lake mit Sicherheit sagen, wann die Familie ermordet worden war.

Entdeckt hatte die Toten ein Schlagauszeichner von O’Hearn, der in der Gegend die Kiefern markierte, die geschlagen werden sollten, und dabei auf die auf keiner Karte verzeichnete Hütte stieß. Beim Näherkommen roch der junge Mann etwas Warmes, Beißendes, einen durchdringend süßlichen Geruch an einem Tag, der ihm bis dahin nur die scharfen spröden Gerüche des Winters geboten hatte. Kiefernharz und gefrorenes Wasser. Fichten und Schneefall. Der junge Mann betrat die Hütte erst gar nicht. Blickte nur kurz durch ein Fenster hinein und machte sich sofort auf den Weg nach Ragged Lake, wo er nach einer angesichts seiner Schneeschuhe beachtlich kurzen Zeit dem Barmann der Mattamy Lodge erzählte, dass am Oberlauf des Springfield etwas Schlimmes passiert war. Etwas, das dort überhaupt nicht hätte passieren sollen, weil im Holzrevier von O’Hearn keine Hütte stehen sollte. Aber es war etwas passiert, und es war schlimm. Deswegen mussten sie dringend telefonieren.

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