Attica Locke: Pleasantville
Leseprobe
Auf der anderen Seite der Stadt stand auch Jay Porter an einer verwaisten Straßenecke.
Spät am Abend um kurz nach elf hatte er den Anruf erhalten, dass in seine Kanzlei in der Brazos Street eingebrochen worden war. Während er ein gutes Stück südlich von Downtown auf den Streifenwagen wartete, der angeblich unterwegs war, sah er die glitzernde Hochhausfassade des Hyatt Regency im Geschäftszentrum der Stadt auf der anderen Seite des Freeway 45. Der Freeway bildete die Grenze zu seinem Viertel, einer kruden Mischung aus zu Büros umgebauten alten viktorianischen Häusern, lieblosen Ladenfronten, Plattenläden, Grillimbissen, Ramschgeschäften und einem abgewrackten Kaufhaus. Letztes Jahr war er endlich aus den engen Büroräumen in der Ladenzeile an der West Gray Road hier- her gezogen. Er hatte ein marodes, nach einer Zwangsvollstreckung jahrelang leer stehendes Haus gefunden, das er für wenig Geld hatte kaufen können. Es war ein bescheidener, aber solider viktorianischer Bau mit offenem Grundriss. Im ersten Stock gab es ein Zimmer für seine juristische Bibliothek, in der er geschützt vor Besuchern und Straßenlärm Schriftsätze verfassen konnte. In einem solchen Haus hätte Bernie gern gewohnt, noch lieber als in dem großen Ranchhaus, in das sie einige Jahre
nach der Geburt ihres Jüngsten Ben gezogen waren. Das war zwar praktisch, aber kaum von den anderen Häusern aus hellem Ziegel und lackiertem Holz in der Nachbarschaft zu unterscheiden. Sie reihten sich auf wie Pralinenschachteln in einem Supermarktregal, hübsch, aber langweilig.
Jay hatte das Haus aus der Zeit der Jahrhundertwende eigenhändig renoviert, so als hätte seine Frau noch die Gelegenheit, es sich nachmittags auf der umlaufenden Veranda gemütlich zu machen, als könnten sie hier noch mal von vorne anfangen. Wenn er manchmal durch das schmiedeeiserne Tor trat, erwartete er fast, sie in der weißen Hollywoodschaukel sitzen zu sehen. Das Haus hatte ihm keine freie Minute gelassen, ständig gab es etwas zu tun – fehlende Türknäufe, kaputte Lampen, die Böden, die er rausreißen musste –, und damit hatte es ihm durch die schlimmste Zeit im letzten Jahr geholfen. Tagtäglich dankte er ihm, dass es ihn an den langen Nachmittagen, an denen er seine Kanzlei vor die Hunde gehen ließ, zwang, Werkzeug in die Hand zu nehmen.
Seit Juni hatte es drei Einbrüche in der Gegend gegeben.
Selbst Hathornes Wahlkampfbüro in der Travis war betroffen gewesen, und der Chronicle schlachtete die anscheinende Unfähigkeit des ehemaligen Polizeichefs, sein eigenes Wahlkampfbüro zu schützen, genüsslich aus. In Jays Haus wurde im Juli eingebrochen, dabei hebelten die Einbrecher die Hintertür komplett aus. Sie klauten eine Bohrmaschine, einen Farbfernseher, einen kleinen Sony Watchman, auf dem Eddie Mae den Prozess gegen O. J. Simpson von Anfang bis Ende angeschaut hatte, ein wenig Kleingeld und ein goldenes Armband von ihr. Eine Woche später ließ er eine Alarmanlage einbauen.
Dieses Mal mussten sie durch ein Fenster eingestiegen sein.
Als er an der Kanzlei ankam, war das Scheinwerferlicht seines Land Cruiser über die Veranda gestrichen und hatte die zerbrochene Fensterscheibe im Erdgeschoss erfasst. Direkt darunter auf den breiten Dielen lagen in einem Halbkreis Scherben, eine wie auf einem Schnappschuss eingefrorene Szenerie. Die Einbrecher mussten das Haus auf anderem Wege verlassen haben, oder sie waren immer noch darin. Seit der Geburt der Kinder bewahrte Jay im Haus der Familie keine Waffen mehr auf, er besaß nur noch einen Revolver, für den er inzwischen einen Waffenschein hatte und der jetzt unnütz in einer abgesperrten Schatulle in der untersten Schublade seines Schreibtischs lag. Daher stand er geduldig auf der anderen Straßenseite und wartete auf die Cops. In der Kanzlei befand sich nichts, was er nicht entbehren konnte, nichts, wofür er sein Leben riskieren würde. Er musste nicht den Helden spielen.
Der Crown Victoria kam mit ausgeschalteter Sirene angeschlichen. Die Reifen knirschten über den groben Asphalt, als der Fahrer das Lenkrad einschlug und die vordere Stoßstange knapp vor Jays Füßen fast auf dem Gehsteig aufsaß und das Scheinwerferlicht ihn voll in die Brust traf. Automatisch hob er die Hände.
»Porter«, sagte er klar und laut. »Das ist mein Haus.«
Die Frau war relativ jung und klein. Ihre Haare waren straff zu einem winzigen Knoten zurückgebunden und ihre vollen Lippen in einem billigen Pink angemalt, für das sie zu alt war. Sie stieg aus und ging, eine Hand am Griff der Dienstwaffe, schnurstracks auf das Gartentor zu. Mit einem stummen Nicken grüßte sie Jay, als er es öffnete.
»Waren Sie drin?«
Jay schüttelte den Kopf und ließ sie vorbei. Dabei reichte er ihr den Haustürschlüssel.
Ihr Partner ließ sich Zeit. In aller Ruhe hievte er sich aus dem Streifenwagen und schlenderte gelassen zur Veranda. Gut möglich, dass es für sie heute Abend der fünfzigste Einbruch war, dachte Jay. Der Mann war älter als die Frau, aber nicht viel. Jay glaubte nicht, dass er die vierzig überschritten hatte. Er trug einen Schnurrbart und einen rasiermesserscharf gezogenen Rechtsscheitel, und Jay roch sein starkes Rasierwasser, als er ihn vorbeiließ. Beim Über- schreiten der Schwelle wanderte auch seine Hand zum Pistolen- griff. Jay folgte ihm ins Haus. Das leise Knacken der Dielen war das einzige Geräusch, das in der Dunkelheit zu hören war. Er tastete an der Wand zwischen der Haustür und Eddie Maes Schreib- tisch nach dem Lichtschalter. Schlagartig erhellte das Licht den Empfangsraum und vertrieb die Schatten wie aufgeschreckte Mäuse. Die Polizistin ging durch den Flur zur Rückseite des Hauses mit Küche und Speisekammer. Ihr Partner stieg die Treppe hoch. Oben waren das Bibliotheks- und das Besprechungszimmer. Derweil warf Jay einen prüfenden Blick auf Eddie Maes Schreib- tisch und zog die Schubladen heraus. Dann ging er nach links in sein Büro,
das neben der weit offen stehenden Hintertür lag. »Da müssen sie raus sein«, hörte er hinter sich sagen. Es war der Schnauzbärtige. »Oben war nichts zu sehen.« Seine Partnerin hatte auch nichts in der Küche entdeckt. Inzwischen hatte sie ihre Waffe wieder ins Holster gesteckt und zog einen Stift hervor.
Innerhalb von zehn Minuten hatten sie das Erstaufnahmeformular ausgefüllt. Jay vermisste nichts: Weder fehlte sein Scheckbuch noch der silberne Brieföffner, den er so gut wie nie benutzte, noch seine LP- und Singlesammlung, rare R&B-Pressungen von Arhoolie und Peacock Records, unter anderem die wie neue Belle Blue von A. G. Hats. Es war der Texas-Blues seiner Kindheit, der sich nicht durch CDs ersetzen ließ. Hinter der Tür stand sein Plattenspieler, ein alter Magnavox, den die Einbrecher auch nicht angefasst hatten. Er sah nach dem Bargeld und der Metallschatulle mit seinem .38er, die genau dort war, wo er sie am Morgen des Einzugs in die Kanzlei verstaut hatte. Die Polizisten verbrachten mehr Zeit damit, seinen Waffenschein zu prüfen, als sie fürs Ausfüllen des Formulars gebraucht hatten. Sie gingen davon aus, dass die Alarmanlage den oder die Einbrecher verscheucht hatte. Anscheinend waren sie einfach durch die Hintertür raus. Die Cops hatten sich flüchtig den Garten angesehen. Es war ein winziges Rasenviereck, und ein kurzer Blick reichte, um die Ermittlungen abzuschließen. »Okay«, sagte Jay und schob die Hände in die Hosentaschen. Er begleitete die Cops nach vorne auf die Veranda und schloss den Reißverschluss seiner Windjacke. Über Funk kam die Meldung eines 22-11, in der Crawford Street an der Ecke Wheeler wurde Verstärkung angefordert. Der Mann war schneller am Funkgerät, und dann waren die beiden verschwunden. Jay schloss das Gartentor hinter ihnen und sah dem Streifen- wagen hinterher, der rot und blau blinkend die Brazos Street entlangrauschte. Zurück im Haus, holte er einen Besen aus dem Flurschrank. Er brauchte eine Sperrholzplatte oder wenigstens ein Stück dicke Pappe, damit er das kaputte Fenster für die Nacht vernageln konnte oder bis jemand kam, der die Scheibe ersetzte. Er hatte das Haus mausgrau gestrichen, die Fassade aber sonst so gelassen, wie sie war, inklusive der alten Fenster. Die Reparatur würde ihn mindestens zweihundert Dollar kosten.
Das Fenster befand sich direkt neben Eddie Maes Schreibtisch, und wenn es morgen nicht wärmer würde als heute, dürfte sich Jay bestimmt den ganzen Tag anhören, welche Hausmittelchen sie sich gegen die Erkältung besorgen müsse, die sich garantiert in ihrem Hals und der Lunge festsetzen würde. Er sah sie vor sich, ein zitterndes Bündel, das sich alle fünfzehn Minuten räuspern und schließlich um eine verlängerte Mittagspause bitten würde, um Hühnerbrühe aufzutreiben. Bei der Vorstellung musste er grinsen, trotz der späten Stunde und des Besens in seiner Hand. Sie arbeiteten jetzt seit beinahe zwanzig Jahren zusammen. Er hatte ihre Ausbildung finanziert und aus ihrem Anteil an den erstrittenen Abfindungssum-
men einen Treuhandfonds für ihre Enkel eingerichtet. Das war natürlich in der Zeit, als noch Geld reinkam und Jay mehr als einen Mandanten hatte. Mittlerweile war sie geprüfte Rechtsanwaltsgehilfin, kaufte nur mehr bei Casual Corner ein und hatte ihre Perückensammlung auf zwei reduziert, deren Farben auch in der Natur vorkamen. Aber Eddie Mae war immer noch Eddie Mae und fest davon überzeugt, dass sich jeder Tag mit ein, zwei Bier und einem nachmittäglichen Dominospiel versüßen ließ. Außer einem Enkel, der neben dem Studium in einem Radio Shack arbeitete, war sie mit ihren fast siebzig in einem Haus voller Kinder und Enkel die Einzige mit einem regelmäßigen Einkommen. Einmal in der Woche verfluchte sie Jay für dieses »blöde Treuhanddings«, weil es ihre Sippschaft dazu brachte, sich in der Kunst des Nichtstuns zu üben, und sie dazu zwang, außer Haus zu arbeiten, um wenigstens dreißig Stunden die Woche ihren Frieden zu haben. Sie war eine der wenigen Konstanten in Jays Leben, und er hatte sie lieb gewonnen, sie und ihre kleinen Marotten, nach denen man die Uhr stellen konnte.
In der Linken hielt Jay das Kehrblech. Seine sechsundvierzig Jahre alten Knie knirschten, als er sich neben Eddie Maes Schreibtisch auf den Boden sinken ließ und dazu ansetzte, mit dem Besen über die Stelle zu kehren, wo viele kleine Scherben hätten sein müssen.
Und da bemerkte er den Fehler.
Im Haus war nicht eine einzige Scherbe.
Auf dem Boden lag nichts als der handgewebte Indianerteppich, den er bei Foley’s gekauft hatte. Die Scherben sind auf der falschen Fensterseite, dachte er. Das war so offensichtlich, dass er kaum begreifen konnte, es nicht gleich bemerkt zu haben. Genauso wenig konnte er begreifen, dass die Polizisten es nicht bemerkt hatten.