Kapitel Eins

 

© Christoph Kretschmer / Adobe Stock

Es hatte die ganze Nacht hindurch geregnet und jetzt stieg das Wasser rauschend und strudelnd über die Ufer des Grabens vor meinem Haus. Ganz Houston war auf einem befestigten Feuchtgebiet erbaut und ständig überflutet. Wegen des Sturms war der Himmel noch dunkel und die Straßenbeleuchtung schimmerte in der Morgendämmerung. Ich stieg in meine Gummistiefel und stapfte platschend zum Grillimbiss um die Ecke. Ich bestellte eine gebackene Kartoffel, gefüllt mit Butter, Sour-Cream, Speck und langsam geräucherter Rinderbrust, und kaufte mir dann nebenan im Getränkekiosk noch ein Bier. Auf dem Rückweg wurde es wärmer und die Feuchtigkeit lag schwer in der Luft.
Als ich mich meinem Gebäude näherte, bemerkte ich einen Typen auf meinem Treppenabsatz. Ich kannte ihn nicht. Vermutlich irrte er sich in der Tür.
»Wen suchen Sie?«, rief ich ihm zu.
»Charlotte Ford«, sagte der Mann.
Er stand unter dem Vordach meiner Haustür, zu drei Seiten von einem Vorhang aus Regen umgeben. Er hatte grobe, dunkle Gesichtszüge: tief liegende Augen, ein markantes Kinn und eine runde irische Nase, die sein Gesicht etwas weicher erscheinen ließ. Mir gefiel, wie er meinen Namen aussprach.
»Das bin ich«, sagte ich. »Kennen wir uns?«
»Nein.«
Er machte mir Platz, damit ich aus dem Regenguss herauskam. Wir standen dicht nebeneinander innerhalb der Wasserwände, während ich meinen Schlüssel herauskramte. Aus seinem Haar tropfte Regen auf seine Nase und er wischte ihn weg. Ich lächelte unvermittelt, weil er so nah stand und so gut aussah. Dann schaffte ich es, die Tür zu öffnen, schob sie mit dem Rücken auf und stellte mein Essen im Flur auf das Sideboard.
»Detective Ash«, sagte er. »HPD.«
Mir fielen sofort sämtliche Gesetze ein, die ich je gebrochen hatte, und ich versuchte einzuschätzen, in welcher Klemme ich steckte. Cops lösten bei mir immer eine Scheißangst aus – ein Reflex aus der Zeit, als ich gedealt hatte.
»Sie sind also Charlotte Ford?«, fragte er.
Ich nickte.
»Darf ich reinkommen?«, sagte er.
»Okay«, sagte ich, äußerlich ruhig.
Er trat ein und sah sich um. Von uns beiden tropfte Wasser auf den Boden. Ich brachte meine Einkaufstüten in die Küche und verstaute das Bier und das Essen im Kühlschrank. Der Detective folgte mir, lehnte sich gegen die Wand und beobachtete mich. Er nahm zu viel Raum ein. Ich fühlte mich eingeengt, wie gefangen. Ich schwitzte in meinem knallroten Regenmantel, dessen Baumwollfutter mit Einhörnern gemustert war.
»Kennen Sie Danielle Reeves?«, fragte er.
»Sicher kenne ich Danielle.«
Mir hätte klar sein sollen, dass es etwas mit ihr zu tun hatte. Danielle war meine älteste Freundin, der einzige
Mensch auf der Welt, der verstand, woher ich kam. Ich hatte sie in den letzten Jahren kaum gesehen, doch das spielte
keine Rolle. Ich war bereit, ihre Kaution zu stellen, für sie zu lügen, ihr ein Alibi zu geben – was immer sie brauchte.
Sie war meine Freundin. Ich würde sie beschützen.
»Worum geht’s hier?«, fragte ich.
»Ich befürchte, ich habe schlechte Nachrichten«, sagte er. »Danielle Reeves ist tot.«
»Was?«, sagte ich. »Danielle ist tot«, wiederholte der Detective.
»Tot?«
»Sie wurde ermordet«, sagte er und musterte mich eingehend. »Setzen wir uns.«
Wir gingen ins Wohnzimmer und ich setzte mich aufs Sofa. Er nahm den Sessel am Fenster. Der Schein der Straßenbeleuchtung ergoss sich um seine Gesichtskonturen.
»Sind Sie sicher?«, fragte ich.
»Ja.«
»Das ist doch Irrsinn. Ich habe kürzlich noch mit ihr gesprochen.«
»Wann war das?«
»Vor zwei Tagen. Sonntagabend. Wir haben uns auf einen Drink getroffen.«
»Und gestern?«
»Gestern, nein, da habe ich sie nicht gesehen. Ich habe Sonntag das letzte Mal mit ihr gesprochen.«
»Wo waren Sie gestern Abend?«
»Hier. Es hat geregnet. Ich bin nicht ausgegangen.«
»Kann das jemand bezeugen?«
Ich schüttelte den Kopf. Er schrieb etwas in ein Notizbuch. Mir fiel plötzlich auf, wie der Regen draußen auf die Autos prasselte. Ich suchte in der Tasche meines Regenmantels nach einer Zigarette. Wasser rann am Regenmantel herunter und durchfeuchtete das Polster. Ich zog ihn eigentlich immer an der Tür aus und hängte ihn an den Haken. Warum war das nicht passiert? Mir schwirrte der Kopf, verwirrt, wie die Strömung draußen im Gully – ich konnte keinen klaren Gedanken fassen.
Ich nahm einen tiefen Zug an der Zigarette. Der Rauch waberte um meinen Kopf und hing wegen der Feuchtigkeit schwer in der Luft.
Ash sagte: »Danielles Mutter erwähnte, dass Sie und Danielle alte Freundinnen seien.«
Als ich zu sprechen versuchte, war meine Kehle zugeschnürt und ich begann zu schluchzen. Bestürzt und neugierig zugleich beobachtete ich mich selbst. Ich begriff noch nicht mal die Situation, und doch fing ich hier vor einem Fremden an zu heulen. Nichts davon ergab einen Sinn. Mir fiel die Zigarette aus der Hand. Der Detective hob sie auf und drückte sie im Aschenbecher auf der Fensterbank aus. Ein Teil meines Hirns dachte, wie ich wohl aussehen musste: Kein Make-up, Schnodder und die schrecklichen Geräusche, die meiner Kehle entwichen. Das Ganze wurde mir mehr und mehr unangenehm, wodurch es noch schwieriger wurde, mich zusammenzureißen. Ich benötigte eine Weile, bis ich wieder normal atmen konnte.
Der Detective starrte mich an, wie man eine Skulptur ansieht, ohne sich zu kümmern, was in mir vorging. Was er über Danielle gesagt hatte, konnte einfach nicht wahr sein. Es ergab keinen Sinn. Sie hatte bereits all die Drogen und das Gefängnis überlebt. Endlich kam sie klar.
»Sie kann nicht tot sein«, sagte ich.
»Doch, sie ist es, Miss Ford.«
»Nicht ermordet. Das ist absurd. Wenn sie hätte sterben sollen, dann wäre das schon viel früher passiert.«