Leseprobe: Benjamin Whitmer „Flucht“

 

©Christoph Kretschmer / Adobe Stock

Der blonde Wärter kämpft immer noch mit seinen Handschellen. Sein Haar ist dünn wie bei einem Neugeborenen, die Kopfhaut ganz rosa. Seine Augen wirken aufgequollen, das linke füllt sich mit Blut, die Äderchen sind geplatzt. Er wirft sich nach vorn, zuckt wie ein Tausendfüßler auf der Herdplatte.

»Mach ihnen die Garotten ein wenig auf«, sagt Howard zu Mopar. »Locker sie, bevor einer von diesen verdammten Hinterwäldlern sich noch selbst umbringt.«

Er redet mit mir wie mit einem verdammten Kind. Selbst wenn Mopar könnte, würde er sich nicht vom Fleck rühren. Scheiß auf diese Wärter.

»Verstanden.« Bad News erhebt sich aus seinem Sessel. Sie haben die Garotten in der Gefängniswerkstatt hergestellt. Aufgewickelter Kupferdraht mit einem Holzgriff, Bad News zieht den blonden Wärter daran hoch. Der Draht schneidet in den Hals, verschwindet im Blut. Das Gesicht des Wärters wechselt von rot zu violett, die Zunge schwillt ihm an. Bad News zieht ihn hoch und lässt ihn wieder herunter auf die Knie, den Griff aber hält er fest.

»Mach schon«, sagt Howard. »Noch bringen wir diese Hinterwäldler nicht um.«

»Das würde ich nicht so schlimm finden«, sagt Bad News. Er ist jung und nervös, hat den Blick eines Borderliners. Seine großen Augen sind nur Pupillen. Er sagt, seine Nerven sind vom LSD erledigt. Er sagt, wenn man genug LSD eingeworfen hat, wird man gesetzlich für geisteskrank erklärt. Er sagt, er hat die sechsfache Überdosis eingeschmissen, und wer ihm nicht glaubt, kann ja diese eine Bitch in Boulder fragen. Nur dass man sie nichts mehr fragen kann.

Der blonde Wärter greift nach dem Draht um seinen Hals. Bad News hat immer noch den Holzgriff in der Hand.

»Mach schon«, sagt Howard zu Bad News.

Bad News dreht die Garotte auf. Der Wärter fällt nach vorn und keucht. Er kotzt auf den Teppich. Bad News lockert auch die zwei anderen Garotten, beide Wärter zucken, wenn sie seine Hand am Holzgriff spüren. Er sagt: »Es wird dir noch leidtun, dass wir diese Arschlöcher nicht umgebracht haben.«

»Mir wird gar nichts leidtun«, sagt Howard. »Schau mal, ob du für uns was zum Essen findest.«

»Komm mit, Warrington«, sagt Bad News. Sie gehen um Howard herum und verlassen das Wohnzimmer.

Howard schaut die alte Frau auf dem Sofa an. »Wie heißt du?«

Die alte Frau starrt ins Nichts, als würde sie das alles nichts angehen. Sie sieht Howard mit ihren grauen Augen an. »Pearl«, sagt sie.

»Bist du verheiratet, Pearl?«

Sie zieht eine selbstgedrehte Zigarette und Zündhölzer aus ihrer Schürze, gibt sich Feuer. Sie wedelt mit dem Streichholz, bis es ausgeht, wirft es auf den roten Teppich, so als sei es nicht ihrer.

Howard tritt mit einem Uniformstiefel darauf. »Ich krieg dich schon noch zum Antworten.«

»Wenn ich einen Mann hätte, hätte ich das gesagt.«

»Schnalle, du bist ja eine Marke. Wie steht’s mit einem Sohn?« Sie bläst den Rauch an die blechverkleidete Decke.

»Es gibt also keine Klamotten, die einem von uns passen könnten?«

Sie sieht ihn mit einem Blick an, als ob er Hundescheiße auf dem Teppich ist. »Der Kleine könnte in meine Sachen passen.«

»Da haben wir ja eine echte Klugscheißerin«, sagt Howard. »Wenn du hier alleine wohnst, warum stehen dann da draußen drei Autos?«

»Ich habe nicht gesagt, dass ich allein bin.«

Howard massiert sich zwischen den Augen. »Okay«, sagt er, »fangen wir noch einmal neu an. Wer außer dir lebt hier noch?«

»Ich hab Pensionsgäste«, sagt sie. »Zwei von ihnen haben Autos.«

»Und wo verdammt sind die gerade?«

Bad News kommt zurück ins Wohnzimmer, Warrington im

Gefolge. Bad News hält eine Umhängetasche. Er grinst ein wenig, als er sie Howard gibt.

Howard öffnet die Ledertasche. Macht sie wieder zu. »Pensionsgäste?«

Pearls Augen verändern sich nicht. Nicht die Spur.

»Ich nehme an, es überrascht euch nicht sonderlich, was für Gäste Pearl hier empfängt«, sagt Howard zu den Wärtern. Er öffnet die Tasche noch einmal. »Sie kommen von überall her, um dich zu sehen, Pearl? Deine Gäste?«

»Ich hab meinen Mann neunundvierzig verloren.« Sie sagt es, als ob ein Tier hinter ihrem Gesicht leben würde und sie alle Willenskraft aufwenden muss, um es zurückzuhalten. »Damals beim Ausbruch. Jemand von euch hat ihn umgebracht.«

»Neunundvierzig war ich nicht im Gefängnis«, sagt Howard. »Da war ich ganze zehn Jahre alt.«

»Ich muss nur die Straße runtergehen und mir diese Mauern anschauen«, sagt sie. »Das reicht, um mir in Erinnerung zu rufen, warum ich tue, was ich tue.«

»Ich wette, hier gibt es auch noch einen Haufen Geld, der dich daran erinnert«, sagt Howard. »Einen großen Haufen Bargeld.«

»Die Frauen, die zu mir kommen, haben nichts mit am Hut«, entgegnet Pearl. »Die Frauen, die zu mir kommen, können nichts dafür, dass sie von den Frauen geboren worden sind, die ihre Mütter sind. Wenn ihr daran zweifelt, dass sie dieses Gefühl weitervererben, braucht ihr euch nur umzuschauen, wenn sie euch zurück ins Old Lonesome stecken.«

»Du bist eine verbitterte Frau«, sagt Howard. »Böse auf die Welt. Das ist dein Problem.«

»Nein. Ihr seid mein Problem. Ihr alle.« Und sie meint nicht nur alle im Raum. Sie meint auch alle da draußen.

»Böse und ausgetrocknet. Du hast einen Hass auf die Welt, weil sie dich nie feucht gemacht hat.« Howard öffnet die Tasche und zieht etwas aus Metall heraus, es sieht lang und ungemütlich aus. »Wie wäre es, wenn du mir sagst, wo ich das Geld finde? Entweder sagst du es mir, oder wir stecken das mal in dich rein und schauen, ob noch etwas übrig ist, was klappert.«

Sie verströmt Verachtung aus jeder Pore, ihrem Gesicht aber kann man ansehen, dass Howard falsch liegt. Sie ist nicht verbittert. Nur das Leben und all die, die mit ihren eigenen gebrochenen Herzen zu ihr kommen und es loswerden wollen, haben ihr das Herz gebrochen. Mopar fragt sich, ob es je ganz war.

»Unter meinem Bett fehlt eine Diele«, sagt sie. »Da liegt es.«

Howard nickt Bad News und Warrington zu. »Holt es«, sagt er.

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