Einer Blutspur zu folgen war alles andere als einfach, wenn man mit achtzig Meilen über den Highway bretterte.
Sehen musste Sheriff Chris Cherry das Blut nicht, es war da, das wusste er auch so. Dicke Tropfen auf dem U.S. 90, sie liefen hinten von der Stoßstange des Nissan Maxima, der alles gab, um aus Chris’ Sichtfeld zu verschwinden, und Staub aufwirbelnd links und rechts über Fahrspuren und Randstreifen ausscherte.
Das Blut stammte von Tommy Milford, einem seiner Deputys. Ob er noch lebte, wusste Chris nicht.
Deputy Dale Holt kümmerte sich zehn Meilen entfernt um den Schwerverletzten. Er war mit Tommy Streife gefahren, als alles passierte, und obwohl er nur ein Jahr älter war als Tommy, hatte er, als Chris die Verfolgung aufnahm, die Hand des Kollegen gehalten wie ein Vater und immer wieder gesagt, halt durch, bitte halt durch. Ob sie Tommy bewegen durften, hatte Chris nicht gewusst. Gut sah es jedenfalls nicht aus. Doch bevor Dale den Sheriff alarmiert und den Krankenwagen gerufen, bevor er neben seinem verletzten Freund auf die Knie gegangen und dessen Körper mit dem eigenen abgeschirmt hatte, war es ihm noch gelungen, eine Handvoll Schüsse auf den flüchtenden Nissan abzufeuern. Ein Projektil hatte die Heckscheibe durchschlagen, sodass sich auf dem Sicherheitsglas ein Spinnennetz ausgebreitet hatte.
Auf dieses Spinnennetz konzentrierte Chris sich nun und nicht auf das Blut seines Deputys auf dem Asphalt.
Er betete, dass Tommy sich an Dales Hand festhielt und mit jedem Herzschlag fest zudrückte, damit Dale und alle anderen wussten, dass er noch am Leben war.
Bitte nicht sterben. Gott, bitte nicht heute.
Nicht heute. Nicht an Tommys erstem Arbeitstag.
Deputy Amé Reynosa kam hinter Chris herangeschossen und überholte ihn so dicht, dass ihr Wagen fast am Lack seines Pick-ups kratzte. Über Funk hatte er sie angewiesen, hinter ihm zu bleiben, aber natürlich hörte sie nicht auf ihn. Er beschleunigte, setzte sich wieder vor sie. Sie fuhren jetzt neunzig, fast hundert, fraßen sich an den Maxima heran, dessen Heck plötzlich ins Schlingern geriet, während die Bremsleuchten an- und ausgingen. Der Fahrer musste weiter vorn das blau-rote Blinklicht auf dem Wagen von Chief Deputy Ben Harper gesehen haben, und wusste wahrscheinlich nicht mehr, wo er jetzt hinsollte; vielleicht verlor er ebenfalls Blut, weil Dales Kugel auf ihrem Weg durchs Wageninnere abgelenkt worden war und doch noch ihr Ziel getroffen hatte. Harp hatte tagsüber in Artesia zu tun gehabt und war auf dem Rückweg nach Murfee gewesen, als Dale den ersten Schuss abgegeben hatte. Er fuhr dem flüchtenden Auto bereits entgegen, und Chris hatte ihn über Funk gebeten, auf der Höhe von Mile Marker 67 anzuhalten und die Nagelsperre auszulegen.
Im Vorbeifahren sah Chris das kleine grüne Schild.
Marker 65
Die Nagelsperren waren verflucht teuer gewesen. Chris hatte mit dem Kauf gezögert, weil er gelesen hatte, dass Polizisten beim Auslegen der verdammten Dinger gestorben waren – totgefahren von den Autos, die sie eigentlich hatten anhalten wollen –, und als Harp dann auch noch zugegeben hatte, dass das Dallas PD inzwischen auf solche Sperren verzichtete, war Chris die Entscheidung nicht leichter gefallen.
Aber hier draußen, in dieser weiten Leere, musste man den Flüchtigen im Zweifel bis El Paso oder gar bis nach Mexiko verfolgen, wenn man keine Möglichkeit hatte, ihn zum Anhalten zu zwingen.
Deshalb hatte Harp keine Ruhe gegeben, bis Chris dem Kauf zugestimmt hatte. Bis er klein beigegeben hatte. Das beschrieb ihr Verhältnis eigentlich am besten.
Tatsächlich hatte Chris gleich zwei Nagelsperren für jeden Streifenwagen bestellt, damit seine Leute sie über beide Fahrspuren ziehen konnten. Beim Training auf dem Parkplatz des Präsidiums hatten sich die Deputys relativ geschickt angestellt, aber bis heute hatte keiner sie im Ernstfall einsetzen müssen.
Marker 66
Fast da.
Chris drosselte die Geschwindigkeit und hoffte, dass die Nägel ihren Zweck erfüllen würden … und Harp sich aus der Gefahrenzone gebracht hatte.
Die Reifen des Nissans fraßen sich in den Asphalt, Rollsplitt wirbelte hoch, als der Fahrer hart auf die Bremse stieg, und der Wagen zur Seite ausbrach. Er verlor die Bodenhaftung, wurde vom Wind ergriffen und für eine Schrecksekunde sah es aus, als würde er sich auf dem Highway überschlagen und in einem Haufen aus gestauchtem Blech und zersplittertem Glas enden. Doch dann fing er sich wieder und schoss mit sechzig Sachen geradewegs über die Sperre. Die Stacheln durchlöcherten alle Reifen, und Chris hätte schwören können, unter dem Nissan einen Tanz aus grellen Funken zu sehen – ein Feuerwerk wie am 4. Juli –, als dieser unbeirrt weiterraste.
Um die Sperre zu umgehen, fuhr Chris über den ausgetrockneten Wüstenboden. Harp, der seinen Pick-up am gegenüberliegenden Straßenrand geparkt hatte, war nicht einmal hinter dem Wagen in Deckung gegangen, als der Nissan angedonnert kam und Gefahr bestand, dass der Fahrer beim Auftreffen auf die Sperre die Kontrolle über das Fahrzeug verlor und frontal in ihn hineinraste. Stattdessen hatte Harp sich ein paar Meter weiter hingehockt und mit seinem Colt AR-15 auf die Windschutzscheibe des Nissan gezielt. Als das Fahrzeug nun an ihm vorbeizog, stand er auf und schaute ihm kurz nach, bevor er zu seinem Auto rannte, hineinsprang und parallel zu Chris aufschloss.
Der Nissan war mittlerweile mitten auf der Straße zum Stehen gekommen, die Schnauze schräg zur Fahrbahn, mit gut sichtbarer, aber noch geschlossener Fahrertür. Sie näherten sich im Schritttempo. Qualm hüllte den Wagen ein, die getönten Scheiben waren völlig verdreckt. Das Auto wirkte müde, erschöpft, der Lack an seiner linken Flanke war von einem langen Kratzer verunstaltet, wo ihn eine von Dales Kugeln getroffen hatte.
Chris schnappte sich seine Browning A5, stieg aus und ging hinter seiner Motorhaube in Deckung, während Harp auf der anderen Straßenseite dasselbe tat. Chris hörte, dass Amé hinter ihnen abbremste, da er den Nissan aber nicht aus den Augen ließ, spürte er nur, dass sie sich neben ihn stellte.
Sie atmete heftig und stützte die Hand mit dem Colt 1911 auf der Motorhaube ab.
»So ein mieses Arschloch«, sagte sie. »Pendejo.«
»Allerdings.« Nun schaute er doch kurz zu ihr hin; die Haare fielen ihr ins Gesicht, sie kniff die dunklen Augen zusammen und versuchte, irgendetwas hinter den getönten Scheiben des Nissan zu erkennen. In diesem Moment bereute Chris es zum ersten Mal, dass er Amé zum Deputy Sheriff des Big Bend County ernannt hatte. Nicht, weil sie ihren Job nicht gut gemacht hätte – sie hatte schon oft bewiesen, wie hervorragend sie sich dafür eignete, und war tougher als die meisten ihrer männlichen Kollegen –, sondern weil er sie keiner Gefahr aussetzen wollte.
In seinen zwei Jahren als Sheriff war keinem seiner Deputys im Job etwas zugestoßen. Das Leben in seinem Revier erinnerte an eine Schönwetterfront mit milden Temperaturen, an einen Wüstenregen. Doch so angenehm es auch war – nichts währte ewig.
Und er würde nicht zulassen, dass es gleich zwei seiner Leute an einem Tag traf.
»Sheriff, die Zeit rennt uns davon«, rief Harp ihm über die Straße zu.
Sein Chief Deputy machte mal wieder Druck. Harp beschwerte sich ständig, Chris wäre zu langsam, zu abwägend, zu unentschlossen … wie bei ihren endlosen Diskussionen, ob sie die Nagelsperren anschaffen sollten oder nicht. Obwohl Chris sich meistens gegen ihn durchsetzte, konnte der Ältere sich seine Sticheleien oft nicht verkneifen: Agieren statt reagieren, darauf kommt es an, Sheriff … man kann nichts zu Ende bringen, was man nie begonnen hat. Diese Art Belehrungen ließ Harp oft und ungefragt vom Stapel, und Amé Reynosa hatte schon viel zu viele davon verinnerlicht.
Chris wusste, was seine Deputys von der Strategie gehalten hätten, die ihm als Erstes in den Sinn kam: im sicheren Bereich hinter den Fahrzeugen so lange warten, bis das Arschloch im Nissan aufgab.
Einfach hoffen, dass der andere irgendwann die Geduld verlor und ausstieg – und wenn sie den ganzen Nachmittag warten mussten.
Das wäre wirklich verdammt unentschlossen.
Doch zu Harps Belehrungen gehörte auch der Spruch: Chris, Hoffnung ist keine Strategie …
Sheriff, die Zeit rennt uns davon.
Verdammte Scheiße.
Chris atmete tief durch und schaute kurz zu Amé. »Ich fordere ihn jetzt auf, auszusteigen. Wenn wir Glück haben, ist er allein und sogar verletzt. Ich sage ihm, er soll rückwärts auf uns zukommen. Wenn ich ihn dann auffordere, auf die Knie zu gehen, läufst du zu ihm hin, drückst ihn mit dem Gesicht auf den Boden und legst ihm Handschellen an. Ich behalte das Auto im Blick, falls da noch einer drinsitzt. Es steht genau in meiner Schusslinie, deshalb gibt Harp dir Rückendeckung. Sollte der Scheißtyp auch nur zucken und irgendwas aus der Tasche ziehen wollen, dann wird Harp schießen. Verstanden?«
Amé nickte, löste bereits die Handschellen von ihrem Gürtel und machte einen Schritt zum Heck des Pick-ups, wo sie ungeschützt wäre. Nicht lange zwar, aber doch ausreichend, falls der andere eine Waffe auf sie gerichtet hatte.
Chris legte ihr eine Hand auf die Schulter. »Du bist wütend, das sind wir alle. Aber du darfst das nicht so an dich heranlassen. Halte dich genau an die Vorschriften. Warte, bis er auf den Knien ist.« Er ließ sie los. »Okay?«
Sie lächelte finster. »Bueno.«
Er gab Harp ein Zeichen. »Ich fordere den Fahrer auf, auszusteigen und rückwärts auf uns zuzukommen. Amé führt aus, du gibst ihr Deckung.« Harp, der den Nissan nicht aus den Augen ließ, nickte.
Am liebsten hätte Chris sich den Fahrer selbst vorgenommen, aber er wusste nicht, ob auf sein kaputtes Knie Verlass war. Nach einer Sportverletzung hatte er sich bei der Schießerei auf der Far Six erneut am Knie verletzt, und sein Bein hatte sich nie vollständig davon erholt. Du hast dich nicht vollständig davon erholt. Er schob den bitteren Gedanken beiseite. Zum Glück hatte Harp fast dreißig Jahre beim Midland PD gearbeitet, einen Großteil davon bei der taktischen Spezialeinheit SWAT. Und obwohl Harp mit Amé fast jede freie Stunde am Schießstand in der Nähe der Chapel Mesa trainierte und sie inzwischen für eine hervorragende Schützin hielt, gab es niemanden, dem Chris einen gezielten Schuss mehr zutraute als seinem Chief Deputy. Er war aus seinem Team der Einzige, der mehr Menschen getötet hatte als Chris. Und deshalb blieb ihm keine andere Wahl, als Amé in den direkten Kontakt mit dem Fahrer zu schicken, sofern dieser denn überhaupt ausstieg.
Chris atmete einmal tief durch, machte sich innerlich bereit. Über den gekürzten Lauf seiner A5 beobachtete er den Nissan. Nichts rührte sich darin, der Fahrer wartete weiter ab.
Wartete darauf, dass er etwas tat. Wie seine beiden Deputys.
»Lassen Sie das Fenster runter und werfen Sie den Schlüssel raus. Dann strecken Sie die linke Hand aus dem Fenster und öffnen die Tür.« Seine laute Stimme überraschte ihn selbst.
Doch nichts geschah.
»Lassen Sie das Fenster runter und werfen Sie den Schlüssel raus.« Sonst … was? Chris wollte Harp und Amé nicht zum Auto schicken, um den Fahrer mit Gewalt herauszuholen. Der Weg dahin war zu weit, und hier draußen gab es keine Deckung. Und von ihrer jetzigen Position aus das Feuer zu eröffnen wäre sinnlos. Und selbst wenn er dem Fahrer drohte, den Nissan mit Blei vollzupumpen, würde der ihm das abkaufen? Würde er selbst überhaupt glaubwürdig klingen können? Vielleicht erfüllte sich sein Wunsch, und sie standen den ganzen Nachmittag hier wie alte Westernhelden beim Duell, für immer im High Noon gefangen, ohne dass einer zuerst zog.
Verdammte Scheiße.
Schweißtropfen sammelten sich in seinen Augen. Keine seiner Optionen war gut, jede auf ihre Art beschissen. Sein Hemd klebte wie eine zweite Haut an ihm – die hochstehende weiße Sonne brannte erbarmungslos auf alles nieder. Seit Tagen war es höllisch heiß, und keine Abkühlung in Sicht. Die Blätter der Kreosotbü sche ringsherum waren braun verbrannt, skelettartig, spröde, kurz davor, zu Staub zu zerfallen. Abgesehen von den Agaven, die von elfenbeinfarbenen Blüten gekrönt wie Soldaten zu den entfernten Bergen zu marschieren schienen, wirkte die Welt hier draußen vollkommen leblos. Als würde ein heißer Atemzug reichen, um alles in Brand zu setzen.
Die Luft über dem Nissan schlug Wellen, reflektierte die Hitze des Motors zum Himmel, wo sie sich verlor.
Amé machte einen Schritt nach vorn und hatte den sicheren Bereich hinter seinem Fahrzeug verlassen; sie war zu weit weg, als dass er sie noch hätte zurückhalten können. Sie hatte Harps Lektionen tatsächlich schon zu sehr verinnerlicht.
»Lassen Sie …«, begann er mit mehr Nachdruck, aber bevor er den Satz beenden konnte, glitt das Fenster auf der Fahrerseite herunter.
Chris visierte mit seiner A5 einen Punkt in der dunklen Kabine an.
Erst jetzt fiel ihm auf, dass der Motor nicht mehr lief.
Die Sekunden zogen sich hin, alle hielten den Atem an.
Dann fiel ein Schlüssel aus dem geöffneten Fenster und landete scheppernd auf dem Asphalt.
Im nächsten Moment schob sich ein Arm aus dem Fenster, eine Hand langte nach dem Türgriff und öffnete die Tür.