Georgina

Kapitel 1
© Christoph Kretschmer / Adobe Stock

Police Officer Georgina Reed tötete einen Mann. Besser gesagt, einen Jungen. Im Keller eines Polizeireviers erzählte sie mir ihre Geschichte. Weil sie im Grunde keine Ahnung hatte, wer ich war oder warum sie sich mir erklären musste, log sie. Sie hatte Angst. Ihre Zukunft hatte gerade im Bruchteil einer Sekunde eine radikale Wendung genommen – die Zeit, die ein Neun-Millimeter-Hohlspitzgeschoss braucht, um an einer Brooklyner Straßenecke sein Ziel zu finden –, und sie versuchte sich damit zu retten, die Geschichte halbwegs plausibel klingen zu lassen.

Immer noch in Bushwick, stand ich jetzt an einer Ampel und bemerkte erst, dass sie auf Grün geschaltet hatte, als hinter mir die erste, dann die zweite und die dritte Hupe ertönte. Das Hupen klang wütend, aber hinter den geschlossenen Scheiben meines Autos gleichzeitig wie aus großer Ferne, auch weil ich mit meinen Gedanken noch im Keller des 83. Polizeireviers war, wo Georgina Reed – viel zu jung dafür, kaum ein Cop – auf einem Metallklappstuhl saß und mir ihre Geschichte erzählte. Natürlich log sie, und als ich dann die Wahrheit kannte, war es mir egal, und ich wollte nur noch schlafen. An diesem Abend jedoch, vor der Ampel, da wollte ich es wissen. Ich wollte wissen, was an dieser Straßenecke passiert war, weil es mein Job war, die Wahrheit herauszufinden und nötigenfalls zu verschleiern.
Auf der Fahrbahn neben mir floss der Verkehr in die entgegengesetzte Richtung, und ich sah verschwommene Lichter im Augenwinkel und hörte das Hupen. Im Rückspiegel konnte ich nichts erkennen. Der Regen auf der Heckscheibe brach das Licht der Scheinwerfer und Rücklichter in Hunderte rot und weiß glitzernde Scherben. Als ich das Fenster hinunterließ, klangen die Geräusche näher, aber immer noch gedämpft. Ich winkte die Autos an mir vorbei, und dann war ich wieder allein in der Stille.
Hier war es passiert, an der Ecke Broadway und Putnam. Vielleicht der Schauplatz eines Verbrechens. Darüber zu entscheiden, ist nicht meine Aufgabe. Ich gehöre nicht zu denen, die Schuld zuweisen. Wer weiß, sagte ich mir, vielleicht ist es ja genau so passiert, wie sie gesagt hat – dass sie den Jungen stoppen musste, dass sie keine Wahl hatte, aber ich zweifelte daran. Wenn man mich fragte, drückte Georgina Reed zu schnell ab. Außerdem stimmte an ihrer Geschichte irgendwas nicht. Reed wollte unbedingt, dass ich ihr glaubte, und nichts verrät eine Lüge mehr als das Bemühen, sie glaubwürdig erscheinen zu lassen. Ich stand also an der Ecke Putnam Avenue und Broadway, nachdem ich Georgina Reed im Keller des Polizeireviers ein paar Querstraßen weiter nördlich zurückgelassen hatte, sie gesagt hatte, was sie sagen wollte, und mir mit ihren kurzen kalten Fingern die Hand geschüttelt hatte, während in ihren feucht schimmernden dunklen Augen die Hoffnung lag, dass ich ihr helfen könnte, wenn ich ihr nur glauben würde.
Als ich aus dem Revier hinaus in den Regen trat, war es schon nach Mitternacht. Ich hätte gleich nach Hause fahren sollen. Wobei mein Zuhause eher einem Hotel glich und aus zwei Zimmern in einem Apartmentgebäude bestand. Ich verließ das 83., stieg in mein Auto und ließ den Motor an, dann überlegte ich, was ich tun sollte. Möglichkeiten gab es genug. Ich hätte Garrity anrufen und ihn mit der Nachricht um den Schlaf bringen können. Ich hätte zu Kat fahren können. Vielleicht war sie noch wach, dachte ich, und wenn nicht, würde es ihr nichts ausmachen. Sie würde sich im Bett aufsetzen und mich im Arm halten und nach Schlaf riechen. Oder ich hätte in eine ruhige Bar gehen und so tun können, als würde ich das Ganze in Alkohol ertränken, und hätte damit eine
halbwegs passable Imitation meines früheren Ichs auf einem x-beliebigen Barhocker geliefert.
Stattdessen endete ich hier, wo was auch immer passiert war. Ich wollte es wissen. Dass ich einmal die Wahrheit wissen wollte, kommt mir mittlerweile fast komisch vor. Selbst in dieser Nacht war mir klar, dass ich an der Straßenecke keine Antworten finden würde, und doch bin ich hingefahren. Ich nahm die vertrauten Straßen Bushwicks vom 83. hierher und dachte über Georginas Geschichte nach und welchen Reim man sich darauf machen konnte. Darüber dachte ich nach, als ich vor der grünen Ampel an der Ecke stand, wo es passiert war. Ich parkte in zweiter Reihe und stellte den Motor aus. Die Scheibenwischer verwischten den Blick, machten ihn wieder klar, verwischten ihn, immer abwechselnd. Wie ihre Geschichte.
Police Officer Georgina Reed tischte mir die plausibelste Lüge auf, die man sich ausdenken konnte. Sie sei auf Streife gewesen, sagte sie zwischen zwei genau bemessenen Atemzügen, die Tour von acht bis Mitternacht, in Uniform, in einem Streifenwagen, zusammen mit Police Officer Gordon Holtz, ihrem üblichen Partner. Holtz kannte ich noch aus der Zeit, als ich in derselben Einheit Dienst geschoben hatte. Reed kannte ich nicht. Sie kam zwar nicht frisch von der Polizeischule, aber neu war sie trotzdem. Alles an ihr war neu: ihr schwarzer Gürtel, ihr Holster, das schwarz glänzte und noch nicht zerkratzt war vom vielen Ein- und Aussteigen in den Streifenwagen, vom Treppensteigen in unbeleuchteten Sozialwohnungsbauten. Auch der Polyesterstoff ihrer marineblauen Uniform war noch neu, er hatte noch die fabrikneuen Bügelfalten und saß eng über ihrer Schutzweste und ihrer fülligen, aber nicht unförmigen Figur. Unter der Weste und der Uniform und allem, was sie darunter tragen mochte, roch sie bestimmt nach Angst und parfümiertem Deodorant.
Acht Stunden später am hellen Morgen fragte Kat mich über Georgina Reed aus. Mittlerweile war die Nachricht schon im Fernsehen gekommen, aber nur ein Dreißigsekünder, mit dem die Zeit bis zum nächsten Werbeblock überbrückt wurde. Noch war die Stimmung nicht aufgeheizt. Noch gab es keine Schilder, keine Demonstrationen, keine umgekippten und brennenden Streifenwagen, keine spontanen Anschläge, keine Scheiterhaufen, keine Mikrowellenöfen, die durch eingeschlagene Schaufenster aus den Billigelektromärkten in der Atlantic Avenue geschleppt wurden. Das würde später kommen. Noch war Georgina Reed nur interessant, weil sie eine Georgina und kein George war, und der Aufmacher »Tödlicher Schuss einer Polizistin in Brooklyn gestern Abend« lautete. Später würden sie ihr Dienstfoto zeigen, Georgina vor einem grünen Hintergrund, das Gesicht bleich im Blitzlicht. Auf diesem Foto hätte sie alles sein können, sogar Polizistin. »Wie sieht sie aus?«, fragte Kat und meinte damit: Ist sie eine Schwarze oder eine Weiße? Amerikaner können selbst dann nicht über Rasse reden, wenn sie über Rasse reden.
»Aussehen?«, fragte ich.
»Na, du weißt schon – ist sie hübsch?«, antwortete Kat, weil sie vor der eigentlichen Frage immer noch zurückscheute.
Ist Georgina Reed hübsch? Es war mir nicht aufgefallen, daher war sie es nicht, nein, zumindest nicht unter den grellen Neonröhren in dem Keller, als sie möglichst präzise zu erklären versuchte, wie sie einen Jungen getötet, aber nicht ermordet hatte. In einer anderen Umgebung war Georgina womöglich hübsch, keine Ahnung. Ich hörte ihr nur zu. Wenn ich arbeite, registriere ich solche Dinge nicht, da bin ich ungerührt wie ein Pfarrer, der die Beichte abnimmt. Mit Autorität lässt sich alles maskieren. Dahinter kann man sich gut verstecken.
Gut, Georgina Reed war vermutlich schwarz, zumindest schwarz genug, um nicht weiß zu sein. Sie hatte die Farbe von Kaffee mit zwei Schuss Milch. Die dunklen Haare trug sie streng zurückgesteckt, ihre Nase war gebogen und schmal wie die eines Habichts.
Als ich es später genauer wissen wollte, besorgte ich mir aus dem Büro des Captains ihre Personalakte, eine sehr dünne Personalakte. Daraus erfuhr ich, dass sie dreiundzwanzig Jahre alt war, Ex-Navy, in Pennsylvania geboren, ein Meter dreiundsechzig groß, neunundsechzig Kilo schwer. Georgina Reed hatte bei »afroamerikanisch« ein Kreuzchen gemacht, nicht bei »weiß« oder bei »Latino« und auch nicht bei »Sonstiges«. Das alles war jedoch egal, als wir uns auf den beiden Klappstühlen im Keller des 83. mit gespreizten Beinen und aufgestützten Ellbogen gegenübersaßen, einer das Spiegelbild des anderen. Sie berichtete von dem Ereignis, als befände sie sich im Zeugenstand, sah mir treuherzig in die Augen, um zu beweisen, dass sie die Wahrheit und nichts als die Wahrheit sagte, legte gelegentlich eine Pause ein, um die Wirkung ihrer Worte zu überprüfen, um auf Widerspruch zu warten oder die Aufforderung fortzufahren.
»Fahren Sie fort«, sagte ich.
»Wir waren im Streifenwagen, Donny – Police Officer Holtz – und ich.«
»Wann kam der Funkspruch?«
»So gegen halb sieben – äh, Moment«, erwiderte sie und beugte sich leicht zur Seite, um ein neu aussehendes ledergebundenes Notizbuch aus ihrer rechten Gesäßtasche zu ziehen. Ihr Oberschenkel war halb so lang wie meiner, dachte ich. Als ich in den Keller kam, wartete sie schon auf mich. Sie saß auf dem Stuhl und stand auch nicht auf, als ich ihr sagte, ich sei ihr Gewerkschaftsvertreter. Es war ihr zwar klar, dass ich auf ihrer Seite stand, aber für die Kavallerie hielt sie mich nicht. Ich hatte sie angewiesen, vor mir mit niemandem zu sprechen, daher hatte sie bis zu meinem Eintreffen eine Stunde allein in dem Keller gesessen. In einer solchen Situation eine Stunde allein zu sein, ist verdammt lang, und so empfing sie mich mit erleichtertem Blick, ob ich nun die Kavallerie war oder nicht.
»Hier steht es, 1837«, fuhr sie fort und wählte dafür die militärische Zeit, Copsprache, da sie mich trotz allem als Angehörigen des-selben Rudels anerkannte. »Der Funkspruch kam aus der Zentrale, ein 10-30, Raubüberfall auf einen kleinen Lebensmittelladen an der Ecke Broadway Gates. Nach der Beschreibung zwei männliche Schwarze, um die zwanzig, einer sehr dick, der andere hellhäutig und klein.«
»Kann ich mal sehen?«, fragte ich und beugte mich zu ihrem Notizbuch, das sie mit dem Gesicht nach unten auf dem Knie hielt. Sie erstarrte, als ich die Hand ausstreckte, und hätte das Notizbuch beinahe weggezogen, nur um im selben Moment in gehorsamem Ton »Klar« zu sagen. Sie war gespalten, sie wollte mitteilen, was sie verbergen wollte. Die Schrift auf der linierten Seite glich der eines Liebesbriefs von einer Highschoolschülerin, mädchenhafte Kringel und Schnörkel, völlig anders als das unleserliche Gekritzel in dem Buch, das ich geführt hatte, als ich die gleiche Uniform trug und in denselben Straßen wie Georgina Reed Streife fuhr. Wort für Wort las ich, was sie gerade gesagt hatte, das heißt, sie sorgte sich nicht darum, was ich in lila Tinte geschrieben sehen könnte, sondern um etwas anderes, nicht Niedergeschriebenes. Ich gab ihr das Buch zurück. Unsere Finger berührten sich, und dieser kurze Kontakt schien sie ein wenig zu entspannen. Sie ließ die Schultern sinken.
»Dann reden wir mal über die Waffe«, sagte ich. Sie wollte schon fragen »Wessen?«, fragte aber stattdessen »Wann?«. »Laut Funkspruch war es ein Raubüberfall, oder? Bewaffneter Raubüberfall?«
»Nur Raubüberfall, ein 10-30. So wie es da steht.«
»Ja, das sehe ich«, sagte ich beinahe freundlich. »Was ich wissen will, ist, ob auch von einer Waffe die Rede war. Sie verstehen die Bedeutung meiner Frage, oder? Wenn die Zentrale von einer Waffe gesprochen hat, hätten Sie mit einer Waffe gerechnet, als Sie die Verdächtigen gestellt haben.«
»Ich glaube, die Zentrale hat nur von einem Raubüberfall gesprochen.« Ich nickte. Dann fragte sie: »Soll ich das aufschreiben? Wäre es besser, wenn ich schreibe, dass –?«
Herrje, hatte sie Angst. Langsam dämmerte es ihr, dämmerte ihr, welches Ausmaß das Ganze hatte. Bald wäre sie zu nichts mehr zu gebrauchen, aber im Moment konnte sie noch denken, und das sollte auch so bleiben, bis sie alles gesagt hatte, was zu sagen war, oder wenigstens alles, wozu sie imstande war.
»In der Zentrale werden alle Funksprüche aufgezeichnet, Officer«, sagte ich, »daher bringt es nichts, wenn Sie was anderes aufschreiben, oder?«
»Was soll ich denn –«
»Sagen Sie mir einfach, was daraufhin passiert ist. Sie haben den Funkspruch erhalten. Was ist daraufhin passiert? Haben Sie und Holtz sich auf die Suche nach den Tätern gemacht?«
»Nein, sie waren direkt vor unserer Nase. Wir haben zufällig genau an der Ecke gestanden, als der Funkspruch reinkam, und Donny hat gesagt, da sind sie ja, oder so. Er hat sogar gelacht. Weil es so schräg war. Weil sie direkt vor unserer Nase waren. Der Dicke – das, äh, Opfer. Und der Kleinere. Und in dem Moment, in dem wir sie gesehen haben, haben sie uns gesehen und sind stehen geblieben. Sie sind stehen geblieben, haben was gesagt, und dann sind sie direkt auf uns zu.«
»Wo genau standen Sie?«
»Broadway und Putnam, die nordöstliche Ecke. Und sie sind auf der Putnam Richtung Süden gelaufen. Ich bin raus, Donny ist im Auto geblieben.«
»Haben Sie Unterstützung angefordert?«
»Nein, ich –«
Unvermittelt musste ich niesen, und sie zuckte zusammen und legte erschrocken eine Hand auf die Brust. Sie trug einen dicken Ring und mindestens zwei Zentimeter lange Kunstnägel. »Entschuldigen Sie«, sagte ich. »Blöde Erkältung.« Neben meinen Füßen entdeckte ich eine Papierserviette auf dem Betonboden und schnäuzte mich. »Fahren Sie fort«, und sie riss sich zusammen und redete weiter. Ihre Stimme klang auf einmal anders, und ich schätzte, dass mir noch zehn Minuten blieben, bis sie zu nichts mehr zu gebrauchen war.
»Also, wie gesagt. Wir wussten, dass sie es sind, da war dieser fette Typ, das Opfer. Ein Riesenbrocken. Als wäre er fettsüchtig.«
»Ja, er war fett.«
»Wussten Sie das schon?«, fragte sie überrascht.
Wir beide warteten, dass der andere etwas sagte, dann fragte ich sie: »Er ist tot. Das wissen Sie, oder?«
»O Gott –« Sie legte den Kopf in den Nacken.