Anstoß

© Christoph Kretschmer / Adobe Stock

»Sterbe ich?«
Was macht man da? Lügen, dass sich die Balken biegen, und filmreif sagen: »Nee, is bloß ’n Kratzer«? Oder die Hand umklammern und sagen: »Ich lass dich nicht gehen, Bro«?
Chief Inspector Roberts war Profi, unter anderem auch Profi-Lügner. Das lernte man nicht auf der Polizeischule. Nein, das brachten Beförderungen mit sich. Er spielte im Kopf die möglichen Antworten durch. Und sagte: »Du stirbst.«
Um drei Uhr morgens hatte er einen Anruf bekommen. Die Stunde des Todes. Er war widerwillig aufgewacht und hatte gebrummt: »Wehe, wenn das jetzt nichts Ernstes ist.« Hörte: »James!«
Niemand sprach ihn beim Vornamen an, nicht mal seine Frau. Er sagte: »Tony … gute Güte … wo bist du? Weißt du, wie spät es ist?« Vernahm ein trauriges Lachen.
Dann: »Ich hab nicht angerufen, um nach der Zeit zu fragen. Ich bin verletzt … ziemlich schlimm verletzt.«
Er klang verletzt, lallte angestrengt. Roberts schrieb sich schließlich eine Adresse auf, sagte: »Rühr dich nicht vom Fleck, ich bin auf dem Weg.«
Wieder das traurige Lachen. »Keine Sorge, ich bleib hier.« Roberts zog sich in Windeseile an. Seine Frau schlief im Zimmer nebenan. Tja.
»Verdammte Scheiße«, sagte Roberts laut. »Gott, ich habe mich lange nicht gemeldet … das weiß ich … aber vielleicht wäre jetzt eine gute Gelegenheit.«
Sein Sergeant, ein zweifelhaftes Katholikenexemplar, hatte ihm beigebracht, dass Religion ein Tauschhandel war: Du tust was für Gott, er tut was für dich. Wie bei den Freimaurern.
Er überlegte, was er anzubieten hatte, und sagte: »Ich werde … ähm … gute Taten tun.« Hatte keinen Schimmer, was das heißen sollte. Vielleicht öfter mal The Big Issue kaufen und aufs Wechselgeld verzichten.
Ja, das war ein Anfang. Er wartete, drehte wieder den Zündschlüssel um.
Nüscht
Nada
Nix
Er schaute kurz nach oben, sagte:
»So in etwa hab ich mir das vorgestellt.«
Eine Taxifahrt später kam er in Stockwell an, wo die Pitbulls im Doppelpack rumlaufen. Ludlow Road liegt nur einen Knüppelwurf entfernt von der U-Bahn. Um diese Nachtzeit waren die Straßen übersät mit
den Untoten,
den Verlorenen und
den Erfrorenen.
Das Haus war ein Kaninchenbau aus möblierten Zimmern. Kein Schloss an der Haustür. Im Flur lag ein Säufer, hob den Kopf, schnaufte: »Ist heute Dienstag?«
»Nein.«
»Sind Se sicher?«
Roberts bezweifelte, dass der Kerl überhaupt wusste, welches Jahr war, aber hey … warum diskutieren? Er sagte: »Heute ist Donnerstag … okay?«
»Ah, gut. Dienstags spiele ich Golf.«
Na klar.
Die Tür von Wohnung sechs war sauberer als die meisten und stand einen Spaltbreit offen. Roberts trat langsam ein. Ein Ort der Verwüstung. Alles war kaputt, die Kissen aufgeschlitzt, der Fernseher demoliert, Stühle und Geschirr zertrümmert, und sein verprügelter Bruder lag im Bad. Ein Brei aus Blut und Schrammen. Roberts sah den Beinen an, dass sie geknickt waren. Tony öffnete die Augen, na ja, öffnete eins halb. Das andere war zermatscht worden. Anscheinend mit einem Hammer.
Er sagte: »James, kann ich dir was anbieten?«
Und Roberts versuchte, nicht zu lächeln, bückte sich, sagte:
»Ich hab den Krankenwagen gerufen.«
Sein Bruder schien kurz das Bewusstsein zu verlieren, sagte dann: »Oh, gut, kommt er am Wochenende?«
Eine Südostlondoner Wahrheit. Wer an einem Wochentag den Notarzt rief, rechnete nicht vor Samstag mit ihm. Roberts wusste nicht, was er tun sollte, sagte: »Ich weiß nicht, was ich tun soll.«
Dann fragte Tony, ob er sterben würde. Roberts versuchte, den Kopf seines Bruders zu halten, überall war Blut, fragte: »Wer hat das getan, Tone?«
»Tommy Logan.«
Bevor er nachhaken konnte, krampfte sein Bruder, ließ den Kopf fallen und starb. Als die Sanitäter und die Tatortjungs eintrafen, führten sie Roberts in das verwüstete Wohnzimmer. Der leitende Officer sagte: »Tut mir leid, Guv, aber ich muss Ihnen ein paar Fragen stellen, Sie verstehen schon.«
»Ja.«
»Hat er irgendwas gesagt?«
»Nein.«
Der Officer versuchte es mit Samthandschuhen, fragte: »Er hat Sie angerufen?«
»Ja.«
»Aber hat keinen Hinweis darauf gegeben, was sich hier zugetragen hat?«
»Er sagte, er ist verletzt, und ob ich kommen könnte.«
»Und?«
»Ich bin gekommen.«
»Okay … war er … äh … bei Bewusstsein … als Sie ankamen?«
»Nein.«
Der Officer sah sich um, sagte: »Verstehe.« Was nicht stimmte. Er wechselte die Taktik, fragte: »Standen Sie sich nah, Guv?«
»Nah?«
»Hatten Sie regelmäßigen Kontakt?«
Roberts konzentrierte sich, sagte dann: »Ich hab zuletzt vor zehn Jahren mit ihm gesprochen … vielleicht elf.«
»Ah, dann also nicht?«
Roberts sah den Officer direkt an, sagte: »Kein Wunder, dass Sie Detective sind.«

Living next door to Alice
(Smokie)

WPC Falls stand vor dem Superintendent. Er trank Tee, und das geräuschvoll. Tee lässt sich nur schwer kauen, aber er schien dieses Talent zu besitzen.
Knurps
Knurps
Knurps
Wie ein magersüchtiges Frettchen. Er bekam ihn runter, aber das hieß nicht, dass er ihm schmeckte. Schlimmer noch. Ein Keks, ein Club Milk. Er riss die Verpackung auf, pellte sorgfältig das Stanniolpapier ab, sagte: »Die sind gut geschützt.«
Meinte er die Öffentlichkeit, Kriminelle, Steuerhinterzieher? Also sagte sie nur: »Ja, Sir.« Was so ziemlich die harmloseste Antwort überhaupt war.
WPC Falls war schwarz und schön, oder wie es in der Kantine hieß: »Sie ist schön schwarz.« Spar dir die Widerworte. Vor Kurzem hatte sie sowohl privat wie auch beruflich eine spektakuläre Bauchlandung hingelegt. Sie war schwanger gewesen und hatte sich im Alleingang einen Brandstifter greifen wollen. War fast getötet worden, hatte das Baby und beinah den Job verloren.
DS Brant hatte sie gezwungen, mit ihm zusammen einen Auftragsmörder zu verhaften. Das hatte ihr den Job gerettet und ihr Selbstbewusstsein einigermaßen wiederhergestellt. Nicht vollständig, aber die Richtung stimmte. Danach hatte er gesagt: »Weißte was, Falls, du siehst langsam fies aus.«
»Was?«
»Ja, du hast so ’ne Bosheit im Blick.«
Sie konnte nicht widerstehen, sagte: »Wie Sie, Sergeant?«
Er lachte, erwiderte: »Siehst du, was ich meine? Ja … wie ich, und wenn du clever bist, feilst du dran.«
Überrascht fragte sie: »Geht das wieder weg?«
»Scheiße, nein, du wirst immer fieser.«
Der Super legte den Keks beiseite, sagte: »Aufgeschoben ist nicht aufgehoben.«
Ein Gedankenwirbel in Falls’ Kopf – Gott sei Dank frisst er den Keks nicht. Aufgeblasener Wichtigtuer –, alles dicht am Ungehorsam. Sie rief sich zur Ordnung. Chill mal. Inzwischen blätterte der Riesenarsch durch ihre Akte und gab alle paar Seiten Seufzer, Schnalzer, Schnaufer von sich. Schließlich lehnte er sich zurück, sagte: »Ziemlich durchwachsene Karriere bisher.«
»Ja, Sir.«
Er klopfte mit einem Stift gegen seine Vorderzähne, rief aus: »Und so verheißungsvoll, Sie haben Potenzial. Oh ja.«
Falls dachte: Ja, ich bin schwarz und eine Frau.
Er klappte die Akte zu, als wäre ihm gerade eine Idee in den Kopf gekraucht, sagte: »Ich möchte Ihnen eine Chance geben, Falls.«
»Ja, Sir.«
»Bestimmt haben Sie vom Clapham-Vergewaltiger gehört?«
Wie auch nicht? Ein Serientäter, hatte sechs Frauen überfallen, sechs schwarze Frauen. Die Sozis schlugen Krach. Warfen mit »polizeilicher Schlamperei« und Ähnlichem um sich.
Er fuhr fort: »Sie werden in einem möblierten Zimmer in Clapham wohnen und die Pubs, Clubs, all die Orte besuchen, an denen der Typ auf Jagd geht.
«Sie versuchte, sich zu beherrschen, ging nicht, sie sagte: »Als Köder?«