Bobby
In diesem Sommer gehen Bobby Santovasco und sein bester Freund Zeke einmal in der Woche zum Belt Parkway und werfen irgendwelches Zeug auf die Autos, die beim Ceasar’s Bay Shopping Center auf den Bay Parkway abfahren.
Bobby ist gerade vierzehn geworden. Zeke ist dreizehn. Nach der Schule klauen sie öfter mal CDs im Sam Goody oder Zigaretten in Augie’s Deli oder spielen Videospiele im Keller von Zeke. Beide sind in Carissa Caruso aus der Stillwell Avenue verknallt. Beide kommen bald in die achte Klasse der St. Mary Mother of Jesus in der Eighty-Fourth Street. Die Dritte musste Bobby wiederholen, weshalb er älter als seine Klassenkameraden ist. Als Lehrerin kriegen sie dann Mrs. Santillo, die Bobby mal während des Treuegelöbnisses furzen gehört hat. Bobby wohnt mit seinem Vater, seiner Stiefmutter Grace und seiner sechzehnjährigen Stiefschwester Lily in einer kleinen Wohnung eine Querstraße von der St. Mary entfernt in der Eighty-Third Street. Er und Lily reden nicht miteinander, und Grace ist nur irgendwie da. Als er sechs war, ist seine Mutter nach Kalifornien gezogen. Seither hat er nichts mehr von ihr gehört. Zeke wohnt in einem großen Haus in der Twenty-Third Avenue. Sein richtiger Name ist Flavio, aber Bobby hat in der Vierten angefangen, ihn Zeke zu nennen, und der Name ist hängen geblieben. Zekes Vater gehört eine Metzgerei. Er hat vier Schwestern und zwei Hunde. Giovanna, eine seiner Schwestern, sieht aus wie eine Mischung aus Jungfrau Maria und Marisa Tomei. Nachts muss Bobby immer an sie denken.
Hierher kommen sie, weil immer was los ist. Autos, die vom Belt abfahren und an der Ampel stehen bleiben. Das Ceasar’s Bay Shopping Center mit einem Toys »R« Us, einem Kmart und anderen Ketten. Der Markt mit den Ständen wurde letztes Jahr geschlossen. Der Shore Parkway Park. Die Tennisanlage. Gravesend Bay, die vom Coney Island Creek bis zu den Narrows reicht. Der Radweg. Dahinter die Verrazano Bridge. Ganz in der Nähe ist auch der Nellie-Bly-Vergnügungspark, wo sie als Kinder hingegangen sind.
Sie haben klein angefangen mit Schälchen voll Ketchup und Senf aus dem Wendy’s an der gegenüberliegenden Ecke.
Weil es das erste Mal so toll war, machen sie es immer wieder. An dem ersten Tag hatten sie synchron zwei Schälchen auf einen Olds fallen lassen, und das Ketchup und der Senf spritzten über die ganze Windschutzscheibe. Der Fahrer legte eine Vollbremsung hin und ließ sein Auto mitten auf der Straße stehen, dann jagte er ihnen an den Tennisplätzen vorbei bis auf den Bay-Radweg hinterher. Er hatte sie erwischt. Schnurrbart. Ein T-Shirt mit einem Aufdruck von L&B Spumoni Gardens. Gebaut wie einer, der Softball spielt, um eine Entschuldigung fürs Biertrinken zu haben. Er packte sie an den Schultern und brüllte sie eine halbe Ewigkeit an, mindestens zwei, drei Minuten, und dabei flog ihm der Speichel wie Vogelscheiße aus dem Mund. Er sagte, dass er Cop sei und sie Glück hätten, weil er sie nicht aufs Revier schleife. Sie nickten und mussten sich zusammenreißen, nicht loszuprusten. Schließlich pressten sie eine Entschuldigung hervor, und er sagte, dass sie ihr Hirn benutzen sollten. Sie drehten sich um und riefen ihm im Wegrennen zu, er solle sich ins Knie ficken. Schnaubend und mit gesträubten Schnurrbartborsten sah er ihnen nach, dann watschelte er zu seiner soßenversauten Schrottkarre zurück.
Danach versuchten sie es mit wassergefüllten Luftballons, die sie in einem Eimer herschleppten, aber das war zu viel Arbeit, und außerdem hielten die Ballons nichts aus. Einige platzten schon beim Hochheben in ihren Händen.
Als Nächstes hatte Zeke die Idee mit den Tennisbällen. Sie lagen zu Dutzenden im Gras hinter dem Zaun an den Tennisplätzen. Das Schöne an Tennisbällen war, dass man sie schnell und hart werfen konnte. Bobby hatte einen besseren Wurfarm als Zeke, aber darauf kam es eigentlich nicht an. Der Nachteil an den Bällen war der Effekt. Sie prallten einfach vom Autoblech ab und waren sofort vergessen. Es hätte schon Tennisbälle regnen müssen, damit es irgendjemand juckte.
Und so kamen sie auf Steine.
Bevor sie heute zu ihrer Stelle gehen, legen sie bei Wendy’s einen Zwischenstopp ein und holen sich was zu trinken. Sie stehen auf dem Gehsteig und trinken die Limo aus kondenswasserfeuchten Pappbechern. Es ist heiß. Juli-in-der-Stadt-heiß. Vom Asphalt steigt Hitze auf. Bobby kann den Schweiß und das Viertel an sich riechen. Er trägt ein Knicks-Tanktop und eine kurze Turnhose, dazu die Basketballschuhe, die er von seinem Cousin Jonny Boy geerbt hat. Keine Socken. Eine umgedrehte Mets-Kappe auf dem Kopf. Zeke hat kein T-Shirt an. Nur eine Bermudashorts und seine teuren neuen Air Jordans.
»Ein Stein«, sagt Bobby, »würd eine Windschutzscheibe glatt killen.«
»Das wär super«, sagt Zeke.
»Aber dann müssen wir sofort weg. Das ist kein Ketchup.«
»Klar.«
»Hab ich dir schon gesagt, was ich zu Carissa gesagt hab?«
»Was denn?«
»Dass ich mal nachts mit einem Stein ihr Fenster einschmeiße, die Regenrinne hochklettere und in ihr Zimmer einsteige.«
»Und was hat sie dazu gesagt?«
»Sie hat gesagt, wenn ich das mache, sägt mich ihr Vater in der Garage in Stücke.«
»In Stücke sägen? Ach du Scheiße. Aber gut, dann bist du mir nicht mehr im Weg, und ich krieg Carissa.«
»Träum weiter. Die gehört mir.«
»Wart’s ab«, sagt Zeke.
»Okay, du kriegst Carissa, dafür nehm ich Giovanna.«
»Die schaut dich nicht mal mit dem Arsch an. Für die bist du nicht mehr als ein Haufen Hunde-
scheiße, Kleiner. Die ist siebzehn. Du solltest mal den Typen sehen, mit dem sie geht. Serge Rossetti. Muskeln ohne Ende. Er geht auf die Bishop Ford. Spielt Baseball. Der ist garantiert auf Steroiden.«
Sie schlürfen den Rest ihrer Limo. Das Eis ist fast geschmolzen, und Bobbys letzter Schluck ist wässrig. Zekes offenbar auch, weil er ihn ausspuckt. Sie lassen die Becher auf den Gehsteig fallen. Eine Alte, die gerade aus dem Wendy’s kommt, schimpft.
Sie schlängeln sich zwischen den Autos über den Bay Parkway und gehen hinter die Tennisplätze, um das braune Gras nach guten Steinen abzusuchen. Bobby findet einen. Er war erst einmal an einem See, das war mit Jonny Boy in Jersey, aber er weiß, dass sich so ein Stein gut zum Hüpfenlassen eignet. Flach und glatt. Liegt gut in der Hand. Leicht rosa. Zeke findet ein paar kleine Steine. Im Grunde bessere Kiesel. Dann entdeckt Bobby den nahezu perfekten Stein, kugelrund, glatt und schwer, aber nicht zu schwer zum Werfen. Zeke lacht. Nicht schlecht! Er selbst sammelt noch ein paar brauchbare Steine auf, auch einen, der gar kein Stein ist, sondern ein Ziegelbrocken.
Zuerst wirft Zeke, aber er trifft nicht. Er hat auf den Bus einer Kirchengemeinde gezielt, aber der Stein fliegt über das Dach und schlittert gegen den orangen Kegel vor der Schutzplanke, die den Parkway und die Abfahrt trennt.
Dann versucht Bobby es und erwischt mit dem ersten Stein die Beifahrertür eines rostroten Chevy Lumina. Er knallt dagegen. Der Fahrer tritt auf die Bremse und hupt panisch. Sie können ihn sehen. Ein Mann mit Bart, der herumschaut, um rauszukriegen, was sein Auto getroffen haben könnte. Sogar von hier oben ist zu erkennen, dass er schwitzt. Er bemerkt sie nicht. Schließlich fährt er weiter und biegt an der Ampel links auf den Bay Parkway.
Bobby und Zeke kriegen sich vor Lachen nicht mehr ein.
»Wie blöd hat der denn geglotzt«, sagt Zeke und äfft den Mann nach.
Sie werfen noch ein paar Steine, treffen Reifen und Motorhauben und Kofferraumdeckel, schaffen es aber nicht mehr, die Fahrer zu erschrecken, was letztlich ihr Ziel ist. Für den Fall, dass einer aussteigt und ihnen hinterherjagt, haben sie ihre Fluchtroute schon festgelegt. Als der Typ mit dem Schnurrbart sie verfolgte, nahmen sie den langen Weg um den eingezäunten Baseballplatz im Shore Parkway Park. Nur deshalb hatte er sie am Radweg erwischt. Inzwischen haben sie ein Loch im Zaun entdeckt, und weil gerade keiner spielt, können sie einfach quer über den Platz laufen und kommen bei einer der Spielerbänke raus. Die perfekte Abkürzung zum Radweg. Gleich nach der Seventeenth Avenue kennt Bobby eine Fußgängerbrücke über den Belt, die zum Bath Beach Park führt. Von dort können sie nach Hause rennen, gedeckt von dem Chaos aus Autos und Bussen und Leuten mit Einkaufswagen und Gettoblastern auf kaputten Gehsteigen und Kids in Hauseingängen.
»Weißt du, was echt lustig wäre?«, sagt Bobby. »Wenn man direkt in ein offenes Fenster trifft. Den Fahrer erwischt. Dafür kriegt man tausend Punkte.«
»Der Erste, der einen Fahrer erwischt, ist für einen Tag der King.«
»Wie, der King?«
»Na ja, wenn ich einen Fahrer treffe, musst du einen Tag lang machen, was ich dir sage. ›Bobby, klau mir im Augie’s eine Dose Bier.‹ Oder: ›Klau mir drei Pornohefte.‹«
»Abgemacht. Wenn ich gewinne, will ich, dass du in den neuen Chinesen in der Bay Thirty-Fourth gehst und eine Frühlingsrolle oder so was vom Teller von jemand isst. Du gehst einfach zu einem Tisch, schnappst dir was und isst es direkt vor der Nase von dem Gast.«
»So einen Scheiß soll ich machen, wenn du King bist und mir alles befehlen kannst?«
»Na klar. Und dann musst du mir noch eine Kissenhülle voll mit Giovannas BHs und Unterhosen bringen. Genug Schnüffelstoff, bis Mrs. Santillo wieder furzt.«
Zeke hält einen Stein in die Höhe. »Der Nächste landet direkt zwischen deinen Augen.«
Bobby hebt die Hände und grinst. »Was denn? Ich liebe Giovanna eben. Kann ich doch nichts dafür. Weißt du, was ich glaube? Wenn sie sich aufs Klo hockt, drückt sie garantiert keine Hasenköttel raus, sondern herrliches, kaltes italienisches Eis. Schokolade, Zitrone, Wassermelone, was du willst. Tu mir einen Gefallen. Schau mal in der Schüssel nach. Ich hab bestimmt recht.«
Zeke tut so, als würde er Bobby einen Magenschwinger verpassen. »Das glaubst auch nur du. Ich war mal nach ihr aufm Klo. Boah, ich sag’s dir. Da könntest du ein Haus mit abfackeln. Ich so: ›G, was hast du denn gegessen?‹ Sie sieht gut aus, aber wie Parfüm riecht sie nicht.«
»Das glaub ich nicht.«
»Du hast ja null Ahnung. Die schönsten Mädchen scheißen die stinkendsten Haufen.«
Hysterisches Gackern. Jetzt sind sie bereit für die nächste Runde. Bobby mit seinem nahezu perfekten Stein. Der von Zeke ist auch gut, nicht ganz so rund und glatt, aber er hat das richtige Gewicht. Die Steine haben mindestens die Wucht eines Baseballs. Bobby stellt sich vor, wie er mit einem genialen Wurf einen Autofahrer am Arm oder an der Brust trifft und dem vor Schreck die Luft wegbleibt. Wie wenn der Batter voll von einem Fastball erwischt wird. Ein dämlicher Ausdruck in einem dämlichen Gesicht. Tja, so ist das, wenn man sich nicht rechtzeitig wegduckt. Bobby hätte in seinem Little League Team erster Pitcher werden können, wenn er weitergemacht hätte. Aber in der Sechsten hat er aufgehört. Er hatte keine Lust mehr auf Training. Mädchen und Prügeleien nach der Schule und Bier und Zigaretten organisieren waren viel interessanter. Das Team war sowieso grottig. Mit diesen albernen quietschblauen Trikots. Wie die verdammten Kansas City Royals. Wer will schon ein Trikot wie das der Royals? Von der Zweiten bis zur Fünften hat Bobby begeistert gespielt, und er war ein guter zweiter Baseman und Hitter, aber eigentlich wäre er am liebsten Pitcher gewesen. Nur ließ ihr Trainer Gene Grady, der samstags in der Kirche das Abendmahl austeilte, die ganze Zeit seine Söhne Jeff und Matt werfen. Sie waren okay. Bobby hat immer davon geträumt, auf dem Mound zu stehen, am Rand seiner Kappe ein bisschen Vaseline, und mit einem schön geschmierten Slider die Batter einen nach dem anderen auszuschalten. Scheiß auf Baseball, denkt Bobby jetzt. Steine auf Autos werfen ist viel lustiger.
Ein verlotterter kirschroter Toyota Corolla nimmt die Abfahrt. Er fährt langsam, als wäre der Motor zu schwach, und schnauft und hustet vor sich hin. Bobby bemerkt ihn zuerst und gibt Zeke ein Zeichen. Die Fenster des Autos sind offen. Eine Frau sitzt rauchend am Steuer. Eigentlich noch ein Mädchen. Wahrscheinlich letzte Highschoolklasse. Sie singt zum Radio mit und mustert sich immer wieder im Rückspiegel.
Als der Corolla es fast bis zur Ampel geschafft hat, die gerade umschaltet, zielen Bobby und Zeke in einer vollkommen synchronen Bewegung auf das Beifahrerfenster und werfen mit aller Kraft die Steine.
Dann passiert alles ganz schnell. Ein Stein trifft genau ins Ziel. Der andere geht weit daneben. Nur erwischt der Stein, der in das Auto zischt, das Mädchen nicht am Arm oder an der Brust. Er erwischt sie an der Schläfe. Sie zuckt zusammen, die Zigarette fällt ihr aus der Hand, und sie verliert die Kontrolle über das Auto, das auf die gelbe Ampel zufährt.
Bobby und Zeke zögern keine Sekunde. Sie lassen die restlichen Steine fallen, wirbeln herum und rennen über den Baseballplatz zum Radweg.
Sie sehen nicht zurück. Bobby hat keine Angst, dass ihnen jemand folgt, er hat Angst, dass hinter ihnen etwas Schreckliches passiert sein könnte.
Es war doch nur Spaß.
Nicht ernst gemeint.
Sie rasen den Weg entlang, weichen den wenigen geistesabwesenden Fußgängern aus, werden von ein, zwei Arschlochradlern links überholt. Es ist verdammt heiß. Schweiß brennt in Bobbys Augen. Von der Bucht her riecht es. Nach Salz. Algen. Undurchdringlicher Finsternis.
Als sie die Brücke erreichen, laufen sie in den Bath Beach Park und bleiben stehen, um zu Atem zu kommen und aus einem Brunnen zu trinken.
»Hast du gesehen, was passiert ist?«, fragt Zeke.
»Nein, ich bin sofort los.«
»Ich auch. Aber hat uns jemand gesehen?«
»Keine Ahnung.«
»Scheiße«, sagt Zeke. »War’s mein Stein oder deiner?«
Bobby stützt den Kopf in die Hände. Das Mädchen ist bestimmt nicht mehr als drei, vier Jahre älter als sie. Auf so jemand hatten sie es nicht abgesehen. Sie ist keins von diesen Arschlöchern. Eine Fremde. Die raucht. Im Auto singt. An einem ganz normalen Nachmittag. Einem Tag wie jedem anderen. Sie fährt an ihrer Abfahrt runter, vielleicht auf dem Weg nach Hause oder sonst wohin. Dann kommen sie an mit ihrem saublöden Spiel. Mehr war es nicht. Ein Spiel. Das schwört er.
»Keine Ahnung«, sagt Bobby zu Zeke und hat ständig das Mädchen vor Augen. »Ich weiß es nicht.«