Kapitel 3: Sam, 1994
So sehr Sam es auch versuchte, konnte sie nicht aufhören, daran zu denken. Es geschah am selben Tag, an dem ein schwerer Maisturm mehrere Tornados durch Blanchard jagte.
Arrow hatte schon wieder Sams Nine Inch Nails-CD geklaut und sie stampfte hinüber in sein Zimmer und ging, ohne anzuklopfen, hinein, um sie sich wiederzuholen. Arrow versuchte nicht, sich zu bedecken – er stand nackt da, die Unterwäsche in der Hand, wobei die Bräune seines Oberkörpers und der Arme verglichen mit den kreideweißen Beinen und der nackten Mitte fast cartoonartig wirkten. Er starrte sie an, das Gesicht eigenartig heiter, sein Haar vom Schlafen zerzaust, und Sam konnte sich nicht motivieren, sein Zimmer zu verlassen. Ihr Körper versteifte sich, kribbelte, und jede Sonntagspredigt, zu der ihre Mutter sie je geschleppt hatte, gab ihr eine dicke, fette Ohrfeige.
Sie konnte den ganzen Tag an nichts anderes denken, als den Bereich unterhalb von Arrows Taille, und sie wusste, dass er es wusste, als sie beide von der Schule nach Hause fuhren und dabei Blickkontakt vermieden.
Der Regen peitschte auf den Wagen und der Himmel hatte einen unheilvollen Grünstich. Dann wurde der Regen zu einer geschlossenen Wand, durch die Sam nicht fahren konnte, also fuhr sie rechts ran und hielt, um zu warten, bis es vorbei war.
Sie blickte zu Arrow hinüber, der vor dem Beifahrerfenster zurückgewichen war, als würde ihn das vor dem Sturm schützen. Sein Mund war verkniffen vor Angst. Es war seltsam. Wenn sie Menschen sah, die sich wegen etwas Sorgen machten, beruhigte sie das automatisch.
»Warst du schon mal in einem Tornado?«, fragte sie und versuchte, sich von den Gedanken an den Morgen abzulenken. »Magst du deshalb keine Stürme?«
Sie hatte schon zwei Tornados miterlebt, doch die Farm hatte nur einen kleinen Schaden erlitten. Arrow starrte auf das Radio, seine Knie wippelten und stießen fast an das Armaturenbrett.
»Nein, keinen Tornado«, sagte er.
»Aber, du magst keine Stürme?«
»Wer tut das schon?«
Sam kannte eine Reihe verrückter Leute, die aus Spaß Tornados nachjagten, was sie nicht nachvollziehen konnte.
»Manche Menschen mögen sie. Grandma Haylin sagt, Stürme fegen die negative Energie weg.«
Arrows Augen weiteten sich, als hätte sie magische Worte gesprochen. »Das hat meine Mom auch immer gesagt.«
Arrow hatte seine Mutter noch nie zuvor erwähnt und Sam hatte das Thema immer vermieden. Sie wusste nur, dass sie an Krebs gestorben war, als Arrow dreizehn war.
»Vermisst du sie?«
Arrow sah sie an, als hätte sie die blödeste Frage der Welt gestellt.
»Ich meine«, fügte sie eilig hinzu, »wie ist es ohne sie?«
Sam konnte sich nicht vorstellen, keine Mom und keine Grandma Haylin zu haben. Sie hatte nie daran gedacht, dass sie sterben könnten, noch nicht mal nach Grandmas Schlaganfall.
»Wie ist es ohne deinen Dad?«
Sam starrte auf den Regen, der langsam nachließ.
»Es ist anders als bei deiner Mom. Er ist nicht tot. Zumindest glaube ich das nicht.«
»Aber, ist das nicht schlimmer?«, fragte er. »Es nicht zu wissen?«
Sie wusste nicht, wie er es geschafft hatte, ihr die Frage zurückzuspielen.
Ihr Frust machte sich Luft, bevor sie ihn unterdrücken konnte.
»Schlimmer ist es, wenn Fremde in dein Haus einziehen und niemand einen fragt, ob das okay ist.«
Arrow kaute an seiner Unterlippe, und Sams Ärger verpuffte so schnell, wie er gekommen war.
»Mich hat auch niemand gefragt.«
Das erste Mal, seit sie an diesem Morgen in sein Zimmer marschiert war, als er sich gerade angezogen hatte, schaute sie ihm in die Augen. Er fühlte sich tatsächlich genau wie sie. Gefangen in den Entscheidungen anderer Menschen und ohne eine eigene Stimme.
Sie streckte die Hand aus und nahm seine, die warm war und nicht, wie erwartet, feucht vor Nervosität. Die Berührung setzte ihn in Gang. Ein kleines Lächeln umspielte die Winkel seiner vollen Lippen und er erwiderte ihren Händedruck.
»Lass uns nach Hause fahren, bevor unsere Eltern die Krise kriegen.«
Arrow nickte, doch er ließ nur zögernd ihre Hand los.
Der Sturm zog an jenem Abend weiter über die Farm und die Fenster klapperten bei jeder Windböe. Sam hörte das Klopfen an ihrer Tür. Sie rollte sich auf ihrem Bett herum, drehte schnell die Lautstärke der Stereoanlage herunter und wappnete sich für einen Anschiss von ihrer Mutter, dass sie zu laut The Smiths gehört hatte. Ihre Mom hasste alles außer Glen Campbell und Rich Mullins, doch sie beschwerte sich nicht, solange sie es nicht hören musste.
Arrow blieb einen Moment im Türrahmen stehen und der Schatten seiner hochgewachsenen Gestalt ergoss sich über den Boden, bevor er die Tür hinter sich schloss. Als er den Riegel vorlegte, saß Sam sofort senkrecht im Bett, war angespannt und lachte so falsch und hoch wie die Neuntklässlerinnen an ihrer Schule.
»Dein Daddy bringt dich um, wenn er dich wieder hier drinnen erwischt.«
Isaac gefiel es aus irgendeinem Grund nicht, wenn Sam oder Arrow sich im Zimmer des jeweils anderen aufhielten. Er kam Arrow ständig wegen irgendetwas hinterher und manchmal flammte dabei ein Zorn auf, von dem sie hoffte, dass er nie gegen sie gerichtet sein würde.
Arrow lehnte sich mit verschränkten Armen an die Tür. »Er ist in die Stadt gegangen. Sagte, er bräuchte einen Drink, nachdem er deine bescheuerte Ziege heute im Regen gesucht hat. Maddie hat sich wieder verlaufen.«
Maddie war ihre Lieblingsziege auf der Farm und sie war eine richtige Diva. Sam hatte der Mutterziege geholfen, als Maddie bei der Geburt feststeckte, und sie dann aufgezogen. Maddie war das einzige Tier, dem sie keinen Namen eines griechischen Gottes oder einer Göttin gegeben hatte. Sie benannte sie nach ihrer besten Freundin auf der Grundschule, der Freundin, die vor der Junior High nach Colorado gezogen war und versprochen hatte, Sam jeden Sommer zu besuchen. Was sie nie tat.
Bei dem Gedanken, dass Maddie Isaac Ärger bereitet hatte, musste Sam grinsen.