Leseprobe
1997
… Am hinteren Talende steht ein Bauernhof: ein Wohnhaus mit spitzem Dach und drei Nebengebäude, alle in derselben Farbe gestrichen, blau wie der Himmel und der See. Hinter dem Hof ragt eine unbesteigbare Felswand auf, unterhalb liegen intensiv grüne, frisch gemähte Wiesen, durch tiefe Gräben voneinander getrennt. Holzstege überbrücken die Gräben und über einen rollt der Bauer auf einem blauen Traktor. Nördlich des Sees erstreckt sich unwegsame Lava, aber an seinem Südufer wächst niedriger Buschwald und darin steht ein ansehnliches Sommerhaus mit einer großen Veranda. Vor dem Haus parken zwei Autos, ein schwarzer Geländewagen und ein gelber Pkw. Unter dessen geöffneter Motorhaube steckt ein Mann in kurzen Hosen und Sandalen. Vom Sommerhaus führt ein Trampelpfad zum See, einem Bootsschuppen und einem kleinen Anlegesteg.
Ein weißes Ruderboot treibt auf dem See, darin drei Jungen in Shorts, T-Shirts und Rettungswesten. Das Boot liegt über der tiefsten Stelle, einem Abgrund im Seeboden, in der Form wie der Schatten eines großen Wals. Die Jungen stehen im Boot, winken und rufen laut zum Land. Das Boot schwankt, und die Jungen bringen es in ihrer Aufregung fast zum Kentern. Hinter dem Heck des Boots treibt eine vierte Schwimmweste auf dem Wasser.
Der Mann bei den Autos wird auf das Geschrei der Jungen aufmerksam. Er blickt auf, beschattet die Augen mit der Hand und lauscht, dann wirft er den ölgetränkten Lappen weg, schüttelt die Sandalen von den Füßen und läuft barfuß über den kiesbestreuten Parkplatz und den Pfad zum See, er rennt in vollem Tempo über den Steg und springt ohne Zögern ins Wasser. Das Boot ist etwa dreihundert Meter entfernt, und der Mann schwimmt mit nicht nachlassender Geschwindigkeit darauf zu. Die Jungen in dem Boot winken und rufen nicht mehr, sondern sehen reglos zu, wie der Mann auf sie zu schwimmt. Als er noch etwa fünfzig Meter von ihnen entfernt ist, holt er tief Luft und taucht. Die Jungen beugen sich über den Bootsrand, werfen sich abwechselnd Blicke zu und starren in das blauschwarze Wasser. Das Boot schaukelt, die über Kreuz im Bug liegenden Ruder schaben aneinander. Der Mann ist nicht zu sehen, und das Einzige, was man hört, ist das Gluckern des Kielwassers, ein leises Knarren des Boots, Vogelrufe und in der Ferne einen Traktor.
»Glaubt ihr …?«, fragt einer der Jungen. Die anderen antworten mit Schweigen und leeren Blicken. Sie sind zwischen neun und zwölf Jahre alt und starr vor Schreck. Zwei von ihnen sind Brüder und die besten Freunde des Dritten, Sohn des Sommerhausbesitzers und Cousin des Jungen, der über Bord gefallen ist. Der ist zehn und der Sohn des Mannes, der nach ihm taucht, im selben Alter wie der Cousin, der zwischen Hoffnung und Bangen zitternd im Boot hockt.
Auf halber Strecke zwischen Boot und Steg gerät das Wasser in Bewegung, und einen Moment später schießt der Mann an die Oberfläche, seinen ohnmächtigen Sohn im Arm. Der Mann ringt nach Atem, zwinkert das Wasser aus den Augen, sieht sich schnell um, dreht sich dann auf den Rücken und schleppt den Jungen Richtung Ufer ab. Er keucht vor Anstrengung und schwimmt mit aller Kraft so schnell er kann, doch scheint ihm eine Ewigkeit zwischen ihnen und dem Steg zu liegen, der in einer Spiegelung unter der gleißenden Sonne und über dem See zu schweben scheint. Doch bald erfassen die tastenden Finger des verzweifelten Vaters etwas Festes. Am Ende des Stegs befindet sich eine Leiter, und mit dem Jungen bäuchlings auf einem Arm klettert der Mann hinauf. Oben auf dem sonnenwarmen Steg legt er den Jungen auf den Rücken, kniet sich neben ihn und beginnt mit Wiederbelebungsversuchen, Mund-zu-Mund-Beatmung und Herzmassage im Wechsel. Die Jungen im Boot rudern zaudernd zum Ufer, als hätten sie Angst vor dem, was sie da erwartet.
Auf der Terrasse beim Haus schreit eine Frau auf, schlägt dann die Hand vor den Mund und bringt sich so selbst zum Schweigen. Im gleichen Moment zuckt der Junge auf dem Steg, atmet, hustet, krümmt sich in Embryonalstellung und erbricht bräunliches Wasser über die Planken.
»Gott sei Dank!«, sagt der Mann und hilft seinem Sohn, sich aufzurichten. »Sölvi, verstehst du mich?« »Papa?« Der Junge blinzelt. »Ja, ich bin’s, Papa«, antwortet der Mann hastig. »Nicht sprechen! Nur ruhig atmen. Du bist ein unglaublicher Tollpatsch! Was hast du jetzt wieder angestellt, hm?« Vom Haus kommen drei Erwachsene über den Kiesweg angelaufen, ein Mann und zwei Frauen. Der Mann auf dem Steg sitzt mit seinem Sohn auf dem Schoß und wiegt sich vor und zurück wie eine alte Frau, erschöpft, benommen und nass.
»Sie ist so schön.« Sölvis Augen glänzen wie die eines Betrunkenen. Wie in Trance blickt er auf den See und klappert vor Kälte. Seine Haare sind nass und kalt, und im Nacken hat er einen dunklen Fleck.
»Wovon redest du, Junge?«, fragt der Vater und blinzelt. Die Jungen im Boot sind nur noch einige Meter vom Land entfernt, Jammern und Rufe erfüllen die Stille, und der hölzerne Steg erzittert, als Sölvis Onkel, seine Mutter und deren Schwester darüber rennen.
»Das Mädchen im Wasser«, sagt Sölvi so leise, dass seine Worte im Lärm untergehen.
Aus der Tiefe kam ein nacktes Mädchen, blond und schlank. Sie streckte den Arm aus, in ihrer Hand hielt sie etwas Viereckiges, schwarz wie Obsidian und glatt wie ein Spiegel. In ihren großen Augen lag ein dunkler Schatten. Und in seinem Magen liegt eben falls etwas Dunkles. Eine Dunkelheit, die sich frisch darin festgesetzt hat. Etwas Finsteres, vor dem er die nächsten Jahrzehnte davonlaufen wird. Eine Düsternis, die in Furcht und Schweigen gedeiht und die ihn eines Tages wieder an sich ziehen wird …