Leseprobe
Plötzlich bremste das Auto. Die Straße, die sich vor ihnen aus der Dunkelheit wand, stoppte wie ein angehaltener Film. Die Scheinwerfer erfassten einen Lastwagen, der auf der schmalen Straße quer stand. Daneben ein neu aussehender Mercedes, halb in den Straßengraben gerutscht. Das Erkennen traf sie wie ein Schlag in den Magen. Es war Jacks Auto, doch von ihm war nichts zu sehen. Nur ein Polizist stand mitten auf der Fahrbahn und schwenkte eine rote Leuchte.
Sergej drehte sich um und sah sie grimmig an.
»Ich wusste es. Nie hätte ich mit dir aus dem Haus gehen dürfen«, schnauzte er. »Du bringst nur Unglück.«
Er legte den Rückwärtsgang ein und fuhr ohne Wenden zurück.
Sie zog am Türgriff, aber die Tür ging nicht auf. Das Auto kam ins Schlingern und schleuderte, als er fester aufs Gas trat. Tiefe Verzweiflung überkam sie. Sie begann ihn zu schlagen, aber er schlug mit seiner freien Hand zurück. Das Auto folgte den Kurven, als würde es sie auswendig kennen.
»Die Polizei ist das Letzte, was wir brauchen«, versuchte er eine Erklärung, während er ihre Schläge abwehrte.
Jetzt schien sogar das Auto, das Schwierigkeiten bekam, auf der Straße zu bleiben, sie anzufauchen und zu brüllen. Sie hörte ein Knirschen, als die Reifen auf den schneebedeckten Randstreifen kamen, dann kratzten Äste an der Karosserie. Im selben Moment, in dem sie sich hinter die Frontsitze duckte, verlor Sergej die Kontrolle über den Wagen. Das Heck brach aus, das Auto krachte in die Hecke, schleuderte und donnerte gegen einen Baum.
Als sie wieder zu sich kam, griffen der Schnee und der kalte Nachtwind durch das zerschmetterte Seitenfenster nach ihr. Sergej hing über dem Lenkrad und war nur halb bei Bewusstsein. Sein Kopf zeichnete sich dunkel gegen die Scheinwerfer eines nahenden Autos ab. Eine Phalanx dornenbewehrter Äste und Zweige hatte das Stoffverdeck des Cabrios zerrissen. Über das Heck kletterte sie hinaus und taumelte zur Straße. Der Wagen hatte sein dorniges Gehege mit glitzernden Glasbröckchen und stechendem Benzingeruch erfüllt.
Über dem Geräusch des herannahenden Fahrzeugs war der Wind zu hören, der durch die schneebeladenen Äste fuhr. Sie fragte sich, ob der Tod so klang, wenn er sich an die Lebenden heranmachte.
Die Fahrertür des Unfallwagens ging auf, und Sergej beugte sich heraus. Er spie einen Mund voll Blut aus, dann sammelte er sich, griff nach einer Zigarette und ließ das Feuerzeug aufflammen. Als er sah, dass sie sich rückwärts gehend von ihm entfernte, trat ein verächtlicher Ausdruck auf sein Gesicht. Die Zigarette glomm auf. Im nächsten Augenblick ging das Auto in Flammen auf, eine Walze aus Feuer rollte darüber hinweg und verschlang Sergejs gebeugten Rücken, die Schultern und schließlich das Gesicht.
Die anbrandende Hitze schleuderte Lena rückwärts in die Dunkelheit, und sie versuchte, den Sturz mit den Armen abzufangen. Durch die Nachtluft schwirrten Geräuschfetzen – das Rutschen eines bremsenden Fahrzeugs, gefolgt von den hektischen Rufen des Polizisten, die in einer Explosion untergingen.
Meine Ohren müssen mir einen Streich spielen, dachte sie. Die Stimme des Polizisten kam ihr bekannt vor. Sie meinte sogar zu hören, dass er ihren Namen rief.
Sie warf einen letzten Blick auf das brennende Auto, in dem die züngelnden Flammen die Ledersitze erfassten, sich die Arme ihres Zuhälters hochfraßen und das Gesicht erreichten, das hinter einer Maske aus Flammen verschwand, der Mund weit aufgerissen, aber mittlerweile verstummt.
Dann begann sie barfuß loszulaufen. Im ersten Moment fühlte sich der Schnee weich an, doch bald schnitt ihr die bittere Kälte wie ein Fangeisen in die Füße. Sie war noch nicht weit von dem Farmhaus entfernt, doch statt in diese Richtung rannte sie zwischen die Bäume, die feinen Schnee auf sie rieseln ließen. Ihr Fliehen schreckte den stillen Wald auf, ihre kältetauben Füße stapften durch Schneewehen, Zweige schlugen ihr ins Gesicht. Barfuß durch einen Wald zu laufen war nichts Neues für sie. Das Einzige, was mit ihr Schritt halten konnte, war das frostige Auge des Mondes, das zwischen den zitternden Bäumen hindurchblinzelte. Sie lief immer weiter, wachsam lauschend, ob ihr Schritte folgten.
Instinktiv wusste sie, wo sie sich verstecken konnte, und sie kannte die Gefahren des Grenzlands – gesprengte Brücken, verfallende Scheunen und Hütten, in denen Bewaffnete hausten, die Autos und Lastwagen der Schmuggler, die in mörderischem Tempo dahinrasten – genauso wie die natürlichen Hindernisse der Berge, Wälder und Flüsse. Auf der Suche nach einem Versteck rannte sie hinein in die tiefsten Schatten. Sie wusste genau, dass ein menschliches Leben im Grenzland nicht sehr viel galt. Menschen ohne Pässe oder Ausweisdokumente verschwanden leicht.
Mit brennender Lunge erreichte sie einen Abgrund in der Dunkelheit. Vor ihr toste eine noch tiefere, schäumende Finsternis: der Grenzfluss. Trotz der Stromschnellen und der nicht zu ahnenden Tiefe war er womöglich zu durchschwimmen. Eine Welle schwappte über ihre Füße. Sie holte tief Luft, doch die Kälte raubte ihr den Atem, und sie begann am ganzen Leib zu zittern. Im Grenzland war der Tod das letzte Versteck. In der Ferne blitzte eine Taschenlampe, die Rufe des Polizisten kamen näher. Kurz setzte ihr Herz aus, zwischen Vergangenheit und Zukunft schwankend. Ehe sie einen Entschluss fassen konnte, durchzuckte ein stechender Schmerz ihre Füße, und sie verlor den Halt.