Leseprobe
Archie und der junge Fahrer des anderen Autos zogen den Sarg über die Laufrollen aus dem Leichenwagen und bedeuteten den Blackie-Männern, heranzutreten, um ihn zum Grab zu tragen. Sie stellten ihn auf dem Kunstrasen neben dem Loch ab, an dessen einer Seite ein großer Haufen feuchter Erde lag. Es war inzwischen selten geworden, einen Toten zu beerdigen statt zu verbrennen, noch seltener, dass die gesamte Zeremonie direkt am Grab stattfand. Aber Dorothy gefiel es so, es war ehrlicher, bot einen direkteren Bezug als dabei zuzusehen, wie in einer kalten Kapelle ein verhüllter Sarg auf einem Sockel nach unten verschwand.
Sie stand mit gefalteten Händen da, während die Trauergemeinde sich um das Grab eingefunden hatte. Sie schaute zu einigen Grabsteinen in der näheren Umgebung, Neuzugängen der letzten Zeit, die Gravuren immer noch klar und deutlich, jede Menge Blumen und Fotos. Die Skelfs hatten einige dieser Leute unter die Erde gebracht, und sie fragte sich, wie die Hinterbliebenen wohl zurechtkamen. Hatten diejenigen alles besser im Griff als sie nach Jims Tod? Es war jetzt ein halbes Jahr her, und es stimmte, was sie anderen seit Jahrzehnten gesagt hatte, der heftige, stechende Schmerz ließ nach und wurde von einem schmerzenden Pochen ersetzt. Emotionales Hintergrundrauschen, das dem Leben eine bittersüße Note verlieh.
Der junge Pfarrer der Church of Scotland sprach ein paar gemessene Worte zu Gordon Blackie und seinen Söhnen. Sie waren Männer der schottischen Arbeiterklasse, zugeknöpft und stoisch, daher würde es heute kein Heulen und Zähneklappern geben. Außerdem hatte Susan Blackie seit Jahren an Demenz gelitten, daher fühlte es sich ohnehin an, als wäre sie bereits vor langer Zeit gegangen. Der Tod war nicht selten eine Erleichterung, auch wenn es schwerfiel, das zuzugeben.
Der Geistliche begann mit den vertrauten Intonationen der Zeremonie. Susans Leben wurde in Erinnerung gerufen und auf unsere zerbrechliche Natur im Angesicht des Allmächtigen verwiesen. Der Pfarrer war Mitte zwanzig und hatte einen strähnigen, schwarzen Pony, den er immer wieder berührte. Dorothy fragte sich, wie jemand frisch von der Schule oder einem College ausgerechnet diesen Beruf ergreifen konnte. Andererseits war sie im gleichen Alter in die Bestatterbranche eingestiegen.
Sie schaute sich um. Die Eichen und Buchen schlugen aus, die Verjüngung durch den Frühling. Aber für Susan Blackie würde es keine Verjüngung mehr geben. Dennoch konnte Dorothy sich des Gefühls einer Wiedergeburt nicht erwehren, einer Chance, die Welt wieder neu zu gestalten.
Die höchsten Äste und Zweige wogen sich im Wind, Tauben und Krähen saßen darauf und warteten. Dorothy hörte das gedämpfte Rauschen des Verkehrs auf der Easter Road, vermischt mit den Worten des Geistlichen. Seiner Stimme fehlte noch die Schwere und Würde für Beerdigungen, es fehlte ihr an Erfahrung. Die Blackie-Männer starrten mit steinerner Miene auf Susans Sarg, als könnten sie ihn mit reiner Willenskraft in den Boden hinablassen.
Dorothy hörte eine Polizeisirene, noch weit entfernt, aber lauter werdend. Sie lauschte auf die Änderung der Tonhöhe, was auf den Doppler-Effekt zurückzuführen ist, wie Hannah ihr erklärt hatte, je nachdem, ob die Quelle des Tons sich von einem entfernt oder auf einen zukommt. Aber die Tonhöhe änderte sich nicht, das Heulen wurde nur lauter, was den Geistlichen veranlasste, seine Trauerrede zu unterbrechen.
Dann folgte ein mordsmäßiges metallisches Krachen, und als Dorothy herumwirbelte, sah sie, wie sich die Flügel des eisernen Friedhofstors zuerst verbogen, dann aus den Angeln gerissen wurden und gegen die Steinsäulen auf beiden Seiten prallten, um schließlich auf dem Boden zu landen, als ein alter weißer Nissan auf den Friedhof schoss und über den Kiesweg auf der Südseite raste, über Bodenwellen hüpfte und sich zwischen Gräbern hindurchschlängelte. Der Wagen mochte siebzig, achtzig Kilometer die Stunde draufhaben, sein Motor heulte schrill auf, die Sirene wurde lauter, und dicht auf den Fersen des Nissans donnerte ein Polizeiwagen durch das Friedhofstor.
Der Nissan bremste und schlingerte durch die Biegung des Weges, schleuderte mit dem Heck gegen einen Grabstein, der daraufhin wie ein Dominostein umkippte. Der Wagen fing sich und raste weiter, während der Streifenwagen auf gleiche Weise durch die Biegung folgte und über den Grünstreifen donnerte. Der Nissan touchierte zwei weitere Grabsteine und prallte über den Weg ab, wobei die Grabsteine Stücke aus der vorderen Stoßstange rissen und die Fahrertür eindrückten.
Er war noch etwa hundert Meter vom Leichenwagen, dem Familienauto und Susans Sarg entfernt. Die Trauergemeinde der Blackies stand mit weit aufgerissenen Augen da, Dorothy ebenso, der Pfarrer mit offenem Mund.
Der Leichenwagen versperrte den Weg, aber der Nissan kam weiter auf sie zugeschossen, krachte über das Gelände, polterte gegen Grabsteine und donnerte über grasbewachsene Aufschüttungen. Direkt dahinter der Streifenwagen mit Blaulicht und kreischender Sirene.
Der Nissan hatte den Leichenwagen fast erreicht, als Dorothy spürte, wie jemand an ihr zerrte, Archie zog an ihrem Arm. Sie taumelte auf einen großen Gedenkstein zu, als der Nissan auch schon an ihr vorbeisauste, dem Heck des Leichenwagens auswich und die Trauergäste in die Flucht jagte. Die Blackie-Männer brachten sich mit beherzten Sprüngen in Sicherheit. Das Auto schepperte gegen den Grabstein neben Susans Sarg und machte einen Satz in die Luft, dann neigte sich die Schnauze und landete mit einem fürchterlichen Schlag bis zur Hälfte im leeren Grab. Das Heck hing in der Luft, die Räder drehten sich.
Der Streifenwagen kam schlitternd dreißig Zentimeter vor dem Leichenwagen zum Stehen, die Sirene verstummte. Die abrupte Stille war verwirrend, während Dorothy sich aufrichtete und zu dem Nissan rannte. Sie lief an Susans Sarg vorbei, der offensichtlich nichts abbekommen hatte, zur Fahrerseite des Wagens. Sie riss drei-, viermal an der verbeulten Tür. Schließlich ging sie auf, und sie beugte sich hinein.
Hinter dem Steuer hing ein derangierter junger Mann in schmutziger Kleidung mit ziemlich langen Haaren und einem ungepflegten Bart. Er war nicht angeschnallt, und einen Airbag gab es offenbar auch nicht. Er hatte eine lange Platzwunde auf der Stirn, die an einem Riss der Windschutzscheibe lag. Blut lief aus seinem Ohr. Er war tot, Dorothy kannte den Anblick besser als jeder andere.
Sie hielt die Tür noch auf und starrte ihn an, als ein junger Polizeibeamter hinter ihr auftauchte. Er starrte den Fahrer des Nissans mit großen Augen an. Ganz offensichtlich hatte er noch nicht so viele Leichen gesehen wie Dorothy. Sein Gesicht wurde blass.
Dorothy hörte ein Geräusch vom Rücksitz. Sie beugte sich hinein und hörte es wieder, ein leises Wimmern. Dann entdeckte sie ihn, einen kleinen Border Collie mit nur einem Auge. Der Hund kletterte von hinten nach vorn und leckte über die Kopfverletzung des Fahrers, schmeckte das Blut seines Besitzers, winselte und wich zurück.
Dorothy drehte sich zu dem jungen Polizisten um, der zitterte.
»Was zum Teufel?«, sagte sie.