Leseprobe

©Christoph Kretschmer/Adobe Stock

Tequila. Jetzt erinnerte sie sich. Gestern Abend war’s Tequila gewesen. Sauza Hornitos. Es war nie gut, wenn sie sich an die Marke des Schnapses erinnerte, aber nicht an den Namen des Mannes, mit dem sie geschlafen hatte. Schließlich löste sich der Alkoholnebel nach und nach auf, und die Erinnerung kehrte zurück, zeigte sich in ihrer hässlichen Pracht. Tia und Naomi hatten sich ihr angeschlossen und Glas um Glas mitgehalten, dann hatten die beiden eine Zeit lang geknutscht und schließlich Alice zu einer Girls Night eingeladen. Sie hatte dankend abgelehnt, wenn sie sich recht erinnerte.
Alice wusste auch noch, dass Tia und Naomi zu der wummernden Musik auf dem Tresen getanzt und sich gegenseitig ausgezogen hatten. Sie hatten sich wirklich bemüht, sie zu verführen. Aber sie hatte keine Lust gehabt. Es war nicht die erste Privatvorführung, die sie von den beiden bekommen hatte. Sie waren beide nett, aber ziemlich dumm. Alice hatte nicht den Eindruck, dass sie weiter als bis drei zählen konnten. Wenn sie noch ein paar Jahre Schindluder mit ihren schönen Körpern trieben, würden sie fürs Wackeln mit ihren Brüsten nicht mehr genug Geld kriegen, um davon Miete, Essen und Arztbesuche zu bezahlen. Aber das war ihnen nicht klar. Alice war wenigstens bewusst, dass man nur so lange mit einem knackigen Hintern seinen Lebensunterhalt verdiente, solange er knackig war. Nicht dass Alice den Dreh raushatte – weit davon entfernt –, aber wenigstens wand sie sich dabei nicht um eine Stange.
Alice’ Erinnerung reichte ziemlich genau bis zu dem Moment, als die beiden Stripperinnen bei ihren G-Strings angekommen waren, danach war Schluss. Sie erinnerte sich nicht, das Frisky Pony verlassen zu haben, und auch nicht, wie sie in dem Bett gelandet war, auf dem sie gerade saß.
Ein Wasserbett. Sie hasste Wasserbetten.
Sie warf einen Blick aus dem Fenster. Ein Trailerpark. Es schneite leicht. Eine frische Lage Weiß breitete sich über den schwärzlichen Matsch, der vom letzten Schneesturm zurückgeblieben war. Ein paar Kinder bewarfen eine Katze mit Steinen. Als einer der Steine sie am Kopf traf, schrie die Katze, und das Grüppchen rotznasiger Jungen johlte triumphierend. Hinterfotzige kleine Fieslinge. Die konnte sie noch weniger ausstehen als Wasserbetten.
Alice zog den Reißverschluss ihrer Jeans hoch und suchte das Zimmer noch einmal nach Handtasche und Jacke ab. Vielleicht schaffte sie es hier raus, bevor der Fremde aufwachte. Dass sie keine Ahnung hatte, mit wem sie geschlafen hatte, war egal – man musste nicht alles wissen. In dem Raum war keine Tasche. Und auch keine Kondomhülle. Sie hoffte, dass sie nicht so betrunken gewesen war, um das Verhüten zu vergessen. Das hätte ihr gerade noch gefehlt. Sich ein Kind oder was noch Schlimmeres einzufangen.
Sie stieß sich den großen Zeh an der Ecke des Betts an. »Scheiße.«
Der Schläfer rührte sich noch immer nicht.
Sie trat einen Schritt näher, aber sein Gesicht lag unter der Decke begraben. »Hey. Mann. Aufwachen.«
Nichts. Niemand zu Hause.
Der Mann lag völlig still da, nicht einmal die Decke bewegte sich mit seinen Atemzügen. Sie betrachtete ihn noch eine Weile – nichts.
Alice nahm eine leere Bierflasche, hielt sie über eine andere leere Bierflasche. Dann sah sie zum Bett und ließ sie fallen. KNALL. KLIRR. Die Flasche zerbarst. Es war laut – laut genug, um Tote zu wecken.
»Hallo? Zeit zum Aufstehen!«
Aber der Mann reagierte nicht. Alice schwante Übles.
Nein, nein, nein.
Er konnte nicht tot sein. Das ergab keinen Sinn. Man wachte nicht nackt neben einem Toten auf, den man nicht mal kannte.
Alice beobachtete weiter die Decke, wartete darauf, dass sie sich hob und senkte. Vielleicht schlief er einfach nur sehr fest. Sie wartete, dass er sich rührte. Dass er hustete. Nieste. Irgendwas. Aber er tat nichts davon.
Schwarze Haare. Wen kannte sie mit solchen dichten schwarzen Haaren?
Wen interessiert das? Ist doch egal.
Alice sah sich noch einmal nach ihrer Handtasche um. In dem winzigen Raum müsste sie ihr eigentlich sofort ins Auge fallen. Sie musste im Wohnraum sein. Oder im Bad. Irgendwo anders jedenfalls.
Wie unter Zwang sah sie wieder zu dem Mann, der wahrscheinlich gar nicht schlief, sondern tot war. Mittlerweile zitterten Alice’ Hände im Gleichtakt mit ihrem rasenden Herzen, und die Adrenalinwoge, die durch sie schoss, verjagte den Kater. Das Zittern ihrer Hände griff auf den ganzen Körper über, erreichte die Knie und zwang Alice, sich wieder auf das Wasserbett zu setzen. Gurgelnd schwappte das Wasser unter dem Toten hin und her und versetzte ihn in Bewegung. Nach ein paar Sekunden kam es zur Ruhe und mit ihm der Tote.
   Scheiß drauf.
Sie stand auf, streckte die Hand aus und riss die Decke zurück. Ja, der Mann war tot. Kein Zweifel. Seine Augen standen offen, die Pupillen waren erweitert und von einem weißen Film überzogen.
Mit rasendem Herzen sprang sie vom Bett auf und stolperte beinahe über ihre eigenen Füße. Sie spürte das Klopfen in ihrer Brust, als sie auf die Leiche hinunterblickte – die zweite, die sie in ihrem Leben sah.

Der Tote war ein gut aussehender Mann. Zumindest war er das mal gewesen, auf diese mackerhafte Art. Alice starrte das vertraute Gesicht an – Terry Otis, der Geschäftsführer des Frisky Pony. Dieses koksende, chauvinistische Arschloch, das mit allen Stripperinnen aus dem Laden ins Bett ging. Terry Arschloch Otis, der soff wie ein Loch, durch den Klub stolzierte wie ein Gockel und Besoffene rausschmiss, wenn sie seine Mädchen angefasst hatten, und sie anschließend im Hinterhof verprügelte. Der große, toughe Terry, der einen schwarzen Monster-Pick-up mit XXL-Reifen fuhr, seine Levi’s bügelte und kein Stäubchen auf seinen Cowboystiefeln duldete.
Wie er da nackt in seiner eigenen Kotze lag, war von seiner Toughness nicht mehr viel übrig.
Unverwandt sah sie auf ihren toten Boss und versuchte, ihrem schnapsgeschwängerten Hirn weitere Erinnerungen an die vorhergehende Nacht zu entwinden. Sie wusste noch, dass Terry wie immer im Frisky Pony gewesen war, aber sie hatte nicht mit ihm getrunken, nicht einmal besonders auf ihn geachtet. Er wiederum war vollauf damit beschäftigt gewesen, eine Line vom Tresen zu ziehen und Tia und Naomi beim Fummeln anzuglotzen.
Bei Terry zu Hause war sie noch nie gewesen, auch wenn er sie mehr als einmal eingeladen hatte. Für dich steht meine Tür immer offen, Schätzchen, hatte er ihr schmierig grinsend ein halbes Dutzend Mal erklärt. Er stank aus dem Mund nach dem Stückchen Kautabak, das er unter seine Unterlippe geschoben hatte. Ständig spuckte er in eine Bierflasche, die halb voll mit brauner Spucke war. Da können wir eine richtig gemütliche Nummer schieben, wir beide.
Alice hob sich der Magen, und sie würgte, aber es kam nichts mehr raus, weil nichts mehr drin war. Dann wurde ihr heiß, und Schweiß trat aus ihren Poren und überzog ihr Gesicht mit einem feinen, nach Tequila riechenden Film.
Zweimal wurde es dunkler im Raum. Das eine Mal, als die Sonne hinter den heranziehenden Sturmwolken verschwand, das andere Mal, als ihr Kreislauf in den Keller sackte und sie beinahe ohnmächtig wurde.
Um den Kopf wieder klarzukriegen, kniff sie die Augen zusammen und grub ihre abgekauten Fingernägel so fest in ihre Handflächen, dass sie schmerzhafte Einkerbungen hinterließen. Es dauerte eine Minute. Vielleicht auch zwei. Sie öffnete die Augen und ließ den Blick über die windigen Wände, die klapprige Tür und die vorhanglosen Fenster wandern. Schließlich bemerkte sie die Reisetasche, die auf Terrys Seite des Betts in die Ecke des Schlafraums gestopft war.
Terrys Seite des Betts. So ein Schwachsinn. Als wären sie ein Paar.
Sie starrte auf die Tasche, die aus einem Army-Shop stammen musste. Olivgrün, auf den Stoff mit schwarzer Farbe eine Seriennummer gedruckt. Dann sah sie wieder zu Terry, dessen Kopf nach links geneigt war, als wollte er sein Eigentum im Auge behalten. Sie musste das Letzte gewesen sein, was er gesehen hatte, bevor er starb. Alice blickte wieder zu der verschlossenen Tasche. Sie wischte sich den Schweiß von der Oberlippe und schob sich näher heran, plötzlich wollte sie wissen, was darin war.
Ich sollte die Cops rufen.
Das konnte sie allerdings gerade nicht brauchen. Dem war sie im Moment einfach nicht gewachsen. Die Cops würden Fragen stellen. Sie würden in ihrer Vergangenheit graben und unschöne Dinge zutage fördern. Nicht jetzt. Am besten nie. Wie gebannt starrte sie auf die Tasche – als wäre sie ein Kunstwerk. Etwas an dieser fest verschlossenen Army-Tasche wollte, dass sie sie öffnete. Sie würde die Cops rufen müssen. Das war Alice klar. Was blieb ihr sonst auch übrig?
Vielleicht könnte sie wenigstens einen kurzen Blick in die Tasche werfen? Terry war tot, was sollte er dagegen haben? Alice rieb sich übers Gesicht. Sie brauchte noch ein paar Minuten, um einen klaren Kopf zu bekommen, einen Schluck Orangensaft zu trinken, oder was Terry im Kühlschrank hatte, und zu versuchen, die Geschehnisse in der Nacht zu rekonstruieren.
Und ja, auch um einen Blick in die Tasche zu werfen. Das würde sie nämlich tun. Die Tasche war wie ein Glas Whiskey, das jemand einem Alkoholiker spendiert hatte und das darum bettelte, in einem Zug ausgetrunken zu werden. Es war keine Frage des Ob, sondern des Wann. Alice strich sich die Haare hinters Ohr, hob die Tasche auf ihren Schoß und zog den Reißverschluss auf. Der Inhalt war keine große Überraschung. Keine Socken oder Decken, keine Schuhe, kein Survival-Kit. Nichts dergleichen. Stattdessen Tütchen mit Koks. Viele Tütchen. Alice konnte nicht genau abschätzen, wie viel es war und welchen Marktwert es hatte, aber sie vermutete, dass es Schnee im Wert von zehn-, vielleicht zwanzigtausend Dollar war.
Aber das war nicht alles.
Alice grub tiefer und stieß auf ein paar Pillenfläschchen. Amphetamine, Quaaludes, Vicodin. Und ein Fläschchen Rohypnol.
»Ach du Scheiße
Alice nahm keine Pillen – sie schoss sich lieber mit Wodka, Whiskey und Tequila ab –, aber sie kannte sich halbwegs damit aus. Rohypnol. Roofies. Terry musste gestern einen ihrer Drinks damit versetzt haben.
Alice sah noch einmal zu Terry, ihre Angst verwandelte sich in dumpfe Wut und Ekel vor sich selbst, weil sie das hatte geschehen lassen. Der Gedanke, dass dieser Drecksack in ihr drin gewesen sein könnte, ließ sie sofort wieder würgen.
An seinen Nasenhaaren hing immer noch etwas von dem weißen Pulver. Geschah dem Kokser recht. Er hatte gekriegt, was er verdiente. Sie bemerkte den Riss an Terrys geschwollener und dunkellila verfärbter Oberlippe. Unter seinem linken Auge war ein fieser Bluterguss – ungefähr so groß wie ihre Faust. Trotz des Tequilas und der Roofies musste sie sich gewehrt haben. Hatte ihm ein paar verpasst, bevor … falls es überhaupt passiert war. Vielleicht war das Arschloch tot umgekippt, bevor er sie vergewaltigen konnte.
Alice wühlte sich weiter durch die Tasche. Ihre Finger strichen über etwas auf dem Boden. Eine braune Papiertüte war unter die anderen Sachen gestopft worden. Sie zog sie heraus. Sie hatte ungefähr die Größe einer kleinen Schuhschachtel und war sorgfältig mit Klebeband zugeklebt.

Ungeduldig wie ein Kind am Weihnachtsmorgen riss Alice das Papier auf und starrte den Inhalt an, fuhr sich mit der Zunge über die Lippen, die im Bruchteil einer Sekunde trocken geworden waren. Ihr Herz hatte einen Komplettaussetzer. Reglos saß sie zwanzig Sekunden da, und erst da wurde ihr bewusst, wie totenstill es im Trailer war.
Plötzlich knallte etwas Hartes gegen die Metallwand, und Alice zuckte zusammen. Ein zweiter Knall und ein dritter, gefolgt von kreischendem Gelächter.
Den Papierbeutel mit zittrigen Händen umklammernd, spähte Alice aus dem Fenster und sah die Meute der kleinen fiesen Jungs Schneebälle gegen den Trailer des Toten werfen. Sie spürte die Erschütterung bis in die Knochen. Hört auf damit! Hört auf! Sie ertrug das Geräusch nicht – es triggerte Erinnerungen an den Trockner mit Jason darin –, aber in ihrem sadistischen Vergnügen machten die Kids keine Anstalten aufzuhören. Es rumste und rumste und rumste, so als würde es nie aufhören.
Ka-Wumm, Ka-Wumm, Ka-Wumm.