Leseprobe

Prolog
©Christoph Kretschmer/Adobe Stock

Alles geschah in einer verlorenen Jahreszeit. Die Morde, die Entführung des Mädchens, die Ausschreitungen in Springfield. Weder Herbst war es noch Winter, eher etwas dazwischen, an einigen Tagen war es heiß und windstill, die Bäume trugen trockene, kränkliche Blätter, die Flüsse zogen dunkel und flach dahin. Die Welt wirkte aller Farbe beraubt, wie ausgeblutet.
Frank Yakabuski sah einen Zusammenhang zwischen den Ereignissen in jener Woche und der verlorenen Jahreszeit. Wenn Bezugspunkte verschwanden und die Jahreszeiten einen im Stich ließen, konnte nur etwas Schlimmes geschehen, glaubte er. Nicht jeder sah das so. Diejenigen, die überzeugt waren, in der Welt würde das Prinzip Ursache und Wirkung herrschen, glaubten, es wäre in jedem Fall so und nicht anders gekommen, weil es schon einen Plan und ein Ziel gegeben hätte, bevor die verlorene Jahreszeit über die Northern Divide hereinbrach und der erste Mann ermordet wurde.
Frank Yakabuski fand allerdings auch, die Verfechter des Ursache-Wirkung-Prinzips hätten kein Gespür für Orte, sie lebten im luftleeren Raum, stellten irgendwelche Zusammenhänge her und wären immerzu enttäuscht vom Ergebnis ihrer Handlungen. Als junger Cop hatte Yakabuski mit einem Fall zu tun gehabt, der sich scheinbar mit Ursache und Wirkung erklären ließ. Sein Job hatte ihn nach High River geführt, es war Frühlingsanfang, die Zeit also, in der die Flüsse wild und gefährlich sind und man auf jeden seiner Schritte achten muss, damit einen der Strom nicht fortreißt und man nie wieder gesehen wird, wie es in High River einige Male vorgekommen war. Er hatte eine Mutter in Gewahrsam nehmen müssen, die ihr einziges Kind, einen vierjährigen Jungen, in der Badewanne ertränkt hatte.
Die Mutter war jung, noch ein Teenager, und die Beweislage erdrückend. Sie war arm und schwer methabhängig. Schon zweimal hatte ihr der Child and Family Service den Jungen weggenommen. Am Tag seines Todes hatte die Mutter mehreren Menschen erzählt, sie wolle das Kind nicht mehr. Warum die Mutter allerdings 911 gewählt und der Polizei den Tod des Kindes gemeldet hatte, war das Einzige, was sich die High River Cops nicht erklären konnten, doch allzu viele Gedanken verschwendeten sie nicht darauf, denn auch bei dem Anruf war die Mutter auf Meth gewesen.
Yakabuski hatte die junge Frau aus der Zelle abgeholt, aber auf dem Weg zum Einsatzwagen, der sie nach Springfield bringen sollte, war sie stehen geblieben. Sie war zierlich, hatte lange schwarze Haare und man hätte sie hübsch nennen können, hätte sie sich nicht eines Nachts im Rausch mit einer Rasierklinge das Gesicht zerschnitten. Weil Yakabuski sie nicht zum Wagen schleifen wollte, standen sie lange auf dem Parkplatz hinter dem Revier der Royal Canadian Mounted Police, bis die Frau fragte: »Hören Sie das?«
»Was denn?«
»Na das.«
Er lauschte und nahm es nach wenigen Sekunden deutlich wahr. Das Wasser, das sich seinen Weg durch die Wälder und über die Straßen von High River bahnte, das sich mit den Creeks und Zuflüssen des Springfield River vereinte, das zu sich selbst zurückfloss, sich im Kreis drehte, weil es nicht wusste, über welche Wasserscheide es fallen und welchen Bach es noch füllen sollte, denn in jenem Frühling strömten derartige Massen durch High River, dass es in der Luft rauschte, als würde ein gigantischer Wasserhahn laufen.
»Warum nicht im Fluss?«, fragte die junge Frau und fing an zu weinen.
In Springfield angekommen, rief Yakabuski die Gerichtsmedizinerin an und bat sie, die Leiche des Kindes noch einmal zu untersuchen. Dabei entdeckte sie das geplatzte Aneurysma im Gehirn des Jungen. Kurz darauf wurde die Mutter freigelassen.
Der Ort war entscheidend. Vielleicht hatten die Ereignisse der verlorenen Jahreszeit sogar eher mit dem Ort zu tun als mit Habgier, Rivalität, Vergeltung oder einem der anderen Motive, die man damals dahinter vermutete. Eine Woche lang verschwanden sämtliche Bezugspunkte; die Stadt Springfield löste sich aus ihrer Verankerung, verlor ihren Halt, und eine fremde, tödliche Welt kam zum Vorschein.

1

Die Ersten, die an dem Montagmorgen das Filion’s Field überquerten, waren Schichtarbeiter auf dem Weg zu O’Hearns Sägewerk in der Sleigh Bay. Das Feld lag am westlichen Rand eines Steilufers hoch über dem Springfield River, und jeder Arbeiter hatte mit Henkelmann und Thermoskanne eines der Hochhäuser verlassen, die Abkürzung über den Sportplatz genommen und um 5:45 Uhr an der Bushaltestelle gestanden.
Die Sonne war um 6:41 Uhr aufgegangen, deshalb waren die Arbeiter noch im Dunkeln über das Feld marschiert. Vermutlich mit gesenktem Kopf, denn als Schichtarbeiter auf dem Weg zum Sägewerk hatten sie es sicherlich nicht eilig, den neuen Tag zu begrüßen.

Gut möglich, dass es ihnen nicht aufgefallen war. Als die Polizei die Arbeiter – insgesamt waren es neun, alles Männer – ein paar Stunden später ausfindig machte, wurde keiner länger als fünf Minuten befragt.
Die Nächsten, die das Feld überquerten, waren Menschen, deren Arbeit frühmorgens in Springfield begann: Büroangestellte und Wachleute, Küchenhilfen und Parkplatzwächter, Bauarbeiter und Busfahrer. Als sie über das Feld gingen, stand die Sonne bereits am Himmel, eine Wintersonne, die eher weiß als gelb war und durch die Birken und Fichten am Rand des Steilufers und die Schluchten zwischen den Hochhäusern schien, sodass Schatten auf den Weg vor ihnen fielen. Der Polizei gelang es, zweiundzwanzig der Angestellten ausfindig zu machen. Jeder wurde ausgiebig befragt. Keiner erinnerte sich daran, an jenem Morgen am östlichen Zaun des Sportplatzes etwas Ungewöhnliches bemerkt zu haben.
Die Letzten, die das Feld überquerten, waren Kinder, die eine Abkürzung nahmen, durch ein Loch im Zaun, über einen Trampelpfad durch den Wald, hin zur Northwood Elementary School. Wie viele Kinder es waren, konnte hinterher niemand genau sagen. Nach Einschätzung der Polizei mochten es an die dreißig gewesen sein.
In der ersten Schulpause kehrte ein halbes Dutzend Jungen zum Feld zurück. Dort sah eine Polizistin, wie sie Steine auf etwas warfen, das am Zaun hing. Die Steine flogen in hohem Bogen. Die Jungen lachten. Zu dem Zeitpunkt stand die Sonne hoch und schien durch den Zaun, der das Feld umgab, sodass sein Maschendraht ein geometrisches Schattenmuster auf den Fußballplatz warf.

Die junge Polizistin hieß Donna Griffin. In die Hochhaussiedlung in North Shore war sie gekommen, weil sie einen Beschluss des Familiengerichts zustellen sollte. Sie beobachtete die Jungen und fragte sich, womit sie da spielten. Sobald die Kinder die Polizistin sahen, drehten sie sich wie eine Herde Rehe, die einen Jäger
wittert, kollektiv um, schlüpften durch das Loch im Zaun und rannten davon.
Weil Griffin wusste, dass sie die Jungen niemals einholen würde, nahm sie die Verfolgung gar nicht erst auf. Sie sah, wie einer nach dem anderen in den Wald lief, und erst, als der Letzte verschwunden war, wurde ihr klar, dass keiner ihr noch etwas über die Schulter zugerufen hatte. Weder Spott noch Hohn, und das, obwohl sie
nicht hinterherlief. Ein halbes Dutzend Jungen. Aus der Hochhaussiedlung in North Shore.
Sie ging weiter. Hatte die Hälfte des Fußballfelds hinter sich gebracht, als der am Zaun hängende Gegenstand allmählich Gestalt annahm und sich dann in etwas Konkretes verwandelte.
Fünfzehn Schritte davor blieb sie stehen. Jetzt fielen die Schatten auf sie, aber es war nicht das Muster des Maschendrahtzauns, es waren zwei dicke, sich kreuzende Linien. Sie blickte am Zaun hoch und wünschte sich, sie hätte stattdessen die Verfolgung der Kinder aufgenommen.