Leseprobe

©Christoph Kretschmer/Adobe Stock

Sie war eine Tag-Zählerin. Die ersten 6.407 Tage ihres Lebens war sie das nicht gewesen, doch dann hatte sich ihr Leben verändert – das Leben selbst war für sie sichtbar geworden – und seitdem hatte sie begonnen, die Tage zu zählen, zumindest bestimmte Tage.
Heute waren es, genau wie sie Opie erzählt hatte, 53 Tage, seit Ray Gibbs unerwartet gestorben war, und an fast jedem dieser 53 Tage sickerten mehr Hinweise auf Gibbs’ Korruption und Nachlässigkeit durch, von denen vieles auch auf seinen – und jetzt ihren – Chief Deputy Elvin »Boog« Lund hinwies.
Heute waren es zwanzig Tage, seit sie Horst Zimmer für den blutigen Doppelmord im Bishops Coulee dingfest gemacht hatte, und daher zwanzig Tage, seit sie die Leere in Zimmers Beweggründen wurmte: der Diebstahl einer veralteten Xbox, ein Tischbackofen und eine Kettensäge. Wenn sie Zimmer nicht geschnappt hätte, wie er seine Beute auf dem Parkplatz einer Kneipe von seiner Ladefläche aus verkaufen wollte, wäre ihr Bericht zu einem vertrauten und quälenden Ergebnis gekommen, einem, das sie vor 4.290 Tagen akzeptieren musste: Es wurde nichts gestohlen
Und noch eine Zahl: Heute war der elfte Tag, seit sie begriffen hatte, wie wenig sie sich der ganzen Sache gewachsen fühlte. Statt einen Mörder zu fassen und Interims-Sheriff zu werden, wünschte sie sich heimlich – und seit elf Tagen hatte sie lebhaft darüber fantasiert –, dass sie Zimmer das Zombie-Gehirn weggepustet hätte.

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Doch inzwischen gab es das andere Heute. Inzwischen gab es einen Job zu erledigen, zu schützen und zu dienen, und daher war es eine Frage von klarem Denken und Gelassenheit. Das bedeutete, sie musste sich irgendwie darauf vorbereiten, wie die Männer im Bad Axe es anscheinend fanden, das erste Mal in Wisconsin eine Frau als Sheriff zu haben. Sie zu necken, beschrieb es wohl kaum.
F-Wort Dairy Queen.
Aufgepasst, Gänse.
Sie schaufelte einen Bierkrug voll Maisschrot aus einem Sack neben der Waschmaschine und ging an der Feuertonne vorbei zum Laufstall. Abgesehen davon, dass sie sich einen großartigen Job zu Hause in den Coulees wünschte, bestand der Rest ihres Traumes darin, wieder einen Bauernhof zu besitzen, Kühe zu melken, Kälber großzuziehen und Heu zu ernten. Doch sie und Harvey hatten drei Kinder und zwei Jobs, und ihr Mann war ein Stadtkind und Baseballenthusiast und kein Farmer. Darum hatten sie sich, nachdem sie den alten Pederson-Hof gepachtet hatten, auf eine Herde von sechzehn Gänsen geeinigt, genau wie junge Paare es mit einem Welpen versuchten, bevor sie ein Kind bekamen.
Als die Tür aufschwang, eilten die Tiere mit einem kollektiven Quaken auf sie zu, einige schneeweiße Federn flatterten und grellorange Schnäbel leuchteten in dem Gedränge auf. Sie hielt den Mais hinter ihrem Rücken versteckt. Seit sie im Bad Axe zur Zielscheibe geworden war, hatte sich zwischen ihr und den Gänsen eine Routine eingespielt.

»Bitte aufgepasst.«
Sechzehn Paar schwarze Knopfaugen schauten hoch, weniger Geschubse und Gekneife, für Gänse recht anständig.
»Okay … lasst mal sehen … also, warum ist es das Gleiche, ob man zu Subway geht oder zu einer Prostituierten?«
Sie rasselte mit dem Maiskrug. Alle waren ganz Ohr.
»Weil man eine Fremde dafür bezahlt, den Job seiner Frau zu erledigen.«
Das hatte ein höchst unzufriedenes Gänsemurmeln zur Folge. Queen Gertrude zwickte Cordelia. Squash Blossom versuchte, hinter dem Sheriff zum Mais vorzudringen. Sie hob den Krug höher. »Nicht gut genug? Jetzt nicht übermütig werden. Weiß denn einer von euch Klugscheißern, warum man nie eine Frau anlügen soll, die beides hat, PMS und GPS?«
Sie warteten ab.
»Weil die Frau eine Zicke ist … und sie dich finden wird.«

Man hörte eindeutig ein bisschen mehr heiseres Hupen. Aber dieses bestimmte Zusammenspiel war es noch nicht. Sie hatte die Witze von Denise Halverson, ihrer Nachtschicht-Dispatcherin, und überlegte nun, ob ihr noch ein besserer einfiel. Denise war ein Genie. Sie sah immer den nächsten Zusammenstoß mit einem Männerhirn voraus und impfte sich mit einem Witz dagegen.
Der Himmel über dem Pferch war aufgewühlt. Hinter dem Gebirgskamm, in dessen Schutz der Hof lag, zuckten Blitze auf. Sie zählte neun Sekunden, bevor der Donner über den Talkessel rumpelte. Also gut. Die Impfung, die sie benötigte, musste vulgär sein, sexistisch – und über das Wetter. Sie hatte eine. Sie wandte sich den Gänsen zu und senkte ihre Stimme. »Schätzchen …«
Sie stellte sich vor, einen Schnaps zu trinken, um einen Schluckauf und ein Nuscheln hinzubekommen.
»Ich bin kein Wetterfrosch … aber, Schätzchen …«
Sie ließ einen glotzenden Blick über die wartenden Vögel gleiten.
»Aber … hick … heute Abend erwarten dich fünfzehn Zentimeter.«
Es war vermutlich das Glotzen und das Hicksen, doch bei diesem drehten die Gänse durch, quakten, hupten und knibbelten an ihr. Als sie den Mais auskippte, wurde ihr klar, dass der furchtbare Witz gewirkt hatte. Ihr Kopf fühlte sich frei an, sie war bereit, sich wieder in die Männerwelt des Bad Axe County Sheriff’s Department zu begeben. Also los, sagte sie sich und fragte sich, wo ihr Mann war.

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