Eins

Lóczy Lajos utca, Donnerstag, 10. September 2015, 6:00 Uhr

©Christoph Kretschmer/Adobe Stock

Der Tote kniete in der Mitte des Bettes, nackt, immer noch aus der Taille heraus vornübergebeugt. Sein Hintern ragte hoch in die Luft, die Wirbelsäule fiel zu einem Hängebackengesicht ab, das auf einer Seite ruhte. Er hatte eine braune Haut wie Mahagoni und schütteres schwarzes Haar, das zu dunkel schien, um sich natürlich über seine glänzende Kopfhaut zu erstrecken. Unter ihm hatte sich ein dunkler Urinfleck auf dem Seidenlaken ausgebreitet, das die Farbe von Blut hatte.
Baltazár Kovács streifte blaue Latexhandschuhe über, legte zwei Finger unter der Kinnlade auf den Hals des Mannes, wartete eine halbe Minute. Keine Bewegung. Selbst durch den Handschuh war die Haut kalt. Er zog einen Kugelschreiber aus seiner Jackentasche, schob ihn unter den rechten Arm des Mannes, wo Handfläche in Handgelenk überging, und hob die Hand an. Baltazár senkte den Stift, ließ die Hand des Toten wieder aufs Bett sinken und zog den Latexhandschuh der rechten Hand aus, bevor er seine Finger vor Mund und Nase des Mannes hielt. Die Luft bewegte sich nicht.
Baltazár zog den Handschuh wieder an und drehte sich zu der jungen Frau um, die neben ihm stand und ihn beobachtete. »Er ist definitiv tot.«
»Bist du sicher?«
Er nickte. »Ziemlich.«
»Er ist nicht einfach nur bewusstlos oder so was? Vielleicht ist er im Koma«, meinte sie hoffnungsvoll.
»Nein. Er ist tot.«
Kinga Töröks graue Augen weiteten sich. »Hab ich Probleme?«
»Nicht, wenn du mir alles erzählst, was passiert ist. Hat irgendwer dir was gegeben, das du ihm geben solltest?«
Er beobachtete sie aufmerksam, als sie ihm antwortete. Sie trug einen blauen Morgenmantel aus Seide über schwarzer Unterwäsche. Ihr feines blondes Haar war zerzaust, ihre Mascara verschmiert. Aber sie wich seinem Blick nicht aus, die Augen geöffnet und unschuldig wie nur was. »Nein. Nichts. Wirklich.«
»Drogen, Puder, was zu trinken? Es ist viel besser, wenn du es mir jetzt sagst, Kinga.«
»Du meinst, um ihn umzubringen? Natürlich nicht. Warum sollte ich so was tun? Ich verdiene hier mein Geld. Die Hälfte davon schicke ich nach Hause. Das will ich mir doch nicht vermasseln.« Ihre Stimme war selbstsicher, fast schon verächtlich.
Baltazár trat vom Bett zurück, sah den Toten wieder an. Sagte sie die Wahrheit? Dass sie sich nichts vermasseln wollte, stimmte ziemlich sicher. Die Arme des Toten waren gespreizt, fast als hätte er versucht, zu winken oder um Hilfe zu rufen. Ein Mörder im Raum hätte Kinga nicht am Leben gelassen. Todesursache war höchstwahrscheinlich ein Herzinfarkt oder so was wie ein Schlaganfall. Er sah Kinga erneut kurz an. Sie erwiderte seinen Blick, war sicherlich beunruhigt – wer wäre das nicht? –, aber weder besorgt noch ängstlich. Zuerst dachte Baltazár, der Tote könnte ein Rom sein. Dunkel genug war seine Hautfarbe. Baltazár kannte sämtliche Größen und Zuhälter, Geschäftsleute und gerissene Geschäftemacher unter den Roma der Stadt, die sich eine Nacht mit Kinga in der VIP-Suite leisten konnten. Das hier war keiner von denen, aber er könnte von außerhalb sein. Entweder das oder er war Ausländer. Es gab, nahm er mal an, schlimmere Arten, den Löffel abzugeben.
»Weißt du, wer er ist?«, fragte Baltazár.
Kinga zuckte die Achseln. »Nein. Ein Araber vielleicht. Er hat gesagt, ich soll ihn Abdi nennen.«
Baltazár gähnte, fuhr sich mit den Fingern durch sein dichtes schwarzes Haar und spürte, wie die Last in ihm immer schwerer wurde. Abdi, oder wer immer er nun war, war der Grund, warum Eszter, die Geschäftsführerin des Bordells, ihn vor einer Stunde angerufen und ihn um Hilfe gebeten hatte. Baltazár wusste, dass es in dem Bordell schon einige tote Freier gegeben hatte, übergewichtige Männer mittleren Alters, die an Herzinfarkt gestorben waren. Erst vergangenen Sommer hatte ein deutscher Pfarrer auf Besuch in der Stadt in den Armen und Beinen zweier neunzehnjähriger Zwillinge den Geist aufgegeben. Tote Freier waren immer schlecht fürs Geschäft, aber man konnte damit umgehen. Zwanzigtausendforintscheine in ausreichender Zahl hatten die Räder der Behörden geschmiert, um die Leichen aus dem Bordell zu schaffen und die Berichte zu ändern, um den Ruf und das Andenken der Angehörigen zu schonen. Aber ein toter Ausländer war erheblich komplizierter.
»Abdi und weiter?«, fragte Baltazár.
Kinga zuckte die Achseln. »Keine Ahnung. Wir haben nicht viel geredet.«
Baltazár warf einen Seitenblick auf die Leiche auf dem Bett. Abdi. Wahrscheinlich kurz für Abdullah. Das hatte vielleicht nichts zu bedeuten. Reiche arabische Touristen kamen heute scharenweise nach Budapest. Die Luxusbordelle der Stadt machten mehr Geschäfte denn je, erheblich mehr als das Etablissement seines Bruders Gáspár. Aber nicht alle arabischen Besucher waren vermögend und konnten sich eine Nacht in der VIP-Suite leisten. Manche kampierten draußen am Keleti-Bahnhof, unterwegs mit falschen Papieren auf ihrer langen Reise in den Westen. Die Grenzen Ungarns waren zusammengebrochen, der Ministerpräsident war inmitten eines Korruptionsskandals zurückgetreten, in den Investoren der Golfstaaten verwickelt waren, und das Justizministerium war in Menschen-
handel und einen Schleuserring verstrickt, der islamistische Radikale in den Westen schmuggelte. Vielleicht sagte ihm Abdi, oder sein Tod, etwas.
Baltazár holte sich in die Gegenwart und diesen Raum zurück, sah Kinga an. »Und was hast du gemacht?«
Sie lachte. »Wie viele Details willst du?«
Seine Frage, erkannte Baltazár, hätte besser formuliert sein können. »Ich meine, war irgendetwas merkwürdig oder ungewöhnlich?«
»Nein. Zuerst das Übliche. Er hat mich für die ganze Nacht gebucht. Obwohl, dann wollte er … du weißt schon …« Sie hielt inne, errötete, wirkte plötzlich verlegen, wandte den Blick mehrere Sekunden lang ab. »Er hat mir das Doppelte geboten, aber ich hab gesagt, so was mache ich nicht. Es tut weh.«
Kinga Török war zweiundzwanzig, eine schlanke, hübsche Blondine, die erst vor Kurzem aus einem winzigen Dorf nahe der serbischen Grenze eingetroffen war. Ihr Vater war arbeitslos und ihre Mutter arbeitete als Reinigungskraft. Kinga war klug, ehrgeizig und studierte tagsüber Jura an der ELTE, der Budapester Eötvös-Loránd-Universität. Nachts verdiente sie in wenigen Stunden mehr, als ihre Mutter in einem Monat nach Hause brachte, vor allem, wenn sie die Königin der VIP-Suite war. Der Raum war der teuerste des Hauses. Er war von Wand zu Wand mit dunkelrotem Teppichboden ausgelegt, hatte fast deckenhohe Spiegel auf beiden Seiten des Bettes und einen weiteren an der Decke. Das Bett war ein opulentes Möbelstück im Rokokostil mit geschnitzten und vergoldeten übergroßen Fuß- und Kopfteilen, beide passend zu den Laken purpurfarben gepolstert.