Kapitel 3
Es würde ein heißer Tag werden, und Ingram befand sich in seiner Dunkelkammer und entwickelte Bilder, die er tags zuvor im Stadtviertel um Wrigley Field gemacht hatte. Die Anlage hatte den Namen schon vor ihrer berühmteren Version in Chicago getragen, die ursprünglich Cubs Park geheißen hatte. Das Wrigley Field in L.A. war hufeisenförmig, mit einer zweistöckigen Aussichtsterrasse. Am Scheitelpunkt befand sich ein zwölfstöckiger Büroturm mit einem großen Zifferblatt an der Front. Das Stadion lag an der 42. und Avalon, nicht weit von Ingrams Wohnung. Die Anlage war Heimat mehrerer höchstklassiger Baseballteams der Pacific League wie The Hollywood Stars und sogar der Angels, als sie in die Profiliga aufstiegen – zumindest, bis sie 1962 ins Dodger Stadium umzogen.
Dort würde Martin Luther King Jr. sprechen, wenn er in die Stadt kam, und Ingram wollte trotzdem noch ein paar Vorher- Nachher-Fotos der leeren Anlage machen. Wenn er nicht selbst hineinkam, hatte er einen Kontakt in der Gewerkschaft, die die Hausmeister vertrat – hauptsächlich Schwarze Männer in einem gewissen Alter, die verschiedene städtische Gebäude putzten. Das Stadion war zwar in Privatbesitz, zur Putzkolonne gehörten aber einige, die einmal auf der Gehaltsliste der Stadt gestanden hatten.
Er holte seine Schwarz-Weiß-Fotos aus dem Stoppbad, streifte die überschüssige Flüssigkeit ab und hängte die Bilder zum Trocknen auf. Er wischte sich die Hände an einem Lappen ab und schaltete die rote Glühbirne an der Decke aus. Dann ging er in die eigentliche Küche hinaus und dachte darüber nach, ob er sich etwas zum Mittagessen machen oder zum Detour Diner ein paar Querstraßen von seiner Wohnung entfernt gehen sollte. Wenn er sich nicht irrte, war die Spezialität des Tages heute Hackbraten. Ein anämisches Wurstbrot hatte dagegen keine Chance.
Über einen seiner Polizeifunkscanner kam ein statisches Knistern. Er hatte vergessen, dass er noch lief.
»… wiederhole, Fahrer, weiß, männlich, Amerikaner, hat die Leitplanke durchbrochen und ist die Böschung hinuntergestürzt«, war gerade die nüchterne Stimme der Leitstelle zu hören. »Ford Mercury, zweifarbig, Rot auf Schwarz, Unfallstelle Mulholland nahe Kreuzung Outpost Drive. Wagen laut Zeugen gegen Baum geprallt …«
Ein Polizist in einem Streifenwagen antwortete, doch was auch immer er sagte: Ingram hatte das Gefühl, er befände sich unter Wasser, es klang gedämpft und zusammenhangslos. Der beschriebene Wagen war der von Ben Kinslow. Er rannte die Treppe zu seinem Auto hinunter, schaute in seinen Straßenatlas und fuhr los. Sein Mund war trocken, und er hatte Mühe, zu schlucken. Trotzdem fuhr er vorsichtig; er konnte nicht riskieren, dass ihn die Cops anhielten, bevor er zur Unfallstelle kam.
Er schlängelte sich nach Westen den Mulholland Drive hinauf in die Hollywood Hills. Hauptverkehrsstraßen, die vom Mulholland abzweigten, führten ins San Fernando Valley, wo die Reichen und Berühmten wohnten. Falls es in dieser Gegend Farbige gab, dann waren sie Hausangestellte.
Als er sich der Stelle näherte, sah Ingram einen Streifenwagen am Straßenrand stehen, ein weiterer ragte mit der Schnauze auf die Fahrspur heraus. Er fuhr vorbei, schaute aus seinem Seitenfenster, sah aber nur die gebrochene Leitplanke.
Ingram parkte hinter einer Kurve. Die Kamera um den Hals gehängt, schwang er ein Bein über die Leitplanke und arbeitete sich die Böschung hinunter. Es war hier nicht zu steil, und er konnte näher an das Autowrack herangehen. Ein Uniformierter stocherte um die Trümmer herum, aber einer der anderen Officers rief ihn zurück auf die Straße. Ingram hielt sich im Hintergrund, bis er weg war, dann setzte er sich wieder in Bewegung.
Der Mercury stand schräg gekippt, das Fahrwerk war sichtbar. Er war an einem dicken Baum zum Stehen gekommen. Ingram begann, Fotos vom Auto zu machen. Er war nicht erpicht darauf, seinen Freund tot im Wagen zu sehen, wahrscheinlich mit gebrochenem Genick vom Aufprall. Er brachte einige Schnappschüsse vom Fahrwerk zustande, ein paar davon Nahaufnahmen. Als er gerade wieder durch den Sucher schaute, dröhnte eine Stimme von oben.
»Hey, was machst du da unten?«
»Presse«, rief Ingram zu dem Cop hinauf.
»Von wegen.« Der Officer und zwei weitere kamen auf ihn zu. Ingram wandte ihnen den Rücken zu. Entweder jetzt, oder die Chance war verloren. Er zwang sich, ins Auto zu schauen. Dort saß Ben Kinslow, der Kopf seitlich am Lenkrad, seine offenen Augen starrten ins Leere.
Ingram schluckte Tränen hinunter und knipste ein paar schnelle Bilder von seinem toten Army-Kumpel. Ein cooler Typ, der sich unter Schwarzen wohlfühlte, weil er manchmal Trompete spielte. Oder vielleicht fühlte er sich auch einfach unter Schwarzen wohl und spielte nur zufällig die Trompete.
»Cool down papa, don’t you blow your top«, hatte Kinslow immer gern Nat King Cole zitiert. »Wir ziehen uns die Hose alle auf dieselbe Art an, oder, Junge?«
Eine Hand schloss sich um Ingrams Schulter, drehte ihn um.
»Wer zum Teufel bist du?«
Ingram zeigte dem Cop seinen Ausweis.
»Mist«, sagte der; unter seiner Mütze lugten seitlich blonde Haare hervor. Er sah die anderen beiden an. »Der Kerl sagt, er ist ein echter Zeitungsschreiberling.«
»Ja klar, so wie Clark Kent?«, fragte einer der anderen grinsend.
»Hat er ein S für Supernigger auf der Brust?«
»Hast du?« Der Dritte hatte seinen Schlagstock gezogen und stieß Ingram damit.
»Das dürfen Sie nicht«, sagte der Fotograf.
Blondie beugte sich vor. »Wir dürfen verdammt noch mal alles, was wir wollen, Ingram.«
»Gib uns die Kamera«, sagte der mit dem Schlagstock. Diesmal tippte er mit dem Ende des Gummiknüppels an Ingrams Brust.
Ingram übergab die Kamera. Blondie öffnete grob die Rückseite.
»Hey, Scheiße!«, protestierte Ingram.
»Halt die Klappe.« Der Schlagstock traf ihn hart am Körper, Ingram stöhnte.
Der Cop zog den Film aus der Rolle und setzte ihn dem Licht aus. Er warf ihn weg und betrachtete die Kamera. »Man sollte diesem Kerl mal beibringen, seine Nase nicht in Polizeiangelegenheiten zu stecken.«