Leseprobe

Er öffnete die Schublade unter dem Telefon und nahm den Revolver heraus, den er dort aufbewahrte, eine .38-Spezialanfertigung für die Polizei. Sechs glänzende Messingpatronen in metallisch blauem, gefrästem Stahl, hübsch. Er summte eine muntere Melodie, schob den Revolver in die hintere Hosentasche, den Zeigefinger durch den Henkel des Kaffeebechers, stieg die Treppe zum Dachboden hinauf, ließ sich in den Stuhl hinter seinem Schreibtisch fallen, und schaute durch das Fenster in den Hof. Sein Nachbar Jerry hatte einen Wagen aufgebockt und fummelte an den Bremsen herum.
Als Jerrys Vermieter irgendwann versucht hatte, Jerry rauszuschmeißen, weil er auf der Einfahrt sein kleines Geschäft betrieb, hatte Buck eingegriffen.
Aber in diesem Moment sah er Jerrys Grundstück durch die Augen des Vermieters, ein regelrechter Schrottplatz aus Autoleichen mit aufgeklappten Motorhauben, und überall Verteiler und Motoren und Reifen und Räder und Glas.
Das ganz normale Leben in Shakopee und im Reservat mit seinem Casino.
Er legte den Revolver auf den Tisch und lachte leise in sich hinein. Tja, Idiot, jetzt hast du’s geschafft. Er nahm einen Quarter aus der Schale, die Naomi ihm für sein Kleingeld hingestellt hatte und in der passenderweise ein Bild von ihr war. Ein Münzwurf. Warum nicht? Bisschen Risiko und Spaß, Kopf, und er würde sich nicht erschießen, Zahl, Lichter aus. War ja nicht schlimm, nur ein Jux.
Er balancierte den Quarter auf dem Daumen, hielt sich den Revolver an den Kopf, schnippte die Münze weg. Sie flog im Bogen über den Schreibtisch, drehte sich in der Luft und fiel auf die Schreibtischunterlage, wo sie weiterrollte und schließlich liegenblieb. Er beugte sich vor. Kopf. Tja, das löste gar nichts. Was nun, aller guten Dinge sind drei?
Wieder setzte er den Quarter auf seinen Daumen, schnippte die Münze weg, aber diesmal, noch bevor sie auf dem Schreibtisch aufkam, zog er schon fast den Abzug und jaulte leise auf, als er sah, dass schon wieder Kopf oben lag.
Er kratzte sich den Bauch und sagte fast kichernd: »Wenn es hart auf hart kommt, machen sich die Harten auf den Weg …«
Tja, steck dir das sonst wohin, Schwester Seraphim. »Gott hat einen Plan für dein Leben«, hatte sie gesagt. Verdammt. Wie oft würde er diesem verfickten »Plan« noch folgen müssen?
»Deine Art zu leben macht mir Angst. Ich halte es nicht mehr aus, mit dir zusammen zu sein. Nicht eine Minute länger.«
Und er hatte vor langer, langer Zeit beschlossen, dass er einen Plan Gottes oder des Universums oder Was-auch-immer-da-war, das ihn hier unten hielt, nicht für ausgeschlossen hielt.
Solange er gebraucht wurde, was, wenn Naomi meinte, was sie gesagt hatte, nicht mehr der Fall war, vielen Dank auch.
Bei dem Gedanken schnippte er die Münze ein drittes Mal, aber diesmal verstärkte er den Druck auf dem Abzug noch ein kleines bisschen, mogelte, jedoch – die Münze fiel auf die grüne Schreibtischunterlage, und wieder: Kopf.
Er hatte einen Revolver mit schwerem Abzug gekauft, damit Naomi sich nicht versehentlich erschießen konnte, so was kam nur allzu häufig vor. Schnippte die Münze ein viertes Mal. Beugte sich vor. Kopf. Im Ernst? Ein fünftes Mal, Kopf. Ein sechstes, Kopf. Und ein siebtes, immer nur Kopf, verdammt noch mal, bring’s endlich hinter dich, ja?!
Setzte sich wieder den Quarter auf den Daumen, acht, seine Glückszahl, rief: »Aber jetzt, acht!«, schnippte die Münze so hoch, dass sie an die Decke stieß, dann auf den Tisch fiel und sich immer und immer wieder im Kreis drehte, bis sie erschöpft auf die Seite kippte, und er, den Revolver an die Schläfe gedrückt und die Augen zusammengekniffen gegen den Lärm und die Brutalität der zu erwartenden Kugel, warf einen heimlichen Blick darauf.
Kopf.
Er schob den Stuhl nach hinten, dachte, tja, er hatte mit dem Ding noch nie geschossen. Vielleicht funktionierte es nicht?
Er richtete den Revolver auf den braunen Kunstledersessel in der Ecke, den er immer gehasst hatte, sagte leise kichernd: »Nimm das, hombre«, zog den Abzug durch und schoss ein faustgroßes Loch in die Kopfstütze, die Polsterung flog in alle Richtungen, und ein Sonnenstrahl fiel durch das Fenster.
»Meine Güte«, sagte er.
Mit klingelnden Ohren ging er ans Fenster, um nachzusehen, ob sein Nachbar den Schuss vielleicht gehört hatte.
Aber – nichts, Jerry stand über das Auto gebeugt, und im Hof streckte sich die rothaarige Streunerkatze, die er oft fütterte, in der Sonne.
Er schob den Revolver in die mittlere Schreibtischschublade, verschloss sie mit einem Schlüssel, der an seiner Schlüsselkette hing, und ging mit dem Kaffeebecher in der Hand runter in die Werkstatt, stand in der Tür, das spätvormittägliche Licht fiel durch die Blätter der Straßenbäume, die von innen heraus zu leuchten schienen.
Ihm ging auf, dass jetzt alles so aussah, ein Licht, das aus dem Abgrund seines Lebens strahlte.
Er schauderte. Vielleicht würde er eines Tages wissen, wozu das alles gut war – dass er nicht in seinem Arbeitszimmer gestorben war. Aber bis dahin – und wann hatte er je gewusst, zu was irgendwas gut war? – hatte er einiges zu erledigen. Die Schraubzwingen am Boot mussten abgenommen werden. Blieb nur zu hoffen, dass der Holzleim keine Flecken hinterlassen hatte – und dass die Linie vom Vorsteven zum Heck dem Augenmaß standhielt, was heute Morgen noch nicht der Fall gewesen war.
Der Kiel war eine komplexe Kurve, eine Linie durch drei Vektoren, das Heck den Wünschen des Designers entsprechend wie ein Champagnerkelch geformt, und da das Boot aus Eschenholz gebaut war, war es besonders leicht. Genau das machte es einzigartig. Ein Whitehall 14 war elegant wie ein Schwan, hielt eine Ewigkeit, drehte sich bei umgekehrtem Rudereinsatz voller Leichtigkeit, lag tief im Wasser und wich kaum vom Kurs ab.
Ein wunderschönes Whitehall, wie es sie in den Häfen von New York seit über einem guten Jahrhundert gab, und dieses hier war ein Fliegengewicht.
Mit diesem Gedanken und fast einer gewissen Ehrfurcht griff er zu seinem Werkzeug.