Leseprobe

©Christoph Kretschmer/Adobe Stock

Ein Feuerwehrmann rief ihnen etwas zu und sie traten zurück auf den Gehweg, weil ein Einsatzwagen versuchte, in drei Zügen auf der engen Straße zu wenden. Es herrschte ein wildes Durcheinander aus Feuerwehrwagen, Krankenwagen, Streifenwagen und Wasserschläuchen, uniformierte Polizisten sperrten den gesamten Bereich um das Haus ab.
Die Wohnungen ringsum waren bereits evakuiert worden, die Bewohner standen in den unterschiedlichsten Aufmachungen sichtlich erschrocken auf der Straße. Einige trugen Schlafanzüge oder Unterwäsche, hatten sich nur schnell eine Decke übergeworfen. Ein Mann im Nadelstreifenanzug war ohne Schuhe, nur mit Socken herausgelaufen, er hielt eine Katze im Arm.
Ein kräftiger Feuerwehrmann kam aus dem Haus, zog seinen Helm ab, die sandfarbenen Haare klebten ihm schweißnass am Kopf. Er spuckte ein paarmal aus und kam herüber.
»Ist jetzt einigermaßen sicher«, sagte er. »Ihr könnt nach oben gehen.«
McCoy nickte. »Gab’s Tote?«
»Einen«, sagte er. »Eine Hälfte klebt großflächig verteilt an der Wand, die andere liegt völlig verkohlt am Boden.«
Schon bei der Beschreibung drehte sich McCoy der Magen um.
»Gehört alles euch«, sagte der Feuerwehrmann und ging in Richtung des rückwärts rangierenden Feuerwehrwagens davon.
»Mist«, sagte McCoy. »Müssen wir da wirklich rauf?«
»Natürlich«, sagte Wattie. »Willst du lieber gleich kotzen gehen? Dann haben wir’s wenigstens hinter uns.«
»Klugscheißer«, sagte McCoy, der genau das am liebsten getan hätte. »Vielleicht sollten wir auf Faulds warten? Er ist schon unterwegs.«
»Fallen dir sonst noch Ausreden ein?«, fragte Wattie. »Oder war’s das jetzt?«
McCoy seufzte. »Okay, los.«
Sie schlängelten sich zwischen den Feuerwehrleuten durch, die gerade dabei waren, ihren Schlauch wieder aufzurollen, und verschwanden im Hauseingang. Wasser lief die Treppe hinunter, es stank nach Rauch und verbranntem Holz. Sie trotteten hinauf bis ins oberste Stockwerk, dem unausweichlich grauenhaften Anblick entgegen.
»Denkst du noch an heute Abend?«, fragte Wattie.
»Wie könnte ich’s vergessen?«, fragte McCoy. »Du erinnerst mich alle fünf Minuten daran. Ich werde, wie verabredet, um sechs Uhr bei deinem Dad sein.«
»Er hat einen Tisch beim Chinesen reserviert«, sagte Wattie. »In der Stadt. Ist halt billig.«
»Super«, erwiderte McCoy und beschloss, sicherheitshalber vorher zu essen. Bei dem Besuch eines China-Restaurants in Greenock, das sich vor allem dadurch auszeichnete, dass es billig war, schienen Verdauungsbeschwerden im besten und eine Lebensmittelvergiftung im schlimmsten Fall vorprogrammiert.
Sie waren jetzt auf dem obersten Treppenabsatz angekommen. Die Feuerwehrleute hatten die Wohnungstür aufgebrochen, sie hing völlig schief in den Angeln. McCoy versuchte es noch einmal.
»Wollen wir nicht lieber auf Phyllis Gilroy warten?«, schlug er vor. »Was verstehen wir schon von Sprengstoff-Opfern? Immerhin ist sie die Gerichtsmedizinerin, sie kann viel mehr ausrichten als du oder ich.«
Wattie seufzte, sah ihn an. »Hör zu, wenn du nicht da reinwillst, dann ist das okay. Aber ich gehe jetzt.«
»Wirklich?«, fragte McCoy. »Das wäre sup…«
»Na klar. Und nachher auf der Wache berichte ich Murray, dass mein befehlshabender Vorgesetzter zu viel Schiss hatte, um sich den Tatort anzusehen.«
»Allmählich wirst du ein richtig blöder Arsch, Watson«, erwiderte McCoy.
»Hab schließlich vom Besten gelernt. Bereit?«, fragte Wattie und stieß die Tür auf.
Die eine Hälfte der Wohnung sah ganz normal aus, in der anderen war alles schwarz verkohlt und triefte vor Wasser. Der Rauchgestank war hier noch intensiver, schlug ihnen sofort beim Eintreten entgegen und setzte sich in ihren Kehlen fest. Darunter lag noch ein anderer Geruch, erinnerte entfernt an einen Sonntagsbraten. McCoy zog ein Taschentuch hervor, hielt es sich vor Nase und Mund, was aber kaum half. Sie gingen durch den Flur ins Wohnzimmer, ihre Schuhe schmatzten auf der klebrig-schleimigen Schicht aus Asche und Wasser, die den Teppichboden bedeckte.
Die Bombe musste im Wohnzimmer hochgegangen sein. Die zerfetzten Vorhänge flatterten im Wind, wehten zu den scheibenlosen Fensterrahmen rein und raus. Auch die Matschschicht auf dem Boden war hier dicker, quoll ihnen über die Schuhe. McCoy folgte Wattie, hielt sich möglichst hinter ihm, sodass er nicht gut an ihm vorbeisehen konnte – er war ein paar Zentimeter größer als McCoy und deutlich breiter. Die Taktik funktionierte wunderbar, bis Wattie plötzlich in die Hocke ging, um eine halb geschmolzene LP aus dem Dreck zu fischen. Plötzlich hatte McCoy freie Sicht.
Die Tapete mit dem Bambusmuster am Kamin sah aus, als hätte jemand rote Farbe darauf verspritzt. Bevor er weggucken konnte, fiel sein Blick auf Haare und einen in der Wand steckenden Zahn. Auf dem Boden neben den Sofatrümmern lag etwas, das er zunächst für einen Haufen verbrannte Klamotten hielt. Dann sah McCoy ein bisschen genauer hin, entdeckte einen weißen Knochen daraus hervorragen und wich einen Schritt zurück. Der ihm bereits wohlvertraute Schwindel überfiel ihn.
»Paul McCartney. Ram«, sagte Wattie und sah auf das Cover der völlig verzogenen LP. »Grauenvoll«, und legte sie wieder in den Dreck. »Genau wie das Album, das ich nur gekauft hab, weil du mich bequatscht hast. Was war das noch mal? Inside Outside? Oh Mann! Bei dir alles klar?«, fragte er.
McCoy war an die Wand zurückgewichen, zählte seine Atemzüge und konnte eine Ohnmacht nur mit Mühe unterdrücken. Er bekam gerade so noch ein Nicken hin, hielt sich erneut das Taschentuch vor die Nase, versuchte möglichst, den Roastbeef-Gestank nicht einzuatmen. Er sah sich im Raum um, sorgsam bemüht, an den sterblichen Überresten des ehemaligen Bewohners vorbeizugucken. Die Wohnung sah aus wie jede andere in Woodlands. Verblichene Tapete, ein kleiner Gaskocher, ein eingesunkener Sessel, Wasserflecken an der Decke und an den Wänden. Warum sollte jemand eine Bruchbude wie diese hier in die Luft jagen?