Kapitel Zwei

Alte Schreibmaschine
©Christoph Kretschmer/Adobe Stock

Am nächsten Morgen wurde ich von einem weiteren Anruf geweckt.

Ich drehte mich um, ließ die Finger über den Teppichboden wandern und tastete blind nach meinem Handy. Da es früher Samstagmorgen war, vermutete ich, es wäre einer dieser total nervigen Roboter-Werbeanrufe, die mir schon seit Monaten auf die Eier gingen. Immer aus einer anderen Stadt, in der ich noch nie gewesen war, für gewöhnlich immer dieselbe Nachricht: Hallo, Mr. Miller. Hier spricht Soundso, ich rufe nur kurz zurück wegen dieses einmaligen Zehntausend-Dollar-im-Monat-Jobs, nach dem Sie sich erkundigt hatten … 
Ob nun Roboter oder nicht, ich war drauf und dran, dem Anrufer mitzuteilen, er oder sie könne sich diese Zehntausend in seinen beziehungsweise ihren virtuellen Arsch schieben, bis ich auf dem viel zu hellen Display die Worte »Flint Creek Police Department« sah. Jetzt war ich neugierig, also ging ich ran.
Die Stimme eines Mannes erkundigte sich, ob er mit Hudson Lee Miller spreche. Ich grunzte zustimmend und fragte mich, warum der Typ auch meinen zweiten Vornamen nannte.
»Mr. Miller, mein Name ist Travis Watson, ich bin Officer des Flint Creek Police Department.« Es folgte ein kurzes Schweigen. Bevor ich eine Antwort herausbrachte, fuhr er fort. »Normalerweise überbringen wir Nachrichten wie diese lieber persönlich, da Sie jedoch nicht in der Nähe wohnen …«
»Nachrichten?« Ich stemmte mich auf einem Ellbogen hoch. »Wovon sprechen Sie?«

»Ihr Vater wurde heute Morgen in eine gewalttätige Auseinandersetzung verwickelt, Mr. Miller.« Der Beamte räusperte sich. »Vielleicht ist Auseinandersetzung nicht ganz das richtige Wort …«
»Geht’s ihm gut?«, fragte ich und erinnerte mich an die unbeantworteten Anrufe vom Vorabend.
»Ich fürchte nein«, sagte er. »Ihr Vater wurde Opfer einer Schießerei. Unten auf seinem Schrottplatz. Er … äh … nun, als die Sanitäter dort eintrafen, hatte er keinen Puls mehr.«
Inzwischen war ich ganz aufgestanden, aber die Worte des Cops hatten sich in den Spinnweben meines leicht verkaterten Hirns und der frühmorgendlichen Vernebelung verheddert. Ich bat den Beamten, das noch mal zu wiederholen.
»Der Mann, der bei Ihrem Vater arbeitet, Charlie Shoaf, ist wie üblich gegen Viertel vor acht zum Schrottplatz gekommen und hat Ihren Vater leblos im Büro vorgefunden. Er lag auf dem Bauch, reagierte nicht und blutete am Kopf. Höchstwahrscheinlich eine Schussverletzung.«
Dieses Mal entfalteten seine Worte die volle Wirkung und lähmten mich fast wie ein linker Leberhaken. »Jemand hat auf ihn geschossen«, brachte ich heraus. Eine Feststellung. Eine Frage.
»Ja, einmal. Von hinten, soweit wir das sagen können. Und was das Warum betrifft – es könnte ein Raubüberfall gewesen sein, der gründlich danebenging. Mr. Shoaf fand die Registrierkasse weit geöffnet und leer wie das Grab Gottes vor. Die Hintertür stand ebenfalls offen.«
Ich schluckte schwer, schloss die Augen, flüsterte »Heilige Scheiße« und fragte dann mit schwacher Stimme, ob meine Stiefmutter Tammy bereits Bescheid wisse.
»Vermutlich. Chief Coble ist vor Kurzem zu ihr rausgefahren.« Im Hintergrund hörte ich eine weitere Stimme, gedämpfte Worte, als würde jemand eine Hand über die Sprechmuschel legen. »Sie wohnen immer noch in Greensboro, ist das richtig?«
»Ja, richtig, in Greensboro.«
»Sie sollten vielleicht zum Haus Ihres Vaters fahren. Natürlich erst, wenn Sie sich dazu in der Lage fühlen. Der Chief wird versuchen, Ihnen alle möglicherweise bestehenden Fragen zu beantworten.«

Herr im Himmel und Ich bin so bald wie möglich dort, Officer lagen mir auf der Zunge, aber stattdessen nuschelte ich irgendetwas, das nichts von beidem war, und beendete das Gespräch mit der jähen Erkenntnis: Ich habe keinen Dad mehr. Ich stellte mir vor, wie Dad auf dem blutgetränkten Betonboden lag. Ein bewaffneter und maskierter Eindringling räumte die Kasse aus und verschwand durch den Hintereingang. Tauchte ab.
Ein Mörder. Nicht das halbe Päckchen Marlboro Reds pro Tag, nicht der Mikrowellenfraß und der billige Whisky hatten Dad umgebracht, wie ich es immer erwartet hatte.         Ich hatte mehr oder weniger mit einem Anruf und schlechten Nachricht gerechnet. Allerdings nicht von meinem Dad oder der Polizei, sondern von meiner Stiefmom, die vor sechs Monaten und davor vor über einem Jahr angerufen hatte, um mir von Dads Herzinfarkten zu berichten. Es schien unausweichlich, dass es einen weiteren geben würde, der ihn dann endgültig erledigte. Und warum auch nicht? Nach allem, was ich wusste, hatte er nach den ersten beiden weder mit der Qualmerei noch mit dem Saufen aufgehört.
In Anbetracht des Schusses schien das alles aber keine Rolle mehr zu spielen.
Aber warum hat er mich gestern Abend angerufen? 
Ich stand vom Schlafsofa auf, völlig aus dem Gleichgewicht, fühlte mich beschissen, die Rippen pochten. Ich fand ein Fläschchen Ibuprofen auf dem Boden, kippte vier Pillen auf meine Handfläche und schluckte sie trocken. Vier war die magische Zahl, die ich nach meinen Boxkämpfen immer nahm, aber ich hatte sie kaum geschluckt, als mir wieder Bilder von Dads Leiche durch den Kopf schossen. Der Betonboden. Das in den Ritzen versickernde Blut. Ich stürzte zum Mülleimer neben dem Schrank und entsorgte eine Magenladung Alk und Lo-Mein-Nudeln.
Im Bad putzte ich mir die Zähne und stellte mein Telefon auf lautlos. Ich wischte ein paar Barthaare von der Ablage und legte das Telefon verkehrt herum neben das Waschbecken. In einer kleinen Stadt wie Flint Creek verbreiten sich Neuigkeiten schnell; mit Facebook und Co. wäre es ein Wunder, wenn es nicht spätestens mittags der halbe Bundesstaat wüsste. Ich war nicht bereit für Anrufer, die Beileid oder Bestürzung ausdrücken oder Fragen stellen wollten, die ich beim besten Willen nicht beantworten konnte.

Ich duschte heiß und saß mit angezogenen Knien in der Wanne, während sich das Wasser in meinen Haaren sammelte und über mein Gesicht lief. Die letzten Jahre hatte ich fast kein Wort mit meinem Vater gewechselt, war die meiste Zeit meines Lebens kaum mit ihm ausgekommen, hatte aber trotzdem das Gefühl, ich sollte weinen. Fast zwang ich mich zu weinen – rümpfte die Nase, kniff die Augen zu –, aber es kamen keine Tränen. Nur Duschwasser.