Leseprobe

©Christoph Kretschmer/Adobe Stock

»Einstein!«, rief sie und kam sich blöd vor. Der Name war Hannahs Idee gewesen. Sie hatten bereits eine Katze namens Schrödinger, und anscheinend hatten sich der echte Schrödinger und der echte Einstein nicht besonders verstanden, also leuchtete die Namensgebung durchaus ein. Einstein tappte den Leamington Walk hinunter, die Nase immer dicht über dem Boden, während er hin und her lief. Dorothy sah an ihm vorbei zum Turm der Viewforth Church, dann über die weite Fläche der Meadows und noch weiter dahinter zum Edinburgh Castle, das über der Stadt hockte und von dem aus sich die Royal Mile wie das Rückgrat eines großen schlafenden Drachens zog.
Es war eine so wunderbare Stadt, deren Teil man war, aber man vergaß es leicht, wenn man seinem Alltag nachging. In Dorothys Fall bedeutete dies, die Toten zu beerdigen und die Hinterbliebenen in dem Bestattungsunternehmen zu trösten, dessen Sitz sich in ihrem Haus direkt hinter ihr befand. Aber dieses frühmorgendliche Ritual, die frische Luft und die weite, offene Fläche, das gemähte Gras, die Eichen und Platanen, die unglaubliche Aussicht, das alles erinnerte sie immer daran, was für ein Glück sie hatte.
Einstein blieb an einem Baum stehen und hob ein Bein, wobei seine Bewegung wegen des fehlenden Auges ein wenig unbeholfen war. Dorothy drehte sich zu dem Haus hinter ihr um. Drei Etagen viktorianisches Stadthaus aus dunklem Backstein, seit hundert Jahren im Besitz der Familie Skelf, wo sie ein Bestattungsunternehmen und in jüngerer Zeit zusätzlich eine Detektei führte. Dorothy dachte daran, wie sehr sich ihr Leben in den letzten beiden Jahren verändert hatte, von der Unterstützung ihres Mannes Jim bei den Vorkehrungen für Bestattungen bis zur Übernahme beider Geschäftszweige nach seinem Tod, als sie ihre Tochter Jenny und Enkelin Hannah einspannte, um ihr zu helfen.
Sie stellte sich Jenny vor, die im ersten Stock noch im Bett lag. Sie stellte sich Hannah schlafend in ihrer gemeinsamen Wohnung mit Indy vor, zehn Minuten zu Fuß um die Meadows. Das war heutzutage ein weiteres ihrer Morgenrituale, sich die Stadt schlafend auszumalen, während sie selbst wach war.
Sie sah zum obersten Stockwerk des Hauses, zu dem Studio, in dem ihr Schlagzeug stand, wo Abi auf dem Futon schlief, eine ihrer Schülerinnen im Teenager-Alter, die vor einem Jahr einen Platz zum Pennen gebraucht hatte und dann nicht mehr gegangen war. Und sie dachte an Archie, ihre rechte Hand im Bestattungsunternehmen, der am anderen Ende der Stadt wohnte und sich bald aufmachen würde zu einem weiteren Tag Särge bauen, Verstorbene einbalsamieren, Leichen für die Aufbahrung vorbereiten, all die kleinen Dinge zu tun, die es ein wenig leichter machten, mit einem toten Verwandten oder Freund umzugehen, wenn sie nur gut zurechtgemacht waren. Dorothy dachte an ihre eigene Trauer. Nur weil sie eine Expertin bei anderen Leuten war, musste sie ja nicht unbedingt wissen, wie sie mit sich selbst klarkam.
Sie registrierte, dass sie immer noch den schwarzen Beutel mit Einsteins Kacke in der Hand hielt, also ging sie zu der Mülltonne für Hundekot und ließ ihn dort hineinfallen. Sie schaute sich nach dem Hund um, sah seinen schwarz-weißen Schwanz zwischen den Kiefern an der Ecke verschwinden. Dahinter befand sich Sam’s Coffee Box, die alte, umgebaute Polizei-Telefonzelle, und die öffentliche Toilette. Einstein schnüffelte immer dort herum, manchmal raste er hinter einem Eichhörnchen her oder bellte eine Ringeltaube in den Bäumen an. Sie betrachtete eine Weile Gestrüpp und Bäume, aber nichts rührte sich.
»Einstein.«
Ein Bus rumpelte Bruntsfield Place hinunter. Der Van eines Raumausstatters fuhr vorbei, und sie entdeckte sofort zwei grammatische Fehler in dem Werbespruch auf der Seite.
Zwischen den Bäumen immer noch keine Bewegung.
»Einstein.«
Sie setzte sich zu den Kiefern in Bewegung, blickte auf den Boden unter ihnen, nur Moos und Nadeln. Je näher sie kam, desto besser konnte sie zwischen die Stämme sehen, aber von dem Hund immer noch keine Spur.
»Einstein.«
Sie erinnerte sich, wie sie ihn das erste Mal gesehen hatte, sein beunruhigtes Gesicht, als er den Kopf vom Rücksitz eines verunglückten Autos nach vorn streckte und seinen toten Besitzer beschnüffelte.
Sie spürte ein Ziehen im Bauch und erkannte, wie sehr sie den Hund und seine frühmorgendlichen Verfolgungsjagden ins Herz geschlossen hatte, wie er Schrödinger in dem Versuch, sich bei ihm einzuschmeicheln, im Haus ständig hinterherlief, worauf der Kater nur noch genervter reagierte.
Sie war bereits halb zwischen den Bäumen, als Einstein wiederauftauchte und im Takt seiner trabenden Pfoten mit dem Kopf wippte.
Zuerst empfand Dorothy Erleichterung, dann etwas anderes. Der Hund hatte etwas im Maul. Hatte er es doch noch geschafft, ein Eichhörnchen zu fangen? Vielleicht war aber auch ein kleiner Vogel aus einem Nest gefallen. Sie war es eher gewohnt, dass Schrödinger ihr kleine tote Gaben brachte.
Als Einstein näher kam, sah sie die Farbe, ein helles Pink, etwas Rot, und sie schluckte schwer. Der Hund erreichte sie, sah erwartungsvoll zu ihr auf, hielt das Ding fest zwischen seinen Zähnen.
Dorothy spürte, wie ihr wieder übel wurde.
»Aus«, sagte sie und zeigte auf den Boden.
Einstein schien verunsichert, wollte seine Beute nicht aufgeben.
»Aus!«, wiederholte Dorothy schärfer.
Einstein senkte den Kopf und legte den Gegenstand aufs Gras, schaute mit seinem einen Auge auf und wollte gelobt werden. Dorothy ging in die Hocke und berührte geistesabwesend seinen Kopf. »Braver Junge.«
Sie kraulte das Ohr des Hundes und starrte das Ding an. Es war lädiert, ein Ende war stark angeknabbert, die Haut grau, aber es gab keinen Zweifel.
Es war ein menschlicher Fuß.