Leseprobe
»Das war nicht das erste Mal, dass ich Sie schreien gehört habe«, sagte ich mit einer Stimme, so ausdruckslos und kontrolliert wie ein Metronom.
»Nein.«
»Möchten Sie mir erzählen, was passiert ist?«
»Ich weiß nicht.«
Sie sah mich an, mit haarverdeckten Augen; ich gab nach und schenkte mir einen Drink ein. Nur ein oder zwei fingerbreit, anständig, obwohl das hier nichts mit Anstand zu tun hatte.
»Sie müssen sich nicht entschuldigen«, sagte ich, oder vielleicht dachte ich es auch nur – aber, wie dem auch sei, etwas löste sich. Sie nahm einen weiteren Schluck Whiskey und begann zu sprechen, Worte, die wie das tiefe Summen von Moskitos klangen, schwer einzuordnen und doch ganz deutlich.
»Mein Vater ist gestorben«, sagte sie.
»Das tut mir leid.«
»Ist ein paar Monate her.« Sie schenkte sich noch etwas Whiskey ein und trank erneut, als würde sie Kraft schöpfen. »Ich mochte ihn nicht.« Sie hob den Blick, um meine Reaktion einzuschätzen.
»Was ich meine ist, wir standen uns nicht nahe.«
Ich wusste, was sie meinte; mir ging es mit meinen Eltern genauso, obwohl ich das nicht erwähnte. Ich reagierte nicht, saß einfach nur da, wartete ab und versuchte, neutral zu wirken, so als wäre ich gar nicht da.
»Er hat mir eine Menge Geld hinterlassen«, fuhr sie fort, »doch seine Frau ficht das Testament an.«
Geld?, dachte ich, sagte aber nur: »Ihre Mutter?«
»Nein, sie ist auch schon tot. Ist gestorben, als ich fünfzehn war. Ich spreche von seiner zweiten Frau.«
»Muss kompliziert sein«, meinte ich, bemühte mich um einen ausdruckslosen Tonfall und sah ihr in die Augen.
»Kompliziert beschreibt es nicht einmal annähernd. Sie behauptet, dass ihr alles zusteht. Sagt, er wäre dabei gewesen, sein Testament umzuschreiben, und hätte geplant, mich zu enterben. Das lässt sie durch ihre Rechtsanwälte ausrichten, und dann ruft sie mich an und sagt es mir selbst noch mal. Damit hat das Schreien angefangen.«
Sie grinste mich an, mit ihren dunklen Augen, die Mundwinkel leicht heruntergezogen, nur einen Tick schlampig. Ich spürte das Verlangen aufflackern wie eine Flamme. Es begann mitten im Magen, bereitete sich dann in einer Welle über meine Brust aus, bis in die Finger, wie eine Art Strom oder Ekzem. Es war schon so lange her, seit ich mit irgendwem zusammen gewesen war. Das letzte Mal mit meiner Frau war in jeder Hinsicht ein Fiasko gewesen. Und hier saß sie nun, die Frau von gegenüber, einen Meter entfernt, in meinem eigenen Wohnzimmer, und der Duft ihres Parfums – blumig, leicht, knapp über der Schwelle, sodass man ihn wahrnahm – erfüllte die Luft zwischen uns wie der Gesang einer Sirene. Sie sah mich an, als wartete sie auf eine Reaktion. Sie sah mich an, als wäre es ein Test. Warum erzählen Sie mir das alles?, wollte ich sie fragen, aber dann hatte ich eine … ich weiß nicht, wie man das nennen soll, keine richtige Vorahnung, eher eine Warnung. Nicht, dachte ich, tu’s nicht. »Ich kenne noch nicht einmal Ihren Namen«, sagte ich.
Da lachte sie wieder, es klang heiter, doch mit etwas gemischt, einem Hauch Wehmut, oder vielleicht Verzweiflung. »Corrina«, antwortete sie. »Wie der alte Song von Bob Wills.«
Bob Wills? Das hatte ich nicht erwartet. Es war, als sähe ich sie in einem neuen Licht. Ich kannte diese Aufnahme, hatte sie schon viele Male gehört. Und mir kam kurz der Gedanke, ich könnte sie ihr vorspielen, wie zum Beweis, doch verwarf ihn genauso schnell wieder.
Mittlerweile war Elmore James von Robert Johnson abgelöst worden und nun lief der Song Kind Hearted Woman. Ich lauschte einen Moment dem leisen Klagen seines Gesangs und dem stetigen Klirren der Gitarre. Dieser Song war in einem Hotelzimmer aufgenommen worden, kurz bevor Johnson an Syphilis starb oder von dem eifersüchtigen Freund einer Geliebten vergiftet wurde oder Satan an der Weggabelung auftauchte, um seine Seele zu beanspruchen. Alles davon inzwischen im Nebel der Mythen oder Geschichten verloren. Die Geschichte mit der Weggabelung hatte mir nie gefallen, nicht weil ich nicht an den Teufel glaubte – obwohl dem so war –, sondern weil es Johnson nicht genug Handlungsfähigkeit verlieh. Es machte ihn zu einem passiven Empfänger seines eigenen Schicksals.
Seine Seele zu verkaufen war zu einfach. So simpel war das Leben nicht.
»Und, was wirst du jetzt tun, Corrina?«, fragte ich, als würden wir uns schon lange kennen, als wären wir alte Freunde. Die Frage lag da zwischen uns auf dem Tisch, neben dem Eis und den Gläsern, wie etwas, das man sich teilte.
»Ich weiß nicht«, sagte sie. »Vermutlich könnte ich sie jederzeit umbringen. Oder sie umbringen lassen.« Sie verstummte und sah mich direkt an, die Augen so klar wie fließendes Wasser. Dann hob sie lässig das Glas, als wolle sie anstoßen, oder wie zum Gruß.
Und vielleicht hätte ich da etwas sagen sollen. Nein, überhaupt kein Vielleicht. Doch da stand etwas im Raum zwischen uns, mehr als nur Schweigen, als wäre ein Fehdehandschuh geworfen worden. Ich hatte genug Erfahrung, um die Sache ernst zu nehmen; wir kannten einander nicht, und vermutlich hatte sie getrunken, oder Drogen genommen, bevor sie zu mir gekommen war. Doch es gibt Augenblicke, in denen es eine Rolle spielt, ob man etwas sagt oder nicht, und dieser Augenblick fühlte sich so an.
Machen Sie Scherze? Sie machen doch Scherze. So etwas hätte ich sagen können. Oder: Das ist nicht lustig, darüber macht man keine Witze. Als der Augenblick sich in die Länge zog, verdunstete die Möglichkeit, ihn auszufüllen, und alles, was blieb, machte mich zum Komplizen.
Komplizen? Ja, weil ich weder die Richtung noch das kollektive Bewusstsein verändert hatte. Stattdessen gab meine Unfähigkeit oder Unwilligkeit zu antworten dem Moment eine Form und verwandelte ihn in etwas anderes, als er gewesen war, etwas, das sie und ich nun teilten.