Leseprobe

Die Mission Road war eine alte Straße, die entlang des Südhangs der Northern Divide verlief, etwa eine Meile vom Springfield River entfernt. Ihren Namen hatte sie von evangelikalen Mormonen aus Salt Lake City erhalten, die um 1880 in den Norden gezogen waren, mit dem Traum, ein bäuerliches Utopia aufzubauen. Die Provinzregierung überließ ihnen eintausend Acres Land, auf denen sich die ersten zehn Familien niederließen, etwas über einhundert Menschen.
Sowohl die Siedlung als auch die von den Mormonen angelegte Straße erhielten den Namen Mission. Der Springfield River lag so weit entfernt, dass das Klonkern und Zischen der Sägewerke nur in der Ferne zu hören waren, die Schwefeldämpfe der Papiermühlen nur an Tagen mit Ostwind zu riechen waren. Jahrzehntelang gab es zwischen Springfield und der Mormonensiedlung kaum Kontakte.
Das Erste, was die Siedler bauten, war ein Tabernakel aus Scheitholz. Danach kamen Scheunen und Silos, Holzhäuser mit vielen Seitenflügeln, wurde auf hundert Acres für den Verkauf bestimmtes Getreide angebaut – Weizen, Heu, Hanf –, auf weiteren zwanzig Kartoffeln, Rüben und Karotten, die als Wintervorrat in Erdkellern eingelagert wurden. Dank ihrer harten Arbeit, ihres Glaubens und des aus Utah mitgebrachten Vermögens dauerte es mehrere Jahre, bis den Mormonen aufging, dass sie nicht genug ernteten, um überleben zu können.
Sie waren hereingelegt worden, genau wie die anderen Farmer, die sich durch die Aussicht auf staatliche Landzuteilung an die Northern Divide hatten locken lassen. Entsetzt begriffen sie, dass das Land, das sie für so fruchtbar, für ein Gottesgeschenk gehalten hatten, nichts als Täuschung war. Unter einer dünnen Schicht fruchtbarer schwarzer Erde lag felsiger Untergrund aus Granit und Gneis, sodass sich der Boden nach einigen Jahren der Beackerung in feinen Sand verwandelte und davonwehte.
Yakabuski hatte die Farmer nie verstanden, die trotzdem nicht aufgaben. Die Dickköpfe, die über Generationen hinweg weitermachten und sich nie eingestanden, dass man sie an der Nase herumgeführt hatte. Die, die am längsten durchhielten, galten jetzt als Gründerfamilien aller möglichen kleinen Dörfer entlang der Northern Divide. Straßen waren nach ihnen benannt, Messingtafeln erinnerten an sie. Einige waren in Volksbüchern verewigt worden, die man manchmal als Sonderposten vor Hockeystadien oder an Tankstellen finden konnte. In Yakabuskis Augen eine schlechte Entschädigung dafür, dass in den Familien über fünf Generationen nichts als Armut und Mühsal weitervererbt worden waren. Er wusste, dass manche das anders sahen.
Die Mormonen gehörten zu den Dickköpfen. Obwohl ihnen klar war, dass man sie aufs Kreuz gelegt hatte, hielten sie weitere dreißig Jahre durch. Sie beteten im Tabernakel um Regen, Sonne, Torf, was immer sie retten konnte. Und wenn sie nicht beteten, schufteten sie auf ihren Steinfeldern. Am Ende hatten sie das Schlafen und Essen aufgegeben, wälzten sich im Dreck und sprachen in Zungen, lebten in einer Welt aus Fieberwahn und Gottesglauben, aber nicht einmal das konnte sie retten.
1919 kam der Sheriff von Springfield County und zwang sie, das Land zu räumen, wegen Steuerschulden. Da ihnen das Geld fehlte, um die Divide zu verlassen, suchten sich die Männer Jobs in den Sägewerken, wo sie wegen ihrer seltsamen Kleidung verprügelt wurden; die Frauen fanden Arbeit als Küchenmädchen oder Tellerwäscherinnen oder als Huren in Bordellen, die den Shiners gehörten.
Yakabuski fragte sich, warum die Mormonen es trotz all ihrer Gebete nie verstanden hatten. Schlechtes Land bleibt schlechtes Land. Gott überlegt es sich nicht anders.
• • •
Inspector Fraser Newton erwartete Yakabuski auf dem Parkplatz am Startpunkt der Mission Road. In der Nacht war Schnee gefallen, die Fichten waren weiß bestäubt. Leichter Nebel strich über die oberen Zweige, vermischte sich mit den kalten Abgasen der Polizeiwagen im Leerlauf und dem Atem der Menschen, die die Gegend um den Pfad absuchten.
»Hab gehört, ein Junge wird vermisst«, sagte Newton, als sich Yakabuski zu ihm gesellte. Beide stapften mit den Füßen und rieben die behandschuhten Hände.
»Jason McAllister«, erwiderte Yakabuski. »Zweiundzwanzig Jahre alt. Studiert an der Syracuse. Er ist vor einer Woche hergekommen und seitdem nicht mehr gesehen worden.«
»Wir sind seit fünf Tagen hier.«
»Wie weit seid ihr vorangekommen?«
»Noch keine Meile.«
»Habt ihr menschliche Spuren auf dem Pfad gesehen?«
»Jede Menge. Der Pfad wird das ganze Jahr hindurch benutzt. Wenn du mich fragst, muss man verrückt sein, um sich bei solchem Wetter hier rumzutreiben.«
»Habt ihr schon von Anfang an Flatterband gespannt?«
»Ja. Mittlerweile sind die ersten Gaffer da.«
»Was erzählt ihr denen?«
»Seit heute Morgen, dass wir nach deinem vermissten Jungen suchen. Davor, dass wir in einem Mordfall ermitteln.«
»Ganz schön erfinderisch, Newt.«
»Findest du? Meinst du nicht, dass an der Mission Road mit Sicherheit ein paar Leichen rumliegen, Yak?«
Yakabuski gab keine Antwort, aber er verstand Newton. Der Wald hatte sich die alte Bauernsiedlung Mission nicht wieder einverleibt, sie lag etwa zwanzig Meilen vom Beginn des Pfads entfernt und war heutzutage eine Gated Community, hinter deren Zäunen einige der teuersten Villen von Springfield lagen.
Die alte Siedlerstraße selbst, hoch in den Hügeln mit Blick auf Springfield gelegen, hatte sich im Lauf der Zeit noch in mehrfacher Hinsicht als nützlich erwiesen. Die Shiners hatten entlang der Mission Road jahrzehntelang Schnapsbrennereien und Spelunken betrieben. Während beider Weltkriege hatten sich dort Kriegsdienstverweigerer versteckt. Und in den Dreißigerjahren hatten in den Höhlen unweit der Straße Mitglieder der Ma-Racine-Gang gehaust, die von den Mounties gejagt wurden.
Gegen Ende des letzten Jahrtausends hatte man zwanzig Meilen der alten Straße in einen Wander- und Mountainbike-Pfad umgewandelt, doch Newton hatte recht. Wenn die Polizei behauptete, auf dem Pfad einen alten Mord untersuchen zu wollen, belog sie niemanden.
»Und da jetzt tatsächlich jemand vermisst wird, lässt sich die Geschichte noch leichter verkaufen«, fuhr Newton fort, »aber ich rechne trotzdem jederzeit damit, dass bald ein paar Fernsehfritzen auftauchen und nach den Diamanten fragen.«
»Und wie läuft die Suche danach?«
»Nicht gut, Yak. Leider. Die Shiners kennen diese Hügel besser als jeder andere, es gibt also unzählige Stellen, an denen Morrissey die Dinger versteckt haben könnte.«
»Hat Griffin Berechnungen angestellt?«
»Hat sie. Danach hat Morrissey hier oben zwischen vierzehn und sechzehn Minuten Zeit gehabt, höchstens.«
»Und was bleibt dann?«
»Drei Meilen den Pfad runter, wenn die Diamanten direkt am Weg versteckt wurden. Wenn man Zeit und Entfernung zusammennimmt, ergibt das vom Beginn des Pfads aus in jede Richtung eintausendeinhundert Yards.«