Prolog

Vorsichtig sah Amir auf. Ein paar wimmernde Barbesucher robbten links von ihm durch Glassplitter, suchten Schutz hinter Tischen. Ihre blutigen Handflächen schienen sie nicht zu bemerken. Im Augenwinkel sah er ein paar junge Frauen in Richtung Ausgang rennen, der Mann, der Wache stand, ließ sie hinaus.
Ich muss auch raus. Jetzt.
Voller Verzweiflung ging Amir auf alle viere und begann, zum Ausgang zu kriechen. Übelkeit überkam ihn, alles verschwamm vor seinen Augen. Er drehte sich auf die Seite und erbrach eine Mischung aus Essensresten, Alkohol und Galle. Da fielen ihm plötzlich die anderen ein. Ob die immer noch da oben waren? Als er sich zur Treppe umdrehte, traf ihn etwas mit enormer Wucht ins Kreuz. Er wurde nach vorn geschleudert und schlug mit dem Gesicht auf dem Parkett auf. Wieder füllten sich Nase und Mund mit warmer Flüssigkeit.
Blut. Jetzt hat’s mich erwischt. Die haben mir in den Rücken geschossen.
Ein stechender Schmerz durchfuhr seinen Körper. Um ihn herum nahm er wahr, wie schreiende, um ihr Leben rennende Menschen flüchteten, doch Amir konnte sich nicht mehr bewegen.
Kapitel 1
Nizza, Freitag, 12. Juni 2015
Um die Mittagszeit landete das Flugzeug in Nizza. Sie wurden am Ausgang abgeholt, an erwartungsvollen, fröhlichen Touristen und gestressten Geschäftsleuten vorbeigelotst und zu einem schwarzen Citroën C5 gebracht. Freundlich lächelnd hielt ihnen ein Chauffeur die Wagentür auf. Schon auf der gut vierzig Minuten langen Fahrt nach Cap d’Antibes floss der Champagner.
Amir Yasin saß eingeklemmt zwischen seinen Freunden hinten auf dem Rücksitz und versuchte zu vermeiden, die weißen Ledersitze zu bekleckern. Das bekannte Gefühl von prickelnder Vorfreude auf den Urlaub hatte sich bereits eingestellt.
Rechts von Amir saß sein engster Freund, Manfred Halvarsson, ein blasser Mann, fünfunddreißig, den erstaunlich viele Menschen für fade und langweilig hielten. Doch weit gefehlt, Manfred konnte sehr unterhaltsam sein. Sein Lehrauftrag für Zivilrecht an der Uni war genau das Richtige für ihn, obwohl er immer wieder behauptete, dass ihm jede Form von Unterricht verhasst sei, ebenso wie die meisten seiner Kollegen und mit wenigen Ausnahmen auch alle Jurastudenten.
Zu Amirs Linken saß der Mann, der der eigentliche Grund für ihre Reise war: Fredrik Cederbeck, der in wenigen Wochen in der Storkyrka in Stockholm den Bund der Ehe schließen wollte. Dass Fredrik heiraten würde, hatte sie alle überrascht, ihn selbst möglicherweise auch. Amir vermutete, dass Fredriks Eltern am Ende ein Machtwort gesprochen hatten und der Sohn sich nun endlich in das Bild der so erfolgreichen Familie Cederbeck einfügen sollte. Nicht dass der Sohn ein schwarzes Schaf gewesen wäre, er hatte durchaus seinen Platz im Unternehmensimperium der Familie gefunden, auch wenn er die Prüfungen in Wirtschaftswissenschaften nur mit Ach und Krach bestanden hatte. Das Problem war eher, dass er in den vergangenen sechs Jahren zwei Kinder mit einer der Sekretärinnen gezeugt hatte, ohne auch nur einen Gedanken an eine dauerhafte Beziehung zu verschwenden. Zumindest nicht mit ihr. Nachdem Fredrik Sophie kennengelernt hatte, war die Zeit also reif, solide zu werden.
Vom Vordersitz ertönte eine helle und etwas leiernde Stimme.
Carl Ludwig Bergenrud erklärte dem einheimischen Chauffeur mit großem Engagement und in einwandfreiem Französisch, wie sich die französische Innenpolitik unter Präsident Hollande verändert hatte. Der Chauffeur gab hin und wieder höflich ein paar zustimmende Laute von sich.
Im selben Takt, in dem sich die Champagnerflaschen leerten, näherten sie sich ihrem Fahrtziel. Der Fahrer drosselte das Tempo, als sie durch die pittoresken Gassen von Antibes fuhren und die stattliche Burganlage passierten. Überall saßen Menschen und genossen unter rot-weiß gestreiften Sonnenschirmen ein spätes Mittagessen.
»Und ich habe immer behauptet, Stockholm sei die schönste Stadt der Welt.«
Grinsend lehnte Fredrik sich durch das offene Wagenfenster, während sie auf der kurvigen Küstenstraße zu der Halbinsel Cap d’Antibes weiterfuhren. Segelboote und Jachten glitten langsam über die grün schimmernde Wasseroberfläche. Vor ihnen lagen einige der teuersten Villen der Welt, inmitten von Felsen und blühender Vegetation. Die meisten waren mit Überwachungskameras ausgerüstet und hinter hohen Zäunen verborgen. Wie Saint-Tropez war auch Cap d’Antibes ein Spielplatz der Reichen und Schönen.
»Und, bist du mit unserem Reiseziel zufrieden?« Belustigt wandte sich Ludwig an Fredrik, der, ganz wie es seine Art war, die letzten Tropfen in sein eigenes Glas leerte.
In dem Moment bog der Wagen auf einen gekiesten Hof ein, wo ein Hotel mit sandfarbener Fassade und königsblauen Balkongeländern stand.
Das Foyer, das mit italienischem Marmor ausgestattet war, war menschenleer. Ludwig betätigte die goldfarbene Glocke auf dem exklusiven Schreibtisch.
»Was ist das denn für ein Ort, richtig spooky!« Manfred wies auf eine Reihe von Bildschirmen, die unter anderem einen eleganten Pool mit Jacuzzi zeigten, offenbar befand sich das Spa im Keller des Hotels. »Wer hockt hier wohl sabbernd und stalkt seine ahnungslosen Gäste im Wellnessbereich?«
Bevor einer von ihnen antworten konnte, ertönte durchdringendes Gebell, und zwei riesige, graue Deutsche Doggen kamen hinter ihnen die Treppe hinaufgesprungen, gefolgt von einem jungen Mann mit arroganter Miene. Mit gekünsteltem Lächeln fragte er, ob sie gebucht hätten, dabei war deutlich zu spüren, dass es ihn insgeheim gefreut hätte, wäre dies nicht der Fall gewesen. Was die Arroganz anging, hatte er jedoch seinen Meister gefunden. Nur Minuten später hielt Ludwig ihre Zimmerschlüssel in der Hand, und kurz darauf führte sie die Eigentümerin, eine elegante, ältere Dame, zu ihren Räumen. Zu Ludwigs Ärger folgten ihr sogar die Hunde.
Bevor jeder sein Zimmer aufsuchte, erinnerte Ludwig sie an ihren Treffpunkt um achtzehn Uhr vor dem Hoteleingang.
»Dann werden wir abgeholt und nach Juan-les-Pins gebracht.
Das Programm für den Abend ist streng geheim, aber unser bescheidenes Ziel ist es natürlich, ihn unvergesslich zu machen.«