Leseprobe

©Christoph Kretschmer/Adobe Stock

Sie hatten den Mann auf einen Stuhl gesetzt und ihm die Hände hinter dem Rücken mit Kupferdraht zusammengebunden.
Noch blutete er nicht, denn Juan Abrego hatte angeordnet, ihn erst einmal zu verschonen. Neben seinen schuhlosen, geschwollenen Füßen standen eine Flasche Wasser, aus der seine Männer ihm ab und zu einen Mitleidsschluck gegeben hatten, und eine Flasche mit vergorener Ziegenmilch und Cayennepfeffer, falls Juan Abrego es für angebracht hielt, dem Mann die Flüssigkeit in die Nase zu sprühen. In Reichweite stand außerdem eine Schale mit Chilipulver, das er ihm ins Gesicht streuen konnte, damit er es einatmen musste wie rohe Flammen. In der Scheune war es wegen der Feuertonne brutal heiß, und das Hemd des Mannes war völlig durchgeschwitzt. Es klebte an ihm, sodass man die Rippen an seinem mageren Oberkörper zählen konnte. Juan Abregos Leute hatten ihn mit einer Kapuze über dem Kopf hergebracht, die nun im Heu lag, was ihm eine Höllenangst machen musste. Es verriet ihm nämlich, dass es nicht mehr darauf ankam, ob er etwas auf der Ranch sah, sondern nur noch darauf, dass er möglichst viel erzählte.
Bereit lagen auch die anderen Utensilien, nach denen Juan Abrego verlangt hatte: eine Spule Kupferdraht, zwei Macheten, eine Tüte mit Glasscherben, ein Zimmermannshammer und Nägel, ein Sortiment fabrikneuer chirurgischer Instrumente. Skalpelle, Knochensägen und Spekula in verschiedenen Formen und Größen, in denen sich die anderen Männer in der Scheune spiegelten. All diese Gegenstände waren auf einer Pferdedecke ausgelegt worden, direkt vor dem Mann, der mit weit aufgerissenen Augen darauf starrte.
In einem Auto vor der Scheune saß ein Arzt, den man ebenfalls mit Kapuze über dem Kopf aus Ciudad Jiménez hergebracht hatte. Um ihn ruhigzustellen, hatte man ihm ein Tablett mit einer Flasche Tres Quatro Cinco – Juan Abregos Lieblingstequila – und zwei auf der Ranch geernteten, in Scheiben geschnittenen Limetten hingestellt. Der Arzt sollte nicht etwa die neuen chirurgischen Instrumente ausprobieren, sondern den Mann in der Scheune nur so lange wie nötig am Leben erhalten.
Mit dem Verbreiten von Furcht und Schrecken kannte Juan Abrego sich so gut aus wie mit dem Körper einer Frau, weshalb er sich erst einmal vor dem gefesselten Mann aufbaute und ihn nur anschaute. Der Mann atmete schneller und schneller und pisste sich dann in die Hose. Juan Abrego ließ ihn in seiner Todesangst schmoren, als er merkte, dass Gualterio neben ihm stand.
Gualterio war groß und massig. Seine Brust schien die Perlmuttknöpfe an seinem Hemd wegsprengen zu wollen, und sein Bauch hing ein ganzes Stück weit über der Jeans. An Kraft hatte er nichts eingebüßt, seine Größe allein wirkte bedrohlich, doch in den noch vollen Haaren an seinen Schläfen zeigte sich bereits ein Anflug von Grau. Wie Juan Abrego vermutete, überlegte Gualterio, sich die Haare zu färben, denn seine Hände wanderten in letzter Zeit oft zu den Schläfen, als wolle er die Anzeichen seines fortschreitenden Alters wegwischen. Juan Abrego würde kein Wort darüber verlieren, weil er wusste, wie gefährlich es war, an der Eitelkeit eines Mannes zu kratzen, auch wenn es sich bei ihm um einen uralten Freund handelte. Er selbst war zehn Jahre älter als Gualterio, und sie kannten sich seit ihrer Kindheit. Gualterio liebte gutes Essen und Bier – was sich an seinem aufgedunsenen Gesicht und seiner Wampe zeigte – und hatte auf Juan Abregos Befehl hin mehr Menschen umgebracht, als beide zählen konnten. Es gab niemanden, den er besser kannte, und seit dem Tod seines Bruders Rafael – den alle nur Nemesio genannt hatten – gab es auch niemanden, dem er mehr vertraute, nicht einmal seinen fünf Halbbrüdern, seiner Schwester oder seinem eigenen Sohn.
Manchmal konnte er es selbst kaum glauben, dass Nemesio nun schon seit dreißig Jahren tot war.
Im Beisein der bewaffneten Männer wartete selbst Gualterio, bis Juan Abrego das Wort an ihn richtete.
»Ist das der Busfahrer?«, fragte Juan Abrego in die Dunkelheit hinein, obwohl nur Gualterio den Mut hätte, ihm zu antworten.
»Ja, wir haben uns genau an deine Anweisungen gehalten.« Gualterio zündete sich eine Zigarette an; auch da war er der Einzige, dem das in Juan Abregos Gegenwart gestattet war. »Da waren noch welche. Wir finden sie.« Er zuckte mit den Schultern. Eine Feststellung, eine Drohung. Ein Versprechen.
So viele Menschen hatten vor Juan Abrego Carrión im Dunkeln ein Versprechen abgelegt. Viele waren gestorben, weil sie es gehalten hatten. Noch mehr waren gestorben, weil sie daran gescheitert waren.
    Der Busfahrer.
Zwei Abende zuvor hatte es in Ojinaga einen Anschlag auf zwei Busse mit Normalistas gegeben. Die Zahl der Toten und Verletzten war noch immer ungeklärt, aber im Internet kursierte bereits ein Handyvideo, das sich die ganze Welt anschaute. Deshalb hatte Ciudad de México Hunderte Federales und Angehörige der Secretaría de Marina eingeflogen. Weil halbe Kinder auf der Straße erschossen worden waren, war El Presidente rund um die Uhr im Fernsehen zu sehen, wo er versprach, dass dieses Mal etwas geschehen werde, und vielleicht meinte er es zur Abwechslung auch tatsächlich einmal so, obwohl ein Versprechen allein natürlich auch nichts nützen würde. Keine Drohung der Welt würde dafür sorgen, dass das Video aus dem Internet verschwand oder die Vermissten zurückkehrten.
Auf wessen Konto der Anschlag ging, wusste niemand, doch Juan Abrego hatte schon einen Verdacht, wen man dafür verantwortlich machen würde.
Niemand kannte den Auftraggeber, abgesehen vielleicht von dem an den Stuhl gefesselten Mann, dem Busfahrer. Zwei Busse waren angegriffen worden, aber nur dieser Fahrer war unverletzt geblieben, weil er so schlau gewesen war, seinen Bus kurz vor Beginn der Schießerei zu verlassen.
Auf seinem Handy waren Anrufe eingegangen. Man hatte ihn vorgewarnt.
Juan Abrego hatte schon vor vielen Jahren erkannt, dass ein einzelner Mensch nur eine begrenzte Anzahl an Versprechen machen und halten konnte, aber wer bereit war, genug Geld, Gewalt und Zeit einzusetzen, konnte alles bekommen und erfahren.
Dass Studenten das Ziel des Anschlags gewesen waren, war das Entscheidende, denn auch Juan Abrego hatte früher davon geträumt, Lehrer zu werden. Wie die Jugendlichen in Ojinaga waren auch Nemesio und er einmal Normalistas gewesen, und deshalb konnte es sich bei dem Angriffsziel nicht um einen Zufall handeln. An Zufälle glaubte er ohnehin nicht. Nein, es war eine Lektion gewesen, gerichtet an ihn allein.