Taggart

Taggart ging eigentlich nie in den Wald – zumindest nicht mitten in der Pampa. Er verstand nicht, was daran gut sein sollte. Wenn es nicht höllisch heiß war und Stechmücken und Bremsen einen verfolgten, einem der Schweiß in die Augen lief und Pollen und irgendwelcher andere Mist die Lunge verstopften, war es kalt und verdammt still. Die Stille war das Schlimmste. Nichts, was ihn von dem ständig in seinem Kopf tobenden Kampf zwischen Schuldgefühlen und dem Verlangen nach Alkohol ablenkte. Geräusche und Chaos hielten ihn wenigstens etwas in Schach.
Taggart war ein Stadtmensch. Towanda war zwar nicht gerade eine Großstadt wie Philadelphia, aber es war okay, und Binghamton, das mehr zu bieten hatte, lag nur eine Autostunde entfernt. Er brauchte den Verkehr, die aggressiven Fahrer, das ständige Hupen, die laute Musik und das Krakeelen der Leute. Das Heulen von Sirenen und das Rattern von Hubschraubern klang für ihn wie Meeresrauschen und ließ ihn wie ein Baby schlafen. Mit zehn hatte er mit seinem Vater gezeltet und jede Sekunde davon gehasst. Hotdogs über offenem Feuer braten und in einem Zelt schlafen hatten für ihn nicht den geringsten Reiz. Das nervtötende Zirpen der Grillen hatte er noch genauso im Ohr wie das Schnarchen seines Vaters neben ihm in seinem nach Waschbärenkacke stinkenden Schlafsack. Taggart war seinem Vater vorher noch nie so lange so nah gewesen. Sein Atem roch nach Bier und billigen Würstchen. Es war widerlich. Diese Erinnerungen standen für ihn für Aufenthalte in der Natur – schön war nichts daran. Seither war er nicht mehr in einem richtigen Wald gewesen. Und seinetwegen hätte das auch so bleiben können.
Als er jetzt inmitten von Bäumen bis zum Hintern in Schnee stand, fiel Taggart wieder diese schreckliche Stille auf. Ein paar Vögel sangen, aber selbst die klangen nicht besonders glücklich. Mein Gott, wie sehr er diese Stille hasste.
Wenn ich nicht betrunken gewesen wäre, hätte ich nicht abgedrückt. Ich hätte mit dem Mann geredet. Ich hätte ihm in die Augen gesehen, ob tatsächlich eine Gefahr von ihm ausging.
Taggart sah nach rechts und erhaschte einen Blick auf den Sheriff, der in fünfzig Metern Entfernung durch den Wald stapfte. Der Sheriff hatte ihn angewiesen, stets Blickkontakt zu ihm zu halten. Wenn sie sich aus den Augen verloren, müsste er auch noch wegen Taggart einen Suchtrupp losschicken. Taggart hatte den Eindruck, dass der Sheriff mächtig stolz auf seine Kenntnisse in Sachen Wald war.
Sie waren ein paar Meilen zu einer Stelle gefahren, wo der Sheriff den Verdächtigen vermutete. Besser gesagt hatte der Sheriff behauptet, es seien nur ein paar Meilen, aber sie brauchten dafür zwanzig Minuten, die sie in unbehaglichem Schweigen über unzählige Schotterstraßen fuhren. Taggart hatte nicht den blassesten Schimmer, wo sie waren.
Carl
Im Schnee waren Dannys Fußabdrücke zu sehen. Sie konnten nur von ihm stammen. Carl beobachtete, wie Sokowski am Fuß einer Kiefer stehen blieb und zu dem Hochsitz auf halber Höhe des mächtigen Baums hinaufsah. Sokowski war von dem langen Anstieg völlig fertig und rang keuchend nach Atem. In seinem Bart hing gefrorener Rotz. Er kniete sich hin und sah sich die Fußabdrücke genauer an. Sie waren ziemlich frisch.
»Sind die von ihm?«, fragte Carl unnötigerweise.
Sokowski nickte. »Er muss da oben gepennt haben. Der Spast ist schlauer, als ich dachte. Ich hatte gehofft, dass der Trottel in der Nacht erfriert. Hätte uns vieles leichter gemacht.« Er stand auf und starrte in den Wald, rieb sein Blumenkohlohr, damit es wieder warm wurde. »Weit kann er nicht sein. Wir haben ihn bald.«
Sokowski kramte in seiner Jacke und zog ein Beutelchen Gras und Papers heraus. Schweigend sah Carl zu, wie Sokowski mit geübten Handgriffen eine fette Tüte baute, sie zwischen die Lippen steckte und anzündete. Er zog ein paarmal, ohne den Rauch auszustoßen, und bot dann Carl den Joint an. Carl schüttelte den Kopf und sah weg.
»Stell dich nicht so an, Memme. Die Scheiße hier ist bald vorbei.«
Trotzdem er unter seiner dicken Jacke ein wenig schwitzte, zitterte Carl. Er musste an Kelly denken, die wahrscheinlich zu Hause hockte und sauer war, weil er nicht einmal angerufen hatte. Bestimmt dachte sie, dass er sich mit irgendeiner Schlampe vergnügte. Carl wünschte sich, dass sie ihn vermissen würde, ihn bei sich haben, Zeit mit ihm zusammen haben wollte. Dabei wusste er genau, dass sie nichts dergleichen tat – das war lange vorbei.
»Es ist nicht richtig«, sagte er leise.
»Was?«
Carl räusperte sich. »Das alles. Es hätte nicht passieren dürfen. Ich finde, wir sollten aufhören.«
Sokowski zog erneut an dem Joint und bedachte Carl mit einem fiesen Grinsen. »Und heimgehen? Pizza essen, fernsehen und so tun, als wäre nichts gewesen? Bisschen spät dafür, was?«
»Das hab ich nicht gemeint.«
»Ach ja? Was hast du denn dann gemeint, Carl?«
Carl sah ihn an. Wünschte, dass Sokowski nicht so verdammt verbohrt wäre, wusste aber, dass sich daran nichts ändern würde. Niemals.
»Nichts.«
»Hab ich mir gedacht. Du bist und bleibst eine Null.« Sokowski nahm einen weiteren Zug, zwickte die Spitze des Joints ab und steckte ihn in die Tasche. Dann hängte er sich das Gewehr über die andere Schulter und folgte Dannys Fußabdrücken tiefer in den Wald hinein. Carl sah zu dem Hochsitz hinauf, dann trottete er Sokowski wie ein geprügelter Welpe nach.