Leseprobe

»Verdammt«, sagte McCoy. »Das gerät hier außer Kontrolle.«
Er drehte sich um, wollte Murray sagen, dass sie etwas unternehmen mussten, stellte aber fest, dass dieser bereits weitergegangen war und nun an der geöffneten Tür eines parkenden Polizeiwagens stand. Er beugte sich hinein, gab Hughie Faulds, der mit dem Funkgerät in der Hand auf der Fahrerseite saß, Anweisungen. McCoy sah Faulds nicken, dann in das Funkgerät sprechen. Er drehte sich zur Menge um und sah die verletzte Frau am Bordstein sitzen, ihr hellblauer Mantel war voller Blut. Ein Mädchen von sechs oder sieben Jahren stand daneben und heulte sich die Augen aus, ihr Transparent lag im Rinnstein.
»Verdammte Scheiße«, sagte Murray, der jetzt wieder neben ihm stand. »Haben die denn völlig den Verstand verloren?«
»Ich kapier’s auch nicht«, sagte McCoy und sah, wie ein Mann mitten in der Menge seine kleine Tochter auf die Schultern nahm, damit sie besser sehen konnte. »Wieso haben die das gemacht?
Wieso will jemand drei Frauen und zwei Kinder umbringen?«
Murray kaute auf dem Mundstück seiner kalten Pfeife, keine Chance, sie im Regen anzuzünden. »Einer ist vorbestraft, hat schon mal eine Garage und seine eigene Grundschule angezündet. Offensichtlich ist er pyroman veranlagt.«
»Und die anderen beiden?«, fragte McCoy. »Die auch?«
Murray schüttelte den Kopf. »Zwei gewöhnliche Jungs, Kleinganoven.«
»Und?«, fragte McCoy. »Heißt das, sie haben einfach nur mitgemacht und jetzt vier Menschen auf dem Gewissen?«
»HÄNGT SIE AUF! HÄNGT SIE AUF!«
Murray zeigte mit dem Mundstück seiner Pfeife auf die Menge, musste die Stimme heben. »Ich glaube nicht, dass das die Spaßvögel hier überhaupt interessiert. Die wollen Blut sehen.«
»Ich hab gehört, in der Tobago Street ist ein anonymer Hinweis eingegangen. Stimmt das?«
Murray nickte. »In so einem Fall wie diesem – wenn’s um den Tod von Frauen und Kindern geht – wollen selbst die Verbrecher, dass er aufgeklärt wird, und zwar schnell. Da gibt’s keinen Verbrecherkodex mehr, kannst du vergessen. Die haben den Hinweis bekommen, dass sich drei Typen in einer Wohnung in Roystonhill verstecken. Die haben sie auf die Wache geholt. Einer von denen hatte sogar noch die Quittung für das Benzin in der Hosentasche.« Murray sah zum Gerichtsgebäude. »Die verschwenden keine Zeit, heute wird schon Anklage erhoben.«
»Vorausgesetzt, die kommen überhaupt durch die Menge«, sagte McCoy, während die Streifenpolizisten eine weitere Woge abfingen. Unter einer Markise auf der gegenüberliegenden Straßenseite standen ein paar Fotografen von Abendzeitungen, die er erkannte. Sie kauten mit gelangweilter Miene Kaugummi und warteten.
»Die hatten verdammtes Glück in der Tobago Street«, sagte McCoy. »Faulds ist der einzige gute Cop bei denen. Die anderen sind zu nichts zu gebrauchen. Ohne den Hinweis eines Zeugen hätten die so einen Fall niemals aufgeklärt.«
Murray steckte die Pfeife wieder ein. »Na ja, sieht aus, als wär’s ab jetzt meine Aufgabe das zu ändern.«
McCoy sah ihn an. »Wie meinst du das?«
»Super Idee aus der Pitt Street. Die wollen, dass ich beide Wachen leite.«
»Und was hast du gesagt?«
»Was glaubst du wohl, was ich gesagt habe? Die Wache in der Tobago Street ist ein verfluchter Schandfleck, und das schon seit Jahren. Da braucht es jemanden, der …« Er hielt inne. Zeigte nach vorne. »Oh Gott, jetzt geht’s los.«
Ein marineblauer Gefängniswagen bog aus der Ingram Street ein. Ein, zwei Sekunden lang war es ganz still, dann schrie jemand: »Da sind sie!« Das genügte. Die Hölle brach los.
Die Menge sprengte die Polizeiabsperrungen und drängte sich um den Wagen. Sie hämmerten mit Fäusten gegen die Türen, traten dagegen, versuchten, mit den Stöcken ihrer Banner und Transparente die Fenster einzuschlagen. Die Fotografen gingen so nah wie möglich heran, ohne im Gewühl niedergetrampelt zu werden. Der Fahrer ließ den Wagen langsam und beständig weiterrollen. Er wusste, wenn er jetzt hielt, waren sie erledigt. Ein Mann ging zu Boden, als ihn der Seitenspiegel des Transporters traf. Eine Flasche zerschellte an der Windschutzscheibe.
»SCHNAPPT SIE EUCH! SCHNAPPT SIE EUCH!«
Die Polizeikette trennte sich in der Mitte wenige Sekunden lang, der Transporter schob sich durch die Lücke und beschleunigte auf der Rampe nach unten zur Gerichtseinfahrt. Anschließend schlossen sich die Reihen der Polizisten wieder, Uniformierte zogen Leute zurück auf ihre Seite, als sich das Eisengitter des Tors senkte und der Transporter dahinter aus dem Blickfeld verschwand.
Genauso schnell, wie es begonnen hatte, war das Chaos vorbei. Die Sprechchöre verebbten und die Menge zerstreute sich, Leute hoben kaputte Transparente auf und brummten, die Polizei sei viel zu grob mit ihnen umgesprungen. Sie setzten sich auf den Gehsteig, um ihre Platzwunden und Prellungen zu begutachten. Die Fotografen nahmen die Filmspulen aus ihren Kameras und übergaben sie jungen Kurieren, die damit in die Redaktionen rannten. Ein kleiner Junge in einem Cowboy-Kostüm lief weinend umher und suchte seine Mutter.
McCoy und Murray standen im Regen, beobachteten das Geschehen ringsum.
»Solche Menschenansammlungen können sehr hässlich werden«, sagte Murray. »Und gefährlich. Ich hab das beim National Service gesehen. In Palästina. Bin nicht scharf drauf, so was noch mal zu erleben.« Er streckte eine Hand unter der Überdachung hervor, verzog das Gesicht und steckte sie schnell in die Tasche. »Man sollte meinen, dass der Scheißregen den verdammten Pöbel abschreckt.«
»Ich glaube nicht, dass die sich von irgendwas abschrecken lassen«, sagte McCoy. »Für die Leute da ist das ein großer Tag.«
»Na ja, lange werden sie nicht warten müssen. Ist eine Sondersitzung – die Anklage lautet auf vorsätzlichen Mord, eine Freilassung auf Kaution ist sowieso ausgeschlossen. Die jungen Männer werden dem Staatsanwalt vorgeführt, die Anklageschrift wird verlesen und das war’s. In spätestens fünfzehn Minuten sitzen sie wieder in dem Transporter.«
Ein Taxi bog in die Wilson Street ein, und Murray hob die Hand. »Ich fahr in die Pitt Street. Willst du warten, bis der Transporter wieder rauskommt?«
McCoy schüttelte den Kopf. »Ich hab genug gesehen. Ich fahre zurück in die Stewart Street.«
Murray ging auf das wartende Taxi zu. Blieb stehen.
»Bist du sicher, dass es dir gut genug geht? Dass du arbeiten kannst?«
McCoy nickte. »Bin fit wie ’n Turnschuh. Könnte für Olympia trainieren.«