Leseprobe
©Christoph Kretschmer/Adobe Stock

Die Zigarette war fast bis zum Filter heruntergebrannt, als der Kopf des Mannes nach rechts herumfuhr und ein Auge zu zucken begann. Aus dem Wohnzimmer drangen Geräusche herüber, erst das Öffnen der Haustür, dann Schritte auf den Holzdielen. Dennoch blieb der Mann unbewegt sitzen.
Im nächsten Moment erschien eine Frau im Türrahmen und blieb stehen. Sie war groß und schlank und hübsch. Ihre schwarzen Haare waren hochgesteckt, ihre Augen leuchteten kornblumenblau. Sie hatte Lippenstift aufgetragen, war sonst aber ungeschminkt. Das weiße Kleid reichte ihr bis zu den Waden. Über die Schulter hatte sie eine rote Tasche geschlungen. Der Mann musterte sie und verzog den Mund zu einem Grinsen.
»Da ist sie ja wieder«, sagte er mit rauer Stimme, so als hätte er seit Monaten nicht mehr gesprochen. »Wusst ich doch, dass du zurückkommst.«
Die Frau blieb schweigend in der Tür stehen. Ihre Schultern hoben und senkten sich, ihre Unterlippe zitterte.
»Na, komm«, sagte er. »Setz dich. Trink was.«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich habe keinen Durst«, sagte sie und machte einen Schritt nach vorne, dann einen zweiten. Ihr Blick huschte unruhig durch die Küche, und mit einer Hand fuhr sie über die Tasche.
Der Mann drückte die Zigarette aus und erhob sich. »Auch gut. Nichts zu trinken. Dann gib mir einen Kuss.«
»Nein«, sagte sie hitzig. »Nein.« Nach kurzem Zögern griff sie in ihre Tasche und zog eine kleine Waffe heraus.
Mit einem Nicken sagte er: »Meint die mich?«
Sie spannte den Hahn und wedelte mit dem Lauf vor ihm hin und her. »Du hättest uns in Ruhe lassen sollen«, sagte sie. »Du hättest das nicht tun sollen.«
»Ich hab keine Ahnung, wovon du redest. Ich hab nichts getan.
Aber ich weiß, dass du das Ding da nicht benutzen wirst.«
Die Frau lachte auf, schrill und verzweifelt. Ohne ein weiteres Wort kniff sie ein Auge zu und zielte auf seine Brust. Dann drückte sie den Abzug, einmal, zweimal, dreimal.
Die Schüsse dröhnten in der fast leeren Küche. Eine Kugel traf den Mann in den Bauch, die beiden anderen in die Brust. Stöhnend taumelte er mit dem Rücken gegen die Wand. Für einen Moment blieb er stehen, so als müsste er nachdenken, ob er sich für das Leben oder den Tod entscheiden wollte, doch seine Lebensgeister schwanden schnell, und als er an der Wand zu Boden glitt, hinterließ er eine Blutspur. Eine Weile saß er in einer scharlachroten Pfütze, seine Schultern hoben und senkten sich, sein Atem rasselte. Doch das Rasseln hörte bald auf, sein Blick wurde trübe, und er gab keinen Laut mehr von sich.
Die Frau blieb, wo sie war, hielt die Waffe in der zitternden Hand weiter auf ihn gerichtet. Schließlich senkte sie sie und betrachtete den Mann, den sie getötet hatte, mit einem tiefen Seufzer. Dann sah sie sich in der Küche um, als suchte sie nach Spuren, die sie hinterlassen haben könnte.
Sie steckte die Waffe zurück in ihre Tasche und zog etwas anderes heraus: eine alte Polaroidkamera. Sie ging in die Hocke und richtete die Kamera auf den Toten, drückte den Auslöser. Die Kamera ratterte und klickte. Unten kam ein noch weißes Foto heraus.
Die Frau hielt es vor sich und wedelte damit hin und her. Nach wenigen Minuten er-
schien das Bild, zunächst gespenstisch blass, bald darauf in grotesk lebendigen Farben.
»Tot«, flüsterte sie. Und noch einmal: »Tot.«
Sie steckte Kamera und Foto wieder in die Tasche, drehte sich um und verließ die Küche, in der sich das Blut langsam auf dem Boden ausbreitete. Ihre Schritte wurden leiser, und die Haustür ging auf und wurde zugezogen. Dann war alles wieder still,
bis auf die gedämpften Schreie, die aus dem Fernseher kamen. Zeit verstrich, aber der Mann blieb gegen die Wand gelehnt sitzen, das T-Shirt blutgetränkt, der Mund offen, die Augen groß und leer.

An den folgenden beiden Tagen geschah nichts. Das heißt, niemand betrat das alte Farmhaus hinter der Liberty Hall. Die Leiche des Mannes kühlte aus und wurde starr. Auf der Haut erschienen Totenflecke, und sie verfärbte sich ins Grünliche. Die Zunge
rutschte aus dem Mund, die Augen traten hervor. Gestank breitete sich im ganzen Haus aus.
Am späten Vormittag des dritten Tags nach dem Mord stieg eine dicke Frau in einem weiten, geblümten Kleid aus ihrem Auto und ging zum Haus. Bei jedem Schritt murmelte sie, dass überall auf dem Rasen Müll herumlag und dass sie das Haus nie an diesen Mistkerl hätte vermieten dürfen. »Nichts als Ärger«, schimpfte sie. »Ärger und Scherereien.« In einer Hand hielt sie ein Blatt Papier, auf das oben das Wort »Zwangsräumung« gestempelt war.
Mehrmals klopfte sie an die Haustür, wobei ihr die Brille auf die Nasenspitze rutschte, doch niemand öffnete. Sie ging an ein Fenster, drückte ihr Gesicht gegen die Scheibe und spähte hinein. Das Licht brannte, der Fernseher lief, aber sonst rührte sich nichts im Haus.
»Ich weiß, dass Sie da sind, Mr. Ray«, sagte sie so laut, dass nur sie es hörte. »Ich gehe erst wieder, wenn ich mein Geld habe.«
Sie ging zur Haustür zurück und klopfte erneut. Wieder keine Reaktion. Sie drehte den Türknauf. Es war nicht abgesperrt. Sie öffnete und ging einen Schritt hinein. Sofort verzog sie das Gesicht und hielt sich die Nase zu. Wagte sich ein paar Schritte weiter und räusperte sich.
»Mr. Ray? Sind Sie da? Hier ist Ihre Vermieterin, Janet Dovoavich. Hallo?«
Der Gestank war unerträglich. Miss Dovoavich hielt sich die Armbeuge vor den Mund. Dennoch ging sie weiter – vielleicht aus Neugier darüber, was so stank. Oder aus Neugier darüber, wer tot war. Als sie in die Küche kam und die blutüberströmte aufgequollene Leiche sah, aus deren Mund und Nase Schaum quoll, schnappte sie weder nach Luft, noch schrie sie auf. Sie gab gar keinen Ton von sich, jedenfalls nicht gleich. Sie ließ den Zwangsräumungsbescheid fallen und lehnte sich Halt suchend an die Wand. Ihre Schultern hoben und senkten sich, während sie die schauderhafte, von Fliegen umschwirrte Leiche anstarrte.
Als sich ihr Mund öffnete, drang endlich ein Laut über ihre Lippen. Es war ein Schrei blanken Entsetzens, der mehrere Sekunden anhielt. Danach blieb sie noch ein wenig stumm in der Küche stehen, ehe sie davonstolperte und zur Haustür hinausrannte.

Keine halbe Stunde später waren in der Ferne Sirenen zu hören, deren Heulen gelegentlich vom Wind fortgetragen wurde. Als sie ankamen, war es eine ganze Fahrzeugflotte. Streifenwagen (zwei), Krankenwagen (zwei) und ein Löschzug. Nacheinander hielten die Fahrzeuge auf der Schotterstraße, Männer stiegen aus und eilten über den Rasen. Die Lichtbalken auf den Fahrzeugdächern blinkten, Funkgeräte rauschten.
Als Erstes betraten zwei Polizisten das Haus. Einer hatte einen schwarzen Schnauzbart und Aknenarben im Gesicht. Der andere war rothaarig und sah für einen Polizisten zu jung aus. Wie die Vermieterin hoben beide beim Eintreten die Armbeuge vor den Mund. Der Schnauzbärtige sah seinen Partner an und schüttelte den Kopf. Langsam gingen sie durch das Haus, und achteten auf jedes Detail, wie sie es in der Polizeiausbildung gelernt hatten. Siehst du die ungeöffnete Post auf der Whiskeykiste? Was hat es mit dem Foto des Mädchens auf sich? Was mit dem nicht eingelösten Scheck von der Fleischfabrik?