Leseprobe: James Anderson: „Lullaby Road“
1
Eine vorübergehende Stille war alles, was den Übergang von Sommer zu Winter markierte. Da ich fast sämtliche meiner knapp vierzig Jahre in der Hochwüste von Utah verbracht hatte, zwanzig davon als Fahrer eines Trucks, war ich zu dem Schluss gekommen, dass es dort nur zwei Jahreszeiten gibt: heiß und windig oder kalt und windig. Alles andere sind nur Abwandlungen dieser beiden Zustände. In dieser Nacht lag ich im Halbschlaf in meinem Bett und erkannte an der Stille den Wechsel der Jahreszeiten. Ich bilde mir ein, mich mit Stille ein bisschen auszukennen. Echte Stille ist mehr als die Abwesenheit von Geräuschen: Man kann sie spüren. Wenige Herzschläge zuvor hatte ein beständiger Wind die letzten Lautfetzen des Abends zerstreut: ein vorbeifahrendes Auto, Nachbarn, die hinter verschlossenen Türen redeten, irgendwo das Bellen eines Hundes – der übliche gedämpfte Lärm des Lebens um einen herum. Im nächsten Moment war nichts mehr zu hören, absolut nichts, als wäre die Wüste mitsamt ihren Bewohnern verschwunden und hätte nichts zurückgelassen als ein gleichgültiges, sternenloses Licht.
Um vier Uhr früh, dem Beginn meines Arbeitstags, stand der Winter auf seinen Hinterbeinen und wartete. Für die Fahrt zum Logistikzentrum und das Beladen meines Trucks brauchte ich länger als üblich. Es war schon deutlich nach fünf, als ich endlich loskam und in der vormorgendlichen Dunkelheit vorsichtig durch leichten Schneefall über die vereiste Straße fuhr. Das Gebläse der Heizung lief auf Hochtouren, aber die bittere, trockene Kälte, die noch im Wageninneren herrschte, raubte meinem Körper die Wärme und riss mir die Haut auf, bis sie an einen ausgedörrten See erinnerte. Wie immer hielt ich kurz zum Tanken an. Den morgendlichen Ansturm auf die Tankstelle, sofern es dazu gekommen war, hatte ich verpasst, weil ich ein paar Minuten zu früh oder zu spät dran war. An den Zapfinseln stand niemand.
Cecil Boone leitete den Stop’n’Gone Truck Stop am Highway US 191, kurz hinter Price, Utah. Die unabhängige Tankstelle Stop’n’Gone stand auf einem Streifen aus Sand und Schotter und hatte das schäbige Aussehen eines Ladens, der außer billigen Preisen nicht viel zu bieten hat. Cecil war ein stämmiger, mürrischer Mittfünfziger. Als ich den kleinen Shop betrat, saß er hinter der Kasse. Seit mehr oder weniger acht Jahren kaufte ich dort fast täglich meinen Sprit und hatte Cecil bis zu diesem eisigen Oktobermorgen nicht ein einziges Mal lächeln sehen.
Es gibt sicherlich viele Gründe, warum ein Mensch lächelt. Die meisten tun es jeden Tag. Bei meiner Arbeit bekomme ich nicht oft ein Lächeln zu sehen und schenke auch nicht häufig eines, nicht mal mir selbst. So sollte es auch sein. Niemand möchte hochblicken und einen grinsenden Trucker sehen. Meiner Meinung nach hat dieser Anblick eine verstörende Wirkung auf jeden Autofahrer. Schnell ging ich alle möglichen Gründe durch, warum Menschen lächeln – aus Freude, Herzlichkeit, banaler Bosheit – aber mir fiel kein passender für Cecil ein. Im Laden waren nur er und ich – und sein Lächeln. Ich bezahlte meinen Sprit.
»An der Acht hat jemand was für dich dagelassen«, sagte er. Ich fragte, was es sei. »Geht mich nichts an. Aber nimm es auf jeden Fall mit.« Cecil ging zur Tür seines vollgestellten Büros. »Acht«, sagte er über seine Schulter hinweg. Bevor er die Tür hinter sich schloss, meinte ich ihn kurz lachen zu hören. Vielleicht waren es auch nur Blähungen.
Mein Truck stand neben der Zapfinsel zwei. Die Acht befand sich am westlichen Ende der Tankstelle. Einen Moment lang schaute ich durch das Fenster in den wirbelnden Schnee. Bisher hatte er sich kaum irgendwo angesammelt. Nur eine dünne weiße Schicht auf Eis. Feine Flocken tanzten um die hohen Bogenlampen, als wäre es eine Szene aus einer kargen Schneekugel. Draußen hielt ich kurz an und spähte in Richtung der Acht. Nichts zu sehen. In meinem Fahrerhaus wurde es langsam warm. Mir war danach, loszufahren und meinen Arbeitstag zu beginnen. Wer würde an einer Tankstelle etwas für mich dalassen? Wichtig oder wertvoll konnte es nicht sein, sonst hätte derjenige es nicht draußen abgelegt. Vielleicht war es nur ein Scherz. Einen Scherz konnte ich ertragen. Jederzeit. Später. Im ruhelosen Schneetreiben hinter der Windschutzscheibe sah ich Cecils Lächeln auftauchen und verschwinden. Und dieses Lächeln, wenn man es denn so nennen wollte, schien mich herauszufordern, an der Acht vorbeizufahren und einen kurzen Blick auf das Dagelassene zu riskieren. Doch ganz gleich, was Cecil gesagt hatte, ich fühlte mich nicht verpflichtet, es auch mitzunehmen. Ich wendete den knapp zehn Meter langen Truck und näherte mich langsam der Tankinsel acht. Neben einem zerbeulten Mülleimer schien ein kleiner Haufen aus Kleidungsstücken zu liegen – nichts, das nicht hätte warten können. Aber ignorieren konnte ich es auch nicht. Vorsichtig lenkte ich den Truck zwischen den überdachten Zapfsäulen hindurch, die Seitenspiegel fest im Blick, damit ich nicht die Betonstützen streifte, die die Zapfsäulen vor Idioten in Wohnmobilen oder Miettransportern schützten und vor Jahren auch einmal vor mir, im verkaterten Zustand. Der Stoffhaufen bewegte sich und sandte ein Wölkchen Schnee in den Wind. Ich legte die Handbremse ein, marschierte zurück zur Acht und rutschte dabei ein paar Mal fast auf dem Eis aus.
Ein großer weißer Hund lag zusammengerollt neben der Zapfsäule und hob seine lange Schnauze ein, zwei Zentimeter an, als ich näher kam. Seine blauen Augen musterten mich und bohrten sich in eine Stelle zwischen Schulter und Kopf – meinen Hals. Kein Knurren oder Zähnefletschen. Dieser Hund verstand sein Handwerk und meinte es ernst. Etliche Schritte vor ihm machte ich Halt und wir erörterten stumm die Situation. Unsere Unterhaltung endete, als der Hund aufstand, sich streckte und den pudrigen Schnee aus seinem Fell schüttelte. Sein dicker Pelz blieb weiß. Nicht nur weiß, sondern von einem ungewöhnlich strahlenden Weiß, das das Tier im wirbelnden Schnee wie einen verschwommenen weißen Schatten wirken ließ. Auch war der Hund viel größer, als ich gedacht hatte, eine undefinierbare Mischung aus Husky und deutschem Schäferhund mit einem Schuss Wolf als Zugabe. Zwei schwarze, mandelförmige Augen tauchten wie schüchterne Fische an die Oberfläche des weißen Fells. Hinter dem Rücken des Hundes blickten sie zu mir. Ein Kind. Beim schnellen Rückmarsch zum Gebäude fiel ich zweimal hin. Die Sohlen meiner alten Cowboystiefel waren dünn wie Papier und ebenso glatt. Ein Kind im Schneesturm auszusetzen, war die Art von Scherz, die Cecil ein Lächeln entlocken konnte. Das entsprach seiner Vorstellung von Humor. Hätte sich auf der Interstate eine Massenkarambolage mit fünf Autos oder ein furchtbarer Unfall mit Fahrerflucht ereignet, er hätte sich vor Lachen nicht mehr eingekriegt. Humpelnd erreichte ich die Tür. Sie war verschlossen. An der Scheibe hing ein hingekritzeltes Schild auf Augenhöhe, meiner Augenhöhe, einsfünfundneunzig in Stiefeln. ZURÜCK IN ZEHN MINUTEN. Irgendwie bezweifelte ich, dass Cecil zurückkehren würde, solange ich in Sichtweite war.
Ich musste meinen Zeitplan einhalten. Er wusste, ich würde keine zehn Minuten warten. Nicht mal fünf. Ich hämmerte gegen die Tür und brüllte seinen Namen, dann trat ich unten gegen die schwere Scheibe. Zur Belohnung rutschte ich aus und fiel hin. Wenn Cecil sich drinnen aufhielt, würde er sich nicht mehr blicken lassen. Vorsichtig ging ich zur Acht zurück. Der Hund hatte sich nicht gerührt; das Kind kauerte noch hinter ihm. Er machte einen Schritt zur Seite und ließ mich das Kind, einen kleinen Jungen, sehen. Es war die Erlaubnis, mich zu nähern. Der Junge mochte fünf oder sechs sein, hatte braune Haut und glattes, schwarzes Haar mit Topfschnitt. Er trug nur Jeans und weißes T-Shirt. Seine Turnschuhe sahen neu aus und hatten hinten diese roten Blinklichter. An seinem Shirt steckte ein Zettel. Ohne Hund oder Jungen aus den Augen zu lassen, trat ich einen Schritt näher. Keiner von beiden schien vor mir Angst zu haben, obwohl sie mich aufmerksam beobachteten. Der Junge schaute mir die ganze Zeit in die Augen, selbst dann noch, als ich mich bückte und den Zettel, auf dem vermutlich eine Nachricht für mich stand, von seinem Shirt löste.
BITTE, BEN. RIESENÄRGER. MEIN SOHN. NIMM IHN HEUTE. ER HEIßT JUAN. ICH TRAUE NUR DIR. SAG KEINEM WAS. PEDRO