Prolog

Als jemand an die Tür von Zimmer 15 klopft, wacht das Mädchen als Erste auf. Immer noch angeschlagen reibt sie in der Dunkelheit ihre verschlafenen Augen, und einen Moment lang kann sie sich nicht erinnern, wo sie ist. Ein Splitter rotes Neonlicht durchbohrt den Vorhang des Motelzimmers, das einzige Licht im Raum. Ein weiteres Anklopfen, lauter als zuvor, lässt sie zusammenzucken. Das Feuerzeug und die verschmurgelte Getränkeflasche rollen von der Tagesdecke und fallen auf den Boden. Ein beißender Gestank hängt in der Luft, wie von einer brennenden Plastiktüte, der anhaltende Geruch von Meth.
Sie flucht und greift nach dem Jungen neben ihr auf dem Bett. Erneutes Klopfen.
Die Stimme eines Mannes. »Rezeption. Ich muss mit euch beiden reden.« Die Tür befindet sich so dicht neben dem Bett, man könnte meinen, der Mann stünde bereits im Raum.
Das Mädchen rüttelt den Jungen wach.
»Der Typ von der Rezeption steht vor der Tür«, flüstert sie.
»Was?«, fragt der Junge mit halb geschlossenen Augen.
»Der Typ von der …«
Sie wird vom Klopfen harter Knöchel auf die große Fensterscheibe des Zimmers unterbrochen. Der Hall erweckt den Eindruck, als schwanke die ganze Wand.
Das Mädchen steht taumelig auf, stolpert beinahe über den Koffer auf dem Boden und linst durch den gesprungenen Türspion. Der Mann davor steht etwas zur Seite gedreht, sein Gesicht ist im matten roten Schein nur undeutlich zu erkennen.
Als könne er sehen, dass sie ihn durch den Spion anstarrt, klopft er fester gegen die Scheibe.
»Re. Zep. Tion. Zwingt mich nicht, meinen Schlüssel zu benutzen.«
»Du antwortest besser, bevor er noch richtig angepisst ist«, sagt sie zu dem Jungen.
Der Junge steigt vom Bett, er trägt ein weißes T-Shirt und schwarze Boxershorts. Reibt sich übers Gesicht und knipst das Licht im Bad an, damit er sich besser orientieren kann. Dann kommt er herübergeschwankt und blickt durch den Türspion. Als er dieselbe Halbsilhouette sieht wie zuvor das Mädchen, öffnet er langsam die Tür, ohne die Kette abzunehmen.
Er will gerade etwas sagen, als ein Bolzenschneider sich um die gespannte kleine Kette legt und sie durchtrennt. Es klingt wie ein Fingerschnipsen.
Zwei Männer drängen in den Raum, lassen die Tür zum Parkplatz hinter sich offen. Der jüngere der zwei Männer schwingt mit beiden Händen den schweren Bolzenschneider und erwischt den Jungen im Gesicht. Das Knacken von Knochen unter dem Stahl ist so laut, dass man es hört. Der Junge fällt über einen Stuhl und stürzt auf den Boden. Als das Mädchen zu schreien beginnt, packt der ältere Mann sie an der Kehle und stößt sie aufs Bett, setzt sich auf ihre Brust, hebt eine Machete über seinen Kopf und erstickt ihren Schrei zu einem Husten.
»Sei still«, sagt er zu ihr.
Hinter ihnen schlägt der jüngere Mann mit dem Bolzenschneider auf den Jungen ein, bis der sich blutverschmiert in der Ecke zusammenkrümmt und die Hände schützend über den Kopf hebt.
Der ältere Mann zieht das Mädchen mit der Hand fest um ihren Hals von der Matratze und lässt sie zwischen Fenster und Bett zu Boden fallen. Die Tür des Zimmers steht immer noch einen Spaltbreit offen, taucht sie in das rote Neonlicht des »Zimmer frei«- Schildes des Motels.
»Bring ihn ins Bad«, sagt der ältere Mann über seine Schulter. Der Jüngere wischt sich mit dem Unterarm den Schweiß aus dem Gesicht. »Ins Bad?«
»Ja«, sagt der ältere Mann. Als er die beklommene Reaktion des anderen registriert, dreht er sich um, deutet mit dem Kopf zum Bad, sagt: »Mach schon. Ist okay. Bring ihn da rein und sorg dafür, dass er still ist.«
Der jüngere Mann zieht den Jungen auf die Füße und schiebt ihn auf den orangen Schein aus dem Bad zu. Der ältere Mann steht über dem Mädchen auf dem Boden.
Sie starrt zu ihm auf, hat Angst, versucht jedoch, ruhig zu bleiben. Atmet durch. »Tut mir leid, Eli.«
»Was genau?«, fragt Eli. Mit der breiten, schwarzen Klinge der Machete klopft er seitlich gegen ihren Kopf. »Hm? Was genau tut dir leid?«
Sie öffnet den Mund, um ihn anzuflehen, doch als sie im schwachen Neonschein zu seinem Gesicht aufschaut, verändert sich ihre Miene. Sie starrt jetzt nicht mehr mit bebenden Lippen. Sie funkelt ihn wütend an.
Sie schluckt und schleudert ihm einen trotzigen Schwall Worte entgegen. »Mir tut leid, dass ich dich je getroffen habe.«
Eli schließt die Augen. Seufzt. Nickt über die Bestätigung eines alten Gedankens, einer alten Vermutung.
Er geht neben ihr in die Hocke, hält die Machete quer über seinem Oberschenkel. Mit einem Blick in ihre verzweifelten Augen sagt er zu ihr: »Mädchen, mein wahres Ich hast du ja noch gar nicht kennengelernt.«
Sie versucht, etwas zu sagen, aber ihre Zähne klappern zu heftig aufeinander. Sie beißt sie fest zusammen.
Er reißt sie an ihrem dünnen, nackten Arm hoch. »Wenn du so unbedingt mit ihm zusammen sein willst«, brüllt er sie an, »dann geh jetzt rüber zu ihm.« Er stößt sie Richtung Bad.
Der jüngere Mann schiebt sie hinein, wischt sich dann wieder Schweiß aus dem Gesicht und fragt: »Was jetzt?«
Eli kehrt zur Zimmertür zurück. Er lässt den Blick über den Parkplatz des Motels wandern, der im Licht des Mondes und der Neonreklame vor ihm liegt, und nachdem er mit der Stille und Ruhe zufrieden ist, die er dort vorfindet, schließt und verriegelt er die Tür zu Zimmer 15.
»Fangen wir mit dem Jungen an«, sagt er.
Kapitel 1
Lily Stevens marschiert aus dem kalten Septemberregen in das Polizeirevier und geht zu dem Mann, der hinter dem Empfang sitzt. Er trägt eine schwarze Uniform, und das grelle Deckenlicht verleiht seinem militärisch kurzen Haarschnitt einen schimmernden Glanz, aber er ist noch jung, vielleicht gerade mal Anfang zwanzig.
Lily wischt ihr triefnasses Gesicht ab und sagt: »Ich möchte mit dem Sheriff sprechen.«
Auf dem Weg von der Bushaltestelle hierher wurde sie von einem unerwarteten Wolkenbruch überrascht, und nun beginnen sich ihre bis zu den Hüften reichenden Zöpfe zu lösen. Würde die Kirchenlehre ihr das Tragen von Make-up erlauben, wäre ihr Gesicht jetzt verschmiert und eher unansehnlich; so aber ist ihre Haut glatt und rosa. Unter ihrem Mantel spannt sich die Umstandsbluse über ihren rundlichen Bauch.
»Wir haben hier keinen Sheriff«, antwortet der junge Beamte. »Haben einen Chief.«
Sie verlagert ihr Gewicht von einem durchnässten Sneaker auf den anderen, der feuchte Saum ihres Jeansrocks klatscht gegen ihre Knöchel. »Okay, in Ordnung, darf ich dann bitte mit dem Chief sprechen?«
Lily beobachtet ihn, wie er sie mustert. Inzwischen ist sie das gewohnt. Wie schnell jemand ihr zu langes Haar und ihren zu langen Rock erfasst, das völlige Fehlen von Make-up oder Schmuck, ihre nicht durchstochenen Ohren. Und dann natürlich ihr dicker Bauch und ihr nackter Ringfinger. Er sagt: »Darf ich fragen, worüber Sie mit dem Chief sprechen wollen?«
Ein grauhaariger Mann erscheint in der Tür am anderen Ende des Raums. Er trägt ein frisches, weißes Hemd zu einer dunklen Hose; an seinem Gürtel klemmt neben einem Pistolenholster eine Dienstmarke. Seine beiden Hände umschließen einen dampfenden Kaffeebecher.
»Mein Verlobter ist verschwunden.«