Leseprobe
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Das monotone Geleiere des Geistlichen kämpfte gegen den Verkehrslärm von der Liberton Brae an. Das Tuckern eines Busses erfüllte die Luft. Zwei Krähen erhoben sich von einem Grabstein und flogen in eine Tanne. Dorothy spürte Regentropfen auf dem Gesicht.
»Scheiße, du weißt es.« Das kam von Danny, der mit einem Finger auf Mike zeigte.
Evan griff nach Dannys Schulter, doch Danny schüttelte seine Hand ab. Der Geistliche hielt inne.
Danny machte zwei Schritte auf Mike zu. »Du weißt, wo er ist.«
Mike schüttelte den Kopf und zog die Hände aus den Taschen.
»Danny …«, sagte er. »Er ist tot.«
»Nein.« Danny machte weitere Schritte. »Er hat das alles inszeniert, und du weißt davon.«
»Du irrst dich.« Mike hatte die Fäuste geballt. Er bewegte seine Schultern, sodass er jetzt Roxanne abschirmte.
»Du Scheißkerl.«
Danny stürzte sich auf ihn. Mike duckte sich weg, war aber nicht schnell genug und musste einen Schlag seitlich gegen den Kopf einstecken, der ihn aus dem Gleichgewicht brachte. Danny verpasste ihm einen Stoß gegen die Brust und trat ihm dann zwischen die Beine. Mike klappte zusammen. Danny holte zu einem weiteren Schlag aus, doch jetzt griff Mike mit gesenkter Schulter an und bekam Dannys Taille zu fassen, während sie auf das offene Grab zutaumelten. Danny schlug Mike auf den Hinterkopf, konnte sich aus der Umklammerung befreien und wirbelte ihn herum. Mikes Absätze schwebten über dem Rand des Lochs, während Danny weiter auf ihn eindrosch. Sie taumelten nach hinten und schwebten einen Moment lang wie erstarrt über dem offenen Grab. Mikes Füße strampelten in der Luft, bis sie am anderen Rand des Grabes Halt fanden, Danny umklammerte weiterhin seine Taille, und ihr Gewicht trieb sie über das Loch genau auf Kathleens Sarg zu, der daraufhin vom Sockel rutschte und gegen William Hushs Grabstein krachte. Der Deckel zersplitterte, als der Sarg von dem Stein abprallte, dann sprang er auf und Kathleen landete der Länge nach auf dem Gras, schlug mit dem Gesicht auf, während ihr Rock die Oberschenkel hinaufrutschte und ihre Arme wie bei einem Fallschirmsprung ausgebreitet waren.

2
JENNY

Sie schritt ins Wasser, und ihr stockte der Atem. Sie watete weiter hinein, graue Wellen klatschten auf Oberschenkel und Leistengegend. Sie atmete, versuchte, über den Schock wegzukommen. Jedes Mal, wenn sie dies tat, reagierte ihr Körper, als würde er sich nie wieder erholen. Allmählich wurde ihr Atmen ruhiger, aber ihre Haut brannte immer noch vor Kälte. Sie ging weiter, bis ihr das Wasser bis zur Brust stand, dann kehrte sie zurück.
Porty Beach hatte sich im Verlauf der wenigen Jahre, seit sie hier unten lebte, stark verändert. Damals war es hier meist menschenleer gewesen und niemand ging wild schwimmen. Sie hasste diesen Begriff, denn im Grunde war es einfach nur schwimmen. Jetzt waren Gruppen von Frauen draußen im Wasser, deren mit Badekappen bedeckte Köpfe wie neugierige Robben vor der Küste auf und ab wippten. Manche Leute standen auf Paddle Boards, saßen in Kajaks, und ein Ruderboot war unterwegs Richtung Musselburgh. Der Himmel spiegelte das ständig wechselnde Grau des Meeres wider.
Sie schwamm einfach hinaus. Die meisten anderen Schwimmenden waren in Gruppen da, aber sie schloss sich niemandem an. Der dunkle Landstreifen von Fife lag auf der anderen Seite des Meeresarms. Sie schwamm in höhere Wellen hinein, Seetang hing an ihren Beinen, und wenn sie nicht den richtigen Moment erwischte, hatte sie den Mund voller Salzwasser. Man musste nicht Freud sein, um daraus schlau zu werden. Seit all der Scheiße mit Craig auf dem Elie Beach war es etwas über ein Jahr her – sie hatte ihn angezündet und zugesehen, wie er auf dem Boot verbrannte, als wäre es eine Wikinger-Beisetzung. Seine Leiche war immer noch nicht gefunden worden. Und hier war sie, schwamm in genau demselben Gewässer, um sich geistig und körperlich zu heilen. Und um vielleicht zufällig auf seine verkohlte und aufgedunsene Leiche zu stoßen, damit sie endlich sicher war.
Als sie eine kurze Verschnaufpause einlegte, wurden die Wellen höher. Strudel zogen an ihren Beinen, eine Unterströmung, die sie bislang nicht bemerkt hatte, obwohl sie seit einem Jahr herkam. Brandon, ihr Therapeut, hatte seine Zweifel, was das alles betraf. Dorothy und Hannah hatten sie wegen der nächtlichen Panikattacken, des Alkohols und der Schlaftabletten zur Therapie gedrängt, und wegen der Tatsache, dass sie alles zwischen ihr und Liam kaputt gemacht hatte. Scheiße, das Schwimmen sollte sie doch auf andere Gedanken bringen.
Sie schwamm gegen die Dünung an, bekam Gischt ins Gesicht. Sie spürte wieder etwas an ihren Beinen ziehen, als eine Welle über sie wegspülte. Sie strampelte, versuchte, sich im Wasser senkrecht auszurichten, während ihr das Salz in den Augen brannte. Einen Moment sah sie graues Tageslicht, schnappte gierig nach Luft, dann brach sich eine weitere Welle über ihrem Kopf, drückte sie wie eine riesige Hand unter Wasser, während die Unterströmung sie drehte, bis sie nicht mehr wusste, wo oben und unten war. Sie spürte eine weitere Welle auf die Oberfläche krachen und sie durchbrechen, um sie weiter nach unten zu treiben; ihre Lungen begannen zu brennen, Arme und Beine zappelten wie wild, um wieder an die Oberfläche zu gelangen, egal wie, dann kam eine weitere Welle, und sie spürte, wie alle Energie aus ihren Gliedern schwand.
Sie sah eine Gestalt durch das trübe Wasser auf sich zukommen, dann wurde sie von der Strömung herumgewirbelt. Sie spürte Hände auf ihrer Taille, die sie nach oben drückten, und sie stellte sich Craig vor, wie er sie mit der Waffe an ihren Kopf gedrückt ins Boot stieß und sie mit Benzin übergoss, bevor sie das Blatt wenden konnte und ihn in den Tod schickte. Doch vielleicht war er zurückgekehrt, das hier war jetzt seine Rache, zog sie mit sich auf den Grund des Meeres.
Ihr Kopf durchbrach die Wasseroberfläche, und sie schnappte nach Luft, wirbelte herum und schlug zu, nur dass es natürlich nicht Craig war, sondern nur ein guter Samariter, der ihr gerade das Leben rettete und aus dessen Nase nun Blut strömte. Wieder brach eine Welle über ihrem Kopf, und sie wollte in die Vergessenheit gezogen werden.