Leseprobe: William Gay: „Stoneburner“
Prolog
Stoneburner schob das Magazin in seine .45er-Armeepistole und steckte die Waffe in den Hosenbund. Er knöpfte die Jacke darüber zu, trat aus dem Haus und ging zu seinem Pick-up. Stoneburner war großgewachsen und langgliedrig, und das ließ ihn schmal wirken, dennoch waren Brust und Schultern breit und kräftig. Seine dunkelbraunen, gewellten Haare, die an den Schläfen grau wurden, waren so lang, dass sie im Nacken den Kragen berührten und sich ringelten. Er trug eine Levi’s, ein weißes Hemd und eine alte schwarze Sportjacke.
In einem 7-Eleven kaufte er einen Sixpack Coors, dann fuhr er eine Weile ziellos dahin. Die Nacht brach herein, und als es zu regnen begann, wurden die Straßen schwarz und glatt und schimmerten. Die Scheinwerfer der Autos spiegelten sich auf dem glänzenden Asphalt, als würde sich auch unter der Fahrbahn etwas bewegen. Auf den Gehwegen wimmelte es von Menschen. Jeder schien irgendwelchen Vergnügungen nachzugehen. Es war ein anderer Menschenschlag, vielleicht sogar eine andere Rasse als die Leute, denen er tagsüber begegnete. Im peitschenden Regen tauchte die Leuchtreklame sie in ein hartes, gleißendes Licht, kontrastreich und grellbunt, und verlieh den schwarzen Männern in Straßenkleidung die Färbung zwielichtiger Zielstrebigkeit.
Er fuhr weiter westwärts, wo die beleuchteten Geschäfte spärlicher wurden und schließlich verschwanden, bis nur noch Straßenlampen den Fahrweg erhellten. Von der Charlotte Avenue bog er nach Süden in die Beverly ein und kam in ein Mittelschichtviertel mit Backsteinhäusern und Doppelgaragen. Die Häuser schienen alle gleich zu sein, ihr Grundriss mit drei Schlafzimmern und einem Wohnzimmer ließ sich von der Straße aus erahnen. Vor einem weiß gestrichenen Haus, das sich nicht erkennbar von den anderen unterschied, hielt er an und fuhr, durch die regennasse Heckscheibe nach hinten blickend, rückwärts in die Einfahrt eines leer stehenden Hauses auf der anderen Straßenseite. Dann schaltete er die Scheinwerfer aus und stellte den Motor ab. Mit der plötzlichen Stille kehrte auch in ihm so etwas wie Ruhe ein, und er saß einfach da und lauschte dem Trommeln des Regens auf dem Autodach.
Er hatte wohl nicht richtig aufgepasst, dachte er. Aber mit dem Viertel war etwas geschehen. Es wirkte, als wäre es in den Fängen einer vagen Wirtschaftskrise. Die Gärten waren ungepflegt, in vielen standen FOR-SALE-Schilder oder Ankündigungen einer Zwangsversteigerung. Von mutwilligen Jungen eingeworfene Panoramafenster waren mit Sperrholz vernagelt. Alles hier wirkte traurig und verloren, so einladend wie ein surrealer Elefantenfriedhof, in den der amerikanische Traum gekommen war, um zu verenden.
In dem Haus, das Stoneburner beobachtete, brannte Licht. Es war bewohnt. Einmal sah er hinter den Vorhängen die Silhouette einer Frau. Der Stoff wurde zur Seite geschoben, ein Gesicht erschien, verschwand jedoch nach einem kurzen Blick auf die Straße wieder. Er saß schweigend und Bier trinkend da und starrte hinaus. Ein Auto kam angefahren, um die Scheinwerfer eine Korona aus Regen. Stoneburner schaltete seine Scheibenwischer ein. Das Auto hielt vor dem weiß gestrichenen Haus, gleich darauf stieg ein Mann aus. Aus Gewohnheit sah Stoneburner auf die Uhr. Neun Uhr fünfunddreißig. Eilig ging der Mann zum Haus. Er hatte einen schwarzen Regenmantel an, der im Licht der Straßenlampen glänzte. Seine Haare wirkten weiß. Stoneburner konnte nicht sagen, ob sie blond oder grau waren, aber der Gang des Manns hatte etwas Jugendliches, deswegen tippte er auf blond. Die Tür ging auf, als hätte der Mann eine versteckte Lichtschranke ausgelöst; im Türrahmen stand die Frau, ein hinterleuchteter Schatten mit einem Strahlenkranz aus blonden Haaren. Sie gingen hinein, die Tür wurde geschlossen. Stoneburner schaltete die Scheibenwischer wieder aus, und das Bild vor ihm verschwamm, wurde unscharf wie ein Gemälde unter Wasser.
Vielleicht ein Versicherungsagent. Ein Staubsaugervertreter, der seine unübertrefflichen Geräte vorführte. Ein Immobilienmakler. Der Mitarbeiter eines Bestattungsinstituts, der Gräber in malerischem Hügelland und dauerhafte Grabpflege anpries. Mit Betonung auf dauerhaft. Solche Geschichten hatte Stoneburner in den vergangenen zehn Jahren zur Genüge gehört. Vertreter, Gasableser, Brüder aus Philadelphia, Cousins aus Arizona. Unzählige Male hatte er gesehen, wie getuschte Wimpern aus großen Augen schmale Schlitze machten, sich Blicke in der Ferne verloren oder furchtsam wurden, wie sich Angst erst in Panik, dann in Trotz und Ablehnung verwandelte. Also gut, Sie haben mich erwischt. Und jetzt? Verraten Sie’s meinem Mann?
Es hatte Frauen gegeben, die Stoneburner wissen ließen, dass ihnen sein Schweigen etwas wert war und die Bezahlung nicht unbedingt in Form von Geld erfolgen müsste. Doch das hatte Stoneburner immer abgelehnt. Wenn ihm jemand Zeit abgekauft hatte, blieb sie gekauft. Nicht dass diese Zeit besonders wertvoll war, aber sich selbst wollte er deswegen nicht verkaufen. Er hatte sich schon zu viele in billigen Motelzimmern aufgenommene Mitschnitte angehört, zu viele mit einem Teleobjektiv aufgenommene Fotos entwickelt, in zu viele angewiderte Gesichter geblickt, wenn er die Fotos wieder an sich genommen oder den Kassettenrekorder abgeschaltet hatte.
Meine Frau würde nie so etwas sagen, nicht zu so einem Mann, hatte ihm ein Kunde beharrlich versichert. Daraufhin hatte Stoneburner mit den Schultern gezuckt und zitiert: Es ist das Herz ein trotzig und verzagtes Ding. Wer kann es ergründen?
Diesmal lagen die Dinge anders. Ihm war übel, ein dumpfer Schmerz wühlte in ihm. Es schien, als hätte das Schicksal den Spieß umgedreht und wollte es ihm heimzahlen. Sein eigenes Leben hatte ihn schachmatt gesetzt, denn das Haus, das er beobachtete, war seines, die Frau seine Ehefrau.
Er wusste nicht, warum er gekommen war, aber er war seit jeher der festen Überzeugung gewesen, dass Zeit, die man mit Lernen und Verstehen zubrachte, nicht vergeudet war. Leben heißt Streben nach Erkenntnis, hatte er gesagt. Auch das, was er jetzt sah, führte zu einer Erkenntnis, selbst wenn sie mehr als unerfreulich war. Aber vielleicht konnte er dennoch einen Nutzen daraus ziehen.
Es war zwei Uhr nachts, als der Mann das Haus wieder verließ. Stoneburner hatte längst kein Bier und keine Zigaretten mehr. Noch immer regnete es. Stoneburner ließ dem Chrysler ein Stück Vorsprung und folgte ihm mit seinem Pick-up in gemächlichem Tempo. In der Charlotte Avenue reihte sich der Chrysler in den spärlichen Verkehr aus Memphis ein, und Stoneburner schloss zu ihm auf. Mit anderen Autos um sich herum war er nicht mehr so leicht zu bemerken. Er nahm die .45er aus dem Hosenbund und legte sie auf den Beifahrersitz. Er fuhr dicht, bis knapp an die Stoßstange, auf den Chrysler auf und merkte sich das Kennzeichen. Plötzlich und ohne zu blinken, bog der andere von der Charlotte Avenue ab und fuhr an einer von blau-weißer Leuchtreklame erhellten Shoppingmall vorbei hinaus aus der Stadt. Er bog ein weiteres Mal ab und beschleunigte, und dabei beobachtete der Fahrer im Rückspiegel Stoneburners Pick-up. Kurz sah Stoneburner ein bleiches sorgenvolles Gesicht, erhellt vom Licht seiner eigenen Scheinwerfer.