Leseprobe aus Attica Locke „Heaven, My Home“

Aus dem Amerikanischen von Susanna Mende

© Polar Verlag 2020

 

© Christoph Kretschmer / Adobe Stock

Der Freitag, an dem es schließlich mit ihm durchging, begann völlig harmlos.

Er war an diesem Abend mit ein paar Ranger-Freunden verabredet, wobei Darren an der Reihe war, sie zu bewirten. Doch nachdem sich Roland Carroll beim letzten Mal auf ihrer Gästetoilette übergeben und dabei die Toilette um knapp einen Meter verfehlt hatte, war Lisa zu dem Schluss gekommen, dass sie seine Ranger-Kumpel nicht mehr so bald in ihrer Wohnung haben wollte. Also hatte Darren die Party neunzig Meilen den Highway 59 hinauf verlegt, auf seinen Familiensitz in Camilla. In der Rückschau erkannte er, dass er bereits an einem Aktionsplan gearbeitet hatte, was seine Mutter betraf. Und das, bevor er hörte, wie an dem Nachmittag ein Wagen auf dem unbefestigten Weg zum Farmhaus vorfuhr. Er hatte gerade die Chilischoten neben der Veranda gegossen – und gedacht, dass er sie rechtzeitig für das Weihnachtsessen einlegen könnte –, als Frank Vaughn, Bezirksstaatsanwalt von San Jacinto County, in die Auffahrt einbog und die Reifen seiner Ford-Limousine Klumpen feuchter roter Erde aufwühlten. Darren hatte den Mann seit seiner Zeugenaussage vor der Grand Jury nicht gesehen – als Rutherford »Mack« McMillan, langjähriger Freund der Familie, einer Anklage wegen Mordes an Ronnie »Redrum« Malvo, einem Mitglied der Arischen Bruderschaft von Texas und ein Riesenarschloch, entkommen war.

Damals verdächtigte Vaughn Darren, zu wissen, wo sich die Mordwaffe befand – Mack zu decken –, und die Grand Jury hatte schließlich eine Strafverfolgung abgelehnt. Bis zu welchem Grad Frank Vaughn Darren dafür verantwortlich machte, war schwer zu sagen. Aber Darren wusste, dass das kein zwangloser Besuch war. Als Vaughn aus seinem Wagen stieg, fiel die Mittagssonne auf sein dichtes Haar und den Diamantsplitter seines A&M-Absolventenrings. »N’Abend«, sagte er mit zusammengekniffenen Augen, was seinem Gesicht einen fast maskenhaften Ausdruck mit dunklen Augenschlitzen verlieh. Er war ein paar Jahre älter als Darren, hatte vielleicht sogar schon die fünfzig erreicht und hätte beruflich längst den Sprung in eine Großstadt schaffen müssen, wenn er das Talent und die Lust dazu gehabt hätte. Sein Bezirk schloss mehrere umliegende Countys mit ein, alle in seinem Herrschaftsbereich; die Mühlen der Justiz in diesem kleinen Teil von Osttexas mahlten auf seine Weisung hin, und so gefiel ihm das.

»Kann ich Ihnen behilflich sein?«, fragte Darren.

Er streckte die Hand nach dem Wasserhahn an der Hausseite aus, und als Vaughn die Verandastufen erreichte, war das lauwarme Wasser nur noch ein Rinnsal.

»Ich meinte, ich hätte Ihren Truck in Camilla gesehen.« Das Gebaren des Bezirksstaatsanwalts war grimmig, aber keineswegs unfreundlich – eher nachbarschaftlich, als würde er vorbeischauen, um Darren vor einem aufziehenden Sturm zu warnen, damit er die Fensterläden schloss und sich auf schweren Regen einstellte.

»Nun, Sie haben mich gefunden«, sagte Darren mit ruhiger Stimme, um sich nicht anmerken zu lassen, wie sehr ihn die Vorstellung beunruhigte, dass ihn der Bezirksstaatsanwalt überhaupt aufsuchte. Darren war nur allzu bewusst, dass er wegen Justizbehinderung oder Schlimmerem angeklagt werden konnte, falls die Behörden von der kurzläufigen 38er Wind bekamen, die seine Mutter im Herbst genau auf diesem Grundstück gefunden hatte. Er würde seine Marke verlieren und ins Gefängnis wandern.

Darren wickelte den Wasserschlauch um einen rostigen Haken, den Mack – der für die Mathews-Familie arbeitete – vor Jahrzehnten in den Rahmen der Holzveranda genagelt hatte. Es war kühl draußen, die Luft ziemlich frisch, der Himmel wie geschliffener Lapislazuli und der Regen aus grauen Wolken niedergeprasselt, als schuldeten sie jemandem Geld. Sie waren noch ein gutes Stück von einem richtigen Dezemberfrost entfernt. Nicht nötig, die Zwiebeln und Kohlköpfe in den nächsten zwei Wochen abzudecken, dachte Darren, als er den Schlauch aufhängte. Er tat es sorgfältig und geduldig in Vaughns Beisein, eine Demonstration stoischer Ruhe.

»Nun, Sie wissen, dass wir die Sache nicht einfach auf sich beruhen lassen können«, sagte der Bezirksstaatsanwalt, als würden sie eine erst kürzlich begonnene Unterhaltung fortsetzen. »Mit dem Toten und alldem. Ronnie Malvo war Abschaum, das war kein Geheimnis. Aber wir können nicht zulassen, dass Leute einfach Selbstjustiz üben. Nicht in meinem Bezirk, Ranger.«

»Keine Ahnung, was das mit mir zu tun hat. Ich habe meine Aussage vor Gericht gemacht.«

»Das haben Sie.«
»Und Mack wurde freigesprochen.«
»Er schon, ja«, sagte Vaughn. »Vorerst.« Er kam ein wenig näher, sodass er und Darren sich neben dem Haus direkt gegenüber standen. »Aber falls da noch jemand in die Sache verwickelt ist, find ich’s raus. Sie wissen das, Ranger. Betrachten Sie das also als einen Höflichkeitsbesuch.« Er blickte hinunter auf seine Stiefelspitzen, dunkelbraune Roper, die in der Erde auf dem Mathews-Grundstück ihren Glanz verloren. Als er wieder aufblickte, hatte er ein leichtes Grinsen im Gesicht und sagte Darren auf den Kopf zu: »Ich hätte auch in das Ranger-Büro unten in Houston kommen und rumtönen können, dass sie in der Sache nicht unbedingt aus der Schusslinie sind.«

»Ich?«

»Ich hoffe, dem ist nicht so, wirklich«, sagte Vaughn. Trotzdem wurde das Grinsen breiter, und die Fältchen um seine schmalen Augen herum verzogen sich, als er hinzufügte: »Aber falls Sie vorhaben, Rutherford McMillan weiterhin zu decken, werden Sie vielleicht auf zwölf Männer und Frauen treffen, die über Ihr Schicksal befinden. Es wird auf jeden Fall eine weitere Grand Jury geben, merken Sie sich meine Worte, Ranger. Sie können vor ihr aussagen oder derjenige sein, der den Gerichtsbeschluss ausbaden muss.«

Darren erstarrte sichtbar.

In den Monaten, in denen der Mord an Malvo ein so verheerendes Chaos in Darrens Leben und Karriere angerichtet hatte, war der Bezirksstaatsanwalt einer Drohung noch nie so nah gewesen. Er versuchte sie abzuschwächen, indem er eine Hand auf Darrens Schulter legte, um ihm ein entspanntes Gefühl zu vermitteln, eine Geste, die irgendwie peinlich war, weil Darren gut fünf Zentimeter größer war, mit Stiefeln zehn, sodass sich keiner der beiden Männer mit der Machtverteilung wirklich wohlfühlte. »Ich hoffe, ich kann in dieser Sache auf Ihre Kooperation zählen«, sagte Vaughn, als er sich zu seinem Wagen umwandte. »Mein Büro wird sich den Fall noch mal in allen Einzelheiten vornehmen. Wir werden Zeugen befragen, neue«, sagte er und hielt inne, um die Wagenschlüssel aus der Tasche seiner marineblauen Hose zu fischen und den nächsten Schlag zu platzieren. »Ihre Mutter zum Beispiel.«

Darren spürte einen Anflug von Panik.

Er wusste, dass er vorsichtig sein musste, und trotzdem war seine Stimme so laut, dass es ihm peinlich war. Meine Güte, er klang erschrocken, sogar fassungslos. »Bell Callis ist Ronnie Malvo nie begegnet, sie hat überhaupt keine Ahnung, wer er ist.«

»Aber sie kennt Sie.« Vaughn sah Darren über den Rand der Fahrertür an. Das Grinsen wollte ihm nicht mehr aus dem Gesicht weichen. Darren erkannte jetzt das selbstgefällige Vergnügen, den Blick eines Mannes, der ein paar Hunderter mehr und ein gutes Blatt hatte. »Sie waren in letzter Zeit häufig bei ihr draußen. Jedenfalls haben mir die Deputys aus der Gegend das erzählt.«

»Keine Ahnung, was das Ihrer Meinung nach zu bedeuten hat«, erwiderte Darren.

»Vielleicht gar nichts … vielleicht aber doch.«

»Haben Sie mit ihr gesprochen?«, fragte Darren und bereute die Worte in dem Moment, in dem sie ihm wie lockere Zähne aus dem Mund fielen. Er verspürte einen Kontrollverlust, der ihn zuerst beschämte und dann erschreckte. Als er wieder das Wort ergriff, geschah es voller gerechtem Zorn. »Meiner Mutter geht es nicht gut«, sagte er, weil es in gewisser Weise einfach so sein musste, sein gesamtes Leben erklären musste. »Falls ich herausfinden sollte, dass Sie sie belästigen …«

Vaughn hob eine Hand, nicht so, als wollte er sich verabschieden, sondern vielmehr so, als entließe er Darren vorerst nur. »Wir reden noch, Mathews«, sagte er und glitt auf den Fahrersitz seines Fort Taurus. »Wir reden noch.« Ein paar Sekunden später hörte Darren, wie der Motor angelassen wurde. Er stand reglos da, so als wären aus dem Boden Ranken hochgeschossen und hätten sich um seine Fußknöchel gelegt. Er konnte sich nicht bewegen, selbst als von Frank Vaughn nichts mehr zu sehen war außer aufgewirbelter roter Erde in der Auffahrt. »Scheiße«, murmelte er. Das Spiel war aus. Er würde wegen Bell etwas unternehmen müssen.

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