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Valentine Imhof

„Par les rafales“

 

©Max Soklov / Adobe Stock

„Wer sich tätowiert, ist ein Faschist“, sagt der deutsche Philosoph Bazon Brock. Tinte unter die Haut zu spritzen bedeutet für ihn, die Natürlichkeit des Körpers zu vernichten und der Zerstörungskraft von Gewalt freien Lauf zu lassen. Tattoos sind in diesem Sinne barbarische Akte, die von einem mangelnden Respekt gegenüber der eigenen Physis zeugen. Der Gedanke ist radikal und doch für jeden nachvollziehbar: Das Reine, Unbefleckte übt einen unwiderstehlichen Reiz auf die Umgebung aus. Fortwährend sind wir damit beschäftigt, Mängel auszumerzen, Fältchen zu glätten und Gefährder unserer lichten Energie aus unserem Leben zu kicken, ganz als wäre es möglich, einen imaginierten paradiesischen Urzustand wiederzuerlangen.

Dieser Traum ist unweigerlich zum Scheitern verurteilt. Eine Rückwärtsbewegung ist dem gemeinen Sterblichen verwehrt. Besonders verschärfte Bedingungen gelten jedoch für Opfer von Gewalt. Die Versehrten, die Verwundeten, die an Leib und Seele Leidenden müssen mit ihren Schmerzen und Beeinträchtigungen leben, in eine ungewisse Zukunft hineinschreiten, in der Heilung nur als fernes Versprechen aufscheint. Was aber bedeutet für diese Menschen der Körper? Was wird aus dieser Haut, die von Übergriffigkeit, zeugt? Man kann sie nicht vergessen, man kann das Geschehene nicht ungeschehen machen. Brock macht jeden, der diese Haut verändert zum Faschisten. Valentine Imhof hingegen löscht mit der Beschreibung eben dieser Haut die eingeschriebene Gewalt aus.

Imhofs Figur Alex Fjærsten ist eine radikale Frauenfigur, die das große Wagnis eingeht, sich nach einer Vergewaltigung selbst neu zu erschaffen. Alex wird nicht aus der Rippe eines Anderen wiedergeboren, sondern ist Schöpferin ihrer selbst. Damit bricht die Autorin sowohl mit der klassischen Opfer- als auch Rächerinnenrolle. Ihre Protagonistin ist kein gebrochenes, vom Schicksal gebeugtes Wesen, das sich waidwund aus der Welt zurückzieht und aus Selbstschutz klösterlichen Verzicht predigt. Auch ist sie keine Schwester der Erinnyen, die in Blut geboren, Jagd machen auf Übeltäter, ewiglich Vergeltung suchen und in heiligem Zorn Rache üben.

Vielmehr könnte Alex einem Rape & Revenge der subtileren Art entsprungen sein. Das Rape & Revenge-Genre, bekannt durch Filme wie „I spit on your grave“, wird leider immer noch zu wenig literarisch bearbeitet. Virginie Despentes, die erfolgreiche französische Schriftstellerin, griff das Motiv in den 90ern mit „Baise-moi“ auf und provozierte Zensur und Aufruhr. Seither ist trotz #metoo nicht viel im europäischen Raum passiert. Imhof wagt sich an dieses brisante Thema und überzeugt mit ihrer Rape & Revenge-Variante. Dies nicht zuletzt, weil sie die Hauptfigur psychologisch durchdringt und ihr Text sich nicht in reinen Splatter-Szenen erschöpft. Alex spuckt nicht auf das Grab der Täter, veranstaltet nicht zombiehaft ein Kettensägen-Massaker. Sie schmiert keine gelbliche Scheiße in offene Wunden, bis sich schwarze, krustige Haut ablöst und Mikroben die inneren Organe zerfressen. Sie ist kein Creepy Monster, das den Kopf des Täters in eine stinkende Kloschüssel taucht, bis Fäkalien und Urin seine Speiseröhre füllen.

Alex handelt sofort, verteidigt sich, schneidet ihrem Peiniger die Kehle durch. Das unterscheidet sie bereits von ihren Sisters in Pain, die erst ein Erweckungserlebnis der Rache brauchen, ein langsames Aufkeimen von Vendetta-Gelüsten, die sich in einem zerstörten Leib Bahn brechen. Diese charakterliche Besonderheit liegt daran, dass Alex vor der Tat nicht angstbesetzt und verstört wirkt, sondern vital, lebenslustig und mit einem messerscharfen Verstand gesegnet. Hinzu kommt, dass Alex um dieses Gefängnis, das sich Körper nennt, weiß. Das ist eine grundstürzende Erkenntnis. Da wir aus dem Körper nicht ausbrechen können, müssen wir ihn gestalten. Vom Philosophen Ernst Bloch heißt es, er sei zusammengebrochen, als er erkannte, dass der Ausbruch aus der eigenen Wahrnehmung nicht möglich sei. Alex aber findet sich nicht mit dieser Ohnmacht ab, sondern wagt die Neuschöpfung als „femme-livre“, als Frau und Buch zugleich. Mit jedem Nadelstich, jeder Tätowierung, schreibt sie die erfahrene Gewalt in Verse der Liebe und der Hoffnung um, um wieder Mensch zu werden durch Sprache. Ihr Wunsch ist es, die Haut zu wechseln, sich zu häuten, das Erlittene auszulöschen. Dafür lässt sie sich den Körper bis auf Gesicht, Hals, Unterarme und Waden tätowieren. Sie wählt zusammen mit ihrem Freund Bernd Texte aus der Weltliteratur: Milton, Bram Stoker, Kafka, Baudelaire, Shakespeare. Diese fügen sich zu einem dramatischen Körperbild ohne Punkt und Komma, tätowiert in humanistischer Schrifttype, dem Symbol der Wiederauferstehung.

Dass dieser unbeirrte Glaube an die Macht der Schrift aber auch nur eine menschliche Hybris ist, zeigt sich daran, dass Traumata zwar gelöst werden können, diese Freiheit jedoch nur mit allerlei psychischen Verwundungen erkauft werden kann.

Alex ist eine weibliche Hauptfigur, die das Ausmaß der Traumatisierung durch Vergewaltigung vor Augen führt. Gefangen in einer Psychose mit paranoiden Elementen, charakterisiert irrationale Verzweiflung die Rächerinnen-Figur. Das ist ungewöhnlich, überbordend, too much für viele von uns, die wir Gewalt aus der Wirklichkeit am liebsten ausradieren und uns in Safe Spaces zurückziehen würden.

Der Rahmen, in dem Gewalt, Hass und Rache in Deutschland diskutiert werden, ist eng gesteckt: Zwischen Carolin Emckes öffentlichem, kontroversem Diskurs („Wer behauptet, aus politischen Motiven heraus zu töten, (…) der muss den begangenen Mord auch öffentlich erklären (…). Worin sonst sollte der politische Charakter des Tötens bestehen?“ Zeit Online, 6.9. 2007) und Maxim Billers „Hundert Zeilen Hass“ bewegt sich das intellektuell Akzeptable. Der Rest wird marginalisiert und wahlweise mit den Labeln „rechts“, „neoliberal“ oder „sexistisch“ versehen.

Ganz anders jenseits des Atlantiks. Gewaltdebatten um Nature und Nurture werden in amerikanischen Serien genauso selbstverständlich in das Szenario eingebaut, wie sie in skandinavischen Ländern tabulos erforscht werden. In der HBO-Serie „Big Little Lies“ fragen sich Serien-Super-Mummies, ob der Sprössling womöglich das Gewalt-Gen des Vaters geerbt haben könnte. In einem Tatort eine geradezu häretische Mutmaßung!

Imhof geht noch einen Schritt weiter. Sie bricht die gewaltige, gewalttätige Natur ihrer Protagonistin durch Psychosen und Verfolgungswahn. Dieses Prisma führt zu einer äußerst facettenreichen Hauptfigur, die Trash geschickt umschifft. Alex ist dünnhäutig, lässt den Körper überschreiben von einem Mann, der ihre vorige Existenz auszuradieren versucht, indem er ihr – der „femme toute écrite“ – eine neue Bedeutung, einen neuen Sinn verleiht. Wie Imhof den Schöpfungsgedanken mit verschiedenen Mythen durchwebt und interpretiert, ist beeindruckend. Imhof ist eine profunde Kennerin der nordischen Mythologie. In Interviews bekundet sie immer wieder ihre Leidenschaft für die rauen Landschaften, die meteorologischen Urgewalten. Eine passionierte Leserin ist sie ohnehin. Sie arbeitet als Lehrerin in Frankreich, einem Land, das höchste Ansprüche an die Lehrerschaft stellt. Verwunderlich ist es deshalb nicht, dass die Textpassagen der Tattoos sämtlich aus berühmten Werken der Literatur stammen. Bemüht oder gar belehrend ist „Par les rafales“ dennoch nicht. Beiläufig, ganz nonchalant flicht Imhof die Texte ein. Alex ist eine jener Figuren, die im Französischkurs genauso Furore machen würden wie auf der Leinwand: stark und verletzlich, plakativ, greifbar und psychologisch ins Flirrende entgleitend.

Der Plot tritt dabei fast in den Hintergrund. Getragen wird die Handlung von der Hauptfigur. Getrieben wird die Geschichte von Ängsten, Liebe und Rache.

Imhofs Buch lässt sich durchaus als ein feministisches Buch verstehen, ohne dass die Autorin jedoch der Versuchung erläge, unüberwindbare Mauern zwischen den Geschlechtern hochzuziehen. Die Hauptfigur wird geliebt und unterstützt von Männern in ihrem Ausbruch aus der Opferrolle. Ihr Scheitern ist eher dem Fatum anzulasten als menschlicher Handlungsfähigkeit. Die Handlungsstränge legen sich einer Schlinge gleich um Alex. Verfolger, real und erdacht, und Beschützer kreisen Alex ein. Ohnmächtig gegenüber den Sturmböen des Lebens, stürzt sich Alex in die Fluten und erlöst sich selbst.

Der Verzicht auf Viktimisierung gründet nicht zuletzt in Imhofs Faible für die nordische Mythologie. Alex ist eine Schwester Hels, der Tochter des nordischen Gottes Loki. Sie wacht über die Toten, denen Walhalla verweigert bleibt. Durch diese Nähe zu starken nordischen Göttinnen vermeidet Imhof, dass Alex‘ Liebesbeziehungen in fusionellen Kitsch abdriften. Der Tod ist nur ein Begleiter des Lebens und der Liebe. Wer weiß, was uns in dieser anderen Welt erwartet? Das ist das Tröstliche und zugleich Schmerzliche dieses Buches. Weltliche Gerechtigkeit kann es nicht geben. Die Götter werden’s schon richten.

Der Moloch an Gefühlen und fatalen Bewegungen, denen uns Imhof aussetzt, ist harter Stoff, erdrückend aber ist er nicht. Dass wir nicht untergehen in nordischer Urgewalt und französischer Finesse, ist Imhofs Sprache geschuldet. Mühelos schwingen sich fast schon poetische Beschreibungen von Sex und Gewalt auf popliterarische Passagen ein; das Ganze beschirmt von Texten der Weltliteratur, die von Dostojewski über Kafka, Shelley und Zweig bis zu Nietzsche und Apollinaire reichen.

Im Gegensatz zu vielen amerikanischen Noir-Romanen verzichtet Imhof auf ein dialogisches Übermaß. Nur dramaturgisch wichtige Stellen betont sie mit Dialogen. Namen von Musikbands und Songtexte werden häufiger zitiert, schmiegen sich in den Text ein. Der Zugriff auf die Popliteratur ist als Kniff zu verstehen, der dem Text eine besondere Rhythmisierung verleiht. Alex Fjærsten ist eine „Hate Machine“ mit einem „Heart of Gold“. Diesen Widerspruch zu ertragen, ist eine der großen Herausforderungen des Lebens. Wer dazu nicht gewillt ist, endet als blutleerer Golem oder als willfährige Beute derer, die mit dem Codeword „Safe“ dem Tod vergebens ein Schnippchen schlagen wollen.

Ute Cohen