Vom Verschwinden der Kinder

von Monika Lustig

 

©Max Soklov / Adobe Stock

Am Anfang steht die Geografie. Die Barbagia, Region im Nordosten Sardiniens, an die Ogliastra grenzend, »ein Sardinien von mehreren«. Dort in Núoro, dem sardischen Athen, ist Marcello Fois 1960 geboren. Er ist eine der gewichtigsten Stimmen Sardiniens, einer der bedeutendsten Autoren Italiens. Seine Werke sind in viele Sprachen übersetzt; in der englischen Ausgabe rangieren sie in Reihen neben Perec, Auster, Musil. Preise und Auszeichnungen zuhauf. Mit »Zwischen den Zeiten«, II. Bd. der Familiensaga der Chironi, war er 2014 von der Europäischen Kommission zu »Europa literarisch« nach Berlin eingeladen. Für mich als Übersetzerin ist dieser begnadete, eigenwillige Erzähler immer wieder eine großartige sprachliche Herausforderung.

Viel liegt Marcello Fois (fo-is gesprochen, der Name stammt aus dem Katalanischen) an der Feststellung, dass er ein Bergsarde ist, keiner von der smaragden Küste – leicht zu vereinnahmen von Eroberern aller Art, wo der Blick im unendlichen Blau verloren, die Unterschiede nicht wahrnimmt, folkloresüchtig ein Bild schafft, in das seine Barbagia nicht passt.

Ihre »naturgegebene Kondition« ist der Winter, der Tiefe und komplexe Lebendigkeit verleiht, und die Berge die Substanz schlechthin darstellen. Im ruhelosen Herzen von San Pietro, Stadtteil von Núoro, wuchs Marcello Fois, als Einzelkind geboren, ein fattu andante (Unruhegeist), inmitten einer riesigen Familie, »Sippschaft« auf, in der noch die Cousins und Cousinen bis zum dritten Grad zur engeren Verwandtschaft zählen. Unter ihnen war er der erste mit einem höheren Bildungsabschluss, »weshalb ihm gar nichts anderes übrigblieb, als stets der beste zu sein«.

»Als ich auf die Welt kam, hat man mir beigebracht, dass ich Sohn von, Neffe/Enkel von, der seinerseits »razza« von ist, die aus … stammen. Und diese biblische Sequenz ist bis heute eine der wenigen Gewissheiten, die ich mir erhalten habe, mir zu erhalten in der Lage bin. Der Rest schwimmt im mare magnum des Unwägbaren.«

Gefördert von gebildeten Eltern, die auch Reisen »auf den Kontinent« unternahmen, misstrauisch beäugt von »den anderen«, da sie als eine der ersten überhaupt im Sommer die reine kühle Luft der Berge zugunsten der mit Stechmücken verseuchten, heißen Niederungen verließen, ihr Quartier am Meer aufschlugen. Nebst dem gesellschaftlichen Ruf war so auch der schneeweiße kultisch gepflegte Teint der Frauen in Gefahr.

Diese bio-geografische Hintergrundbegehung dient dazu, die Eigenart und Eigenständigkeit des Fois’schen Schreibens, den zuweilen komplizierten Stil offenzulegen: All das findet sich im Bewusstsein der Zusammenhänge, in der geschärften Wahrnehmung, dem alltäglichen Vergegenwärtigen der Naturelemente, die er in seinem Erzählen zu Handlungsträgern macht, »eine narrative Technik, die ich sehr liebe« (MF).

So auch hier in »Abschiede«. Wer hat dem Wind, der Luft je mehr und sprechendere Stimmen gegeben? Die Luft ist laut Anaximenes jene Urkraft, aus der alles Stoffliche, selbst das Göttliche, hervorgeht und die den Kosmos zu einem harmonischen, wiewohl sich stets verändernden Ganzen macht. In ihr ist die Vielfalt und Komplexität menschlicher Verhaltensweisen und Handlungen eingebunden. Diese Grenzen zu durchbrechen scheint nur im Schreiben möglich. Doch das Geniale der Fois’schen Kunst ist, das kosmogonische Prinzip in der Moderne, der Ära der Vereinsamung des Individuums, zu verankern. Als Maßstab zu Sondierung und Auslotung seelischer Abgründe. Diesem Reichtum uralten Wissens trägt sein Schreiben, das in »Abschiede« ein ausgereiftes ist, aus dem Vollen schöpfend, Rechnung.

In gewisser Weise entsteht so auch eine Form des »Überwachens«, nämlich indem der Erzähler dem Menschen in seiner Neigung zu Täuschung und Selbsttäuschung den Spiegel vorhält. Gerade die Lüfte sind es, die Gerüchte und falsche Behauptungen in die Welt tragen, den Lauf des Geschehens verdunkeln. So sind auch die Lesenden in die Pflicht genommen: ihnen ist nicht gestattet, über ein Wort, auch nur das kleinste Adjektiv hinweg zu huschen. Der Schreibende fordert vom Lesenden die gleiche akute Wahrnehmung wie er sie, quasi eine Gesetzmäßigkeit, als kognitives wie sinnesförderndes Instrumentarium in seiner Landschaft, Insel auf der Insel, zwangsläufig erfahren hat. Die Barbagia, seine erste Schreibschule. Die Barbagia unsere Leseinsel, auf der wir die Fois’schen Werke, sehr viele von ihnen finden.

»Der Barbaricino, ein wandelnder Stammbaum« trägt immer schon ein virulentes Bedürfnis nach Hypergenauigkeit mit sich herum. Was er ist, das bestimmt sich durch »die Vollkommenheit seiner Platzierung im Universum«. Dieses Bedürfnis nach ausgefeilter Präzision »rührt vom Bewusstsein der eigenen Vagheit, der eigenen Unausgewogenheit, der Unfähigkeit, sich selbst zu definieren«.

In seinem geophilosophischen Handbuch »In Sardegna non c’è il mare« (In Sardinien gibt es kein Meer), (2008 bei Laterza), beschreibt er die komplexe Dualität oder Bipolarität wie folgt: »Der Barbaricino hat ein komparatives Bewusstsein, bei sich zu Hause (in seinem Ort, Stadt, Region) sehnt er sich nach externen Modellen und vergleicht sie konstant mit seinen autochthonen. Zugleich kommt er nicht umhin, sich in seinem Innern als Verlierer zu sehen. Chancen, Zivilisation im Allgemeinen, Lebensqualität − um jetzt nur mal von den Makrosystemen zu sprechen − erscheinen an den Hängen als unerreichbare Sirenen von großartiger Schönheit. Doch geht’s dann ums Detail, wendet sich diese Situation, sobald ein Barbaricino das Meer überquert hat: das Brot auf dem Festland ist ungenießbar; unsere Milch ist sehr viel besser; ganz zu schweigen von der guten Luft. Außerhalb des eigenen Territoriums verkehrt sich das Maß, und von Verlierern werden wir zu Gewinnern.«

Der Charakter der Barbaricini.

Cicero sprach ihnen vor Urzeiten die Eignung ab, überhaupt einen Charakter zu haben: Für ihn waren sie schlicht und einfach pelliti, eine Stufe über den Tieren, mit deren Fell sie bekleidet und nichts als deren Hüter waren.

Wenige Dinge einen die vielen Sardinien, aus denen sich der Inselkontinent zusammensetzt. Eines davon ist gewiss das Meer: Gefängnis und Korridor zur Freiheit zugleich. Diesen Korridor nahm Marcello Fois Anfang der 80er Jahre und ging nach Bologna, die reiche, die gebildete Stadt mit der ältesten Universität Europas, wo er bei Ezio Raimondi, seinem großen Lehrmeister, seinerseits Schriftsteller, Literaturwissenschaften studierte; an seiner Seite, »gemeinsam großgeworden an der Uni«, Carlo Lucarelli, der andere geschätzte Erzähler des italienischen Noir, aus Bologna.

»Viele Male habe ich den Schiffssteg überquert – vom geerdeten Alles hin zum schwingenden Nichts. Um dann einzutauchen in ein anderes Alles, das dann aber die Welt war. (…) diesen Laufsteg zu passieren (war) die Art und Weise, um anderswo heimisch zu werden (…) um zu meinem wartenden Ich überzusetzen … mit freudigem Entsetzen und einem Würgen im Hals.« (aus »Fährschiffe«, in: »Sardinien«, 2011, Wagenbach).

Fois ist nur einer von vielen Sarden (geschätzt 1,5 Millionen), die in der Diaspora leben. Sesshaftigkeit endet da, wo es ums Überleben, Existenz und Zukunft geht. Tendenziell fühlen sich die sardischen Emigranten wohl da, wo sie sich niederlassen, entwickeln ihr Sardentum auf befruchtende Weise. Für alle soll, so das Fois’sche Credo, gelten: »Die Sarden außerhalb Sardiniens sind die Besten. Sie tragen die sardische Genügsamkeit mit sich, jene Schlichtheit, die Grade erreichen kann, die schon an Widerstand und Verweigerung denken lassen«.

Fois fand sein wartendes Ich, findet es immer wieder aufs Neue. Findet es im Schreiben. Die Liste seiner Werke ist lang. Erzählungen, Krimis, Noirs, die gewichtige Trilogie der Familiensaga der Chironi, Theaterprosa, Essays. Sein erstes Werk – in Bologna konnte man der bildenden Kunst nicht aus dem Weg gehen – war »Picta«, (1992, Premio Calvino), mit dem er sein großartiges Erzählertalent offenbarte. Phantasiereiche Erzählungen, wo sich im Rhythmus des Pinselstrichs mehr oder weniger bekannter Maler die Feder des Erzählers bewegt; in jedem Portrait, in jedem Bild eine lebendige Wahrheit über Kreativität, dank der tiefen Verbindung, die er zwischen Wort und Farbe zu schaffen versteht, seine Empathie mit dem Künstler im Dialog mit dem eigenen Werk.

Seine Barbagia hatte Fois nicht nur geografisch im Gepäck. Als die Ferne es ihm erlaubte, ihr ganz nah zu sein, war es für ihn Pflicht und Kür in einem, sich auch den sardischen Schriftstellern zu stellen. Und als erster, natürlich, Grazia Deledda, der »Mutter aller sardischen Schriftsteller«. Seine erste Begegnung mit ihr erfolgte in der Grundschule durch die Lektüre von »Das kleine Wildschwein«; die Geschichte handelt von der ewigen Habgier der Reichen gegenüber den Armen. Ihre Romane wie »Schilfrohr im Wind«, »Die Mutter«, »Marianna Sorcu« (der auch verfilmt wurde), kamen dann später.

Grazia Deledda ist 1871 in Núoro in wohlhabendem Elternhaus geboren. Gleichwohl war die Mutter Analphabetin und neidete ihr das Schreiben, den Erfolg, legte ihr viele Steine in den Weg. So ging auch sie, Deledda, mit Ende zwanzig nach Rom, wo sie bis zu ihrem Tod 1936, mit Mann und zwei Söhnen, lebte.

1926 erhielt Grazia Deledda als erste und bislang einzige italienische Schriftstellerin den Literaturnobelpreis. «Ein Nobelpreis für die Sarden, die vorher schlicht und einfach für die Welt nicht existiert hatten«, als gebildetes, schreibendes Volk. (M F)

Ihr widmete Fois 2016 das Theaterstück in Romanform »Quasi, Grazia«.

»Grazia Deledda stellte die Sarden und die Nation vor ein methodisches Problem: Lassen sich die entsprechenden Worte – geschriebene – finden, um eine Kultur des Schweigens zu beschreiben?« Furios widmete sie sich der Aufgabe, eine Brücke zu schlagen zwischen der offiziellen Kultur und dem menschlichen, narrativen, lokalen Material, das ihr zur Verfügung stand. Sie schaffte eine Art Passepartout, um die gut gepolsterten, seit Jahrtausenden gesicherten Türen des Unsagbaren zu öffnen. Sie schuf eine literarische Idee von Sardinien, getragen von weiblichen Protagonisten.

Dass sie sich damit nicht nur Freunde machte, versteht sich von selbst. »In einem Moment sagen sie zu dir, dass sie dich lieben, im anderen wünschen sie dir zu krepieren. Ich stehe an deiner Seite, aber ich bin gegen dich. Siehst du? Ist das vorstellbar? Und dann wundern sie sich, wenn du wegwillst. Das nehmen sie dann als persönliche Beleidigung für jeden einzelnen von ihnen. Denkst du, dass zu Hause jemals einer zu mir gesagt hätte: ›Ach, du wurdest auf dem Festland publiziert? Gut so!‹ Nein, niemals. Sie sagten vielmehr: ›Wenn die Leute reden, dann wird es schon seinen Grund haben‹. Verstanden? Das sagten sie.«

Des Volkes Stimme, die gefürchtete Vulgata, die nicht der Wahrheit verpflichtet ist und doch vorgibt alles zu wissen.

Die wahre Sünde der Grazia Deledda war das Schreiben an und für sich. Zu schreiben, fiktiv, literarisch, bedeutete, gegen das »ungeschriebene« Gesetz zu verstoßen, von der eine orale Gesellschaft beherrscht wird: Und damit das unendlich Modifizierbare dauerhaft zu machen, das Hypothetische apodiktisch erscheinen zu lassen. Praktisch einen Punkt machen, die Ruder ins Boot holen. Die Grimassen vor dem Spiegel zu einem ernsthaften Blick zu sammeln«.

Das Theaterstück wurde mehrfach mit Michela Murgia in der Rolle der Grazia Deledda zur Aufführung gebracht. Murgia, aus der jüngeren sardischen Schriftstellergeneration, zählt zu den streitbarsten Stimmen Italiens; zuletzt erschienen, in Deutschland, »Faschist werden. Eine Anleitung« (2019, Wagenbach).

Die Inseln zwingen dich zu fliehen, zu verschwinden und zugleich verzeihen sie es dir nicht, geflohen zu sein. Damit ist ein unauflösliches Band geschmiedet. Du bist in der Insel, auch wenn du nicht da bist, nicht da sein willst.

Aber Fois wollte sein. Auf der, auf seiner Insel. 2004 hat er zusammen mit Gleichgesinnten in Gavoi, einem kleinen Bergdorf im Gennargentu-Gebirge das Literatur-Festival »L’Isola delle Storie« gegründet. »Ich habe versucht und suche das noch immer, Jahrein, Jahraus, den Pakt zwischen mir und meiner Heimat (terra) zu erneuern: Indem ich Autoren, die ich kenne, Bücher, die ich gelesen habe, Personen, die ich gerne kennenlernen möchte, dorthin einlade. So ist ein großartiges und über alle Grenzen hinaus geschätztes Festival entstanden, das dieses Jahr eine »Pause« macht, nächstes Jahr sehen wir weiter. Wie viele und welche Gäste das Festival in all den Jahren beehrt haben, dazu braucht man nur auf www.isoladellestorie.it zu gehen. Es gibt einige Autoren, die ich noch gerne einladen will, wie zum Beispiel Karl Ove Knausgaard oder Christoph Ransmayr, dessen Roman »Die letzte Welt« für mich ein absolutes Meisterwerk ist.

Bekannt wurde Fois in Deutschland mit seinen Krimis, in denen der Avvocato Bustianu der Protagonist sich – natürlich – in der Barbagia bewegt. Der erste trägt den Titel »Sempre caro« – das berühmte Incipit1aus dem Poem »L’infinito«, »Das Unendliche« von Giacomo Leopardi, dem größten italienischen Dichter des 19. Jh.; Fois spielt mit dieser nach Innerlichkeit, nach Heimat klingenden Zeile – und führt sie damit gleich ad absurdum.

Der deutsche Titel »1000 Schritte – Ein Fall für Avvocato Bustianu« trägt davon keine Spur. Im Vorwort zum Original schrieb Andrea Camilleri: »Ein nicht urbaner Krimi wäre eine wirklich rare Perle. Aber von nun an will ich nicht mehr von Krimi sprechen, denn zu behaupten, dass dies ein Kriminalroman wäre, klingt äußerst reduktiv. Ganz einfach. Es ist ein Roman. Und zwar nach allen Regeln der Romankunst!«

Bustianu, Protagonist auch der beiden anderen Krimis, »Himmelsblut« und »Die blaue Zunge«, ist keine erfundene Figur.

Sebastiano Satta wurde 1867, kurz nach der italienischen Einheit in Núoro geboren, starb dort zu Beginn des I. Weltkriegs; er war Dichter (»Canti barbaricini«) und als Strafverteidiger ein Grundpfeiler des Nuoreser Gerichtshofs. Als Dichter wie als Jurist sah er seinen Heimatort mit kritischen Augen, pflegte aber alles Sardische auf kultische Weise. Er war die perfekte Figur des Helden, denn »es brauchte einen echten Helden, wenn er mehrere Romane tragen sollte«. In »1000 Schritte« geht es um die Ermittlung im Fall eines Viehdiebstahls. Ein einfacher Fall, der ganz mit der Intuition und der Leidenschaft eines Mannes – in der Fiktion – spielt, der genau in der Mitte, zwischen Tradition und Moderne steht. In einer Zeit ohne jegliche digitalen Hilfsmittel, sogar noch ohne wissenschaftliche Techniken in Sachen Fingerabdrücke. In einer Barbagia, wo die Angliederung an eine moderne Nation, eben das gerade geborene Italien, oft und nicht immer zu Unrecht als Bevormundung empfunden wurde. Zur präziseren, sinnlichen und erdigen Beschreibung gelingt es Fois, in diesen Romanen den Dialekt so in den italienischen Erzählfluss einzubinden, dass durch ihn alles zum Strahlen kommt. Nicht der Dialekt als Solitär funkelt. »Die Sprache in diesem und allen Fois’schen Werken ist kein sardisiertes Italienisch noch ein italianisiertes Sardisch, sondern »der Ausdruck von Freiheit eines Zweisprachlers, der die absolute Autorität einer der beiden Idiome leugnet und den Mut hat, beiden den Gehorsam zu verweigern«.

Atemberaubend die fiktive Biografie des Banditen Emanuele Stochino, des »Tigers der Ogliastra« :»Memoria del vuoto« (so viel wie Erinnerung ans Nichts) (Einaudi 2006). Auf Deutsch ist es der sehr explizite – »Sardische Vendetta« (List, 2008).

Die Verweigerung eines Glas Wassers wird hier zum Auslöser eines wahren Blutrauschs, so will es scheinen. Fois kommentiert den deutschen Titel als »der Welle wechselseitiger Vorurteile, Italien – Deutschland, geschuldet. Hier handelt es sich nun mal nicht um eine klassische Rachegeschichte, sondern um die Erzählung eines Unvermögens. Sie erzählt von denen, die nicht über das Instrumentarium verfügen, um die Welt zu deuten, und die folglich zur Gewalt greifen, auch der physischen, um auf die eigene Ohnmacht zu reagieren. Die Leere des Banditen Stochino ist die Identitätsleere all jener, die sich an den Blick der anderen gewöhnt haben, ohne den eigenen Blick vorzulegen. Es ist die Leere derjenigen, die sich abwenden vor den großen Tragödien, die auf uns niedergehen, die denken, dass die Geschichte ein Privatevent ist und nichts Gesellschaftliches, die ganze Menschengemeinschaft betreffendes. Wer Geschichte als etwas Privates abhandelt, wird die Realität in einem exklusiven, egoistischen Verhältnis zu seinen eigenen Bedürfnissen sehen: welche Solidarität, Empathie, Mitleid kann man sich von dergleichen Individuen erwarten? Millionen solcher »Leerstellen« bringen die Tragödien hervor, von denen wir befallen sind«. (Interview MF, Mai 2020)

Zehn Jahre brachte Marcello Fois mit seiner Arbeit an der Chironi-Familiensaga zu, verwob und verarbeitete darin auch Teile seiner eigenen Familiengeschichte, jene des großen Clans. »Stirpe«, Titel des ersten Bands, so viel wie Geschlecht, Abstammung, Blutsbande, Haus, Stammbaum, Dynastie. Die Saga setzt ein im letzten Jahrzehnt des 19. Jh. Núoro ist bereit, den notwendigen Schritt in die Moderne zu machen; die Häuser werden bürgerlich, erhalten geschmiedetes Zierwerk. Der Schmied Michele Angelo bringt es zu bescheidenem Wohlstand; daraus dann der deutsche Titel: «Die schöne Mercede und der Meisterschmied« (Die Andere Bibliothek, 2010). Alles beginnt im paradiesischen Zustand vorbewussten Wissens, als ein einziger Blick genügt, und Michele Angelo und Mercede verstehen, füreinander bestimmt zu sein: Sie sind zwei, aber eigentlich nur einer; sie sehen und sie kennen nichts. Nur ihre Liebe zählt: zäh, unauslöschlich, alltäglich, blind. Die weitgesteckte Spannungsstruktur dieses Romans ist der Göttlichen Komödie nachempfunden, allerdings sind die drei Jenseitsreiche ins Diesseits verlagert, und das in umgekehrter Reihenfolge; bildhaft gesehen ergibt sich daraus die Struktur einer Doppelhelix, die endlos und damit Garant für die angestrebte Unsterblichkeit ist. Nach wenigen Seiten schließt das Paradies seine Pforten, und das alltägliche Inferno der großen und kleinen Geschichte fordert seinen Tribut. Die erstgeborenen Zwillinge, Pietro und Paolo, werden grausam ermordet.

Dann kommt Gavino zur Welt. Der sensible, körperlich aber der Robustheit des Schmieds nachgeformt, unterwandert den elterlichen Plan der Dynastiegründung; um das Geheimnis seiner Homosexualität weiß nur die Schwester; Grund genug für ihn, seiner Identität als Sarde zu entfliehen; er wandert aus »nach Argentinien, nach Australien … für die Eltern ein und dasselbe«. Gavino ist dann der einzige, der aus den Briefen des Bruders Luigi Ippolito, einer der sprachlichen Höhepunkte des Romans, geschrieben mitten im Gebirgskrieg im Friaul begreift, dass dieser Selbstmord begangen hat. Keinen anderen Ausweg gab es dort an der Front, wo das absolut Böse in Form von Nervengas ganze Populationen hinwegrafft und die italienischen Soldaten angehalten sind, hungernde, Brot stehlende Kinder zu erschießen; die Briefe treffen bereits von der Militärzensur zerstückelt im Hause Chironi ein. Doch die wirkliche Zensur vollbringt die Familie, durch Nichthinschauen, Nichthinhören, aus den immer gleichen, klagenden Wiederholungen Luigi Ippolitos sind längst seine Wahnsinnsschreie zu vernehmen.

Die Tochter Marianna wird mit einem Mann »der Stunde«, einem faschistischen Provinzgockel verheiratet; auch er und die kleine Tochter werden bald umgebracht. Marianna, gezwungen die Tat mitanzusehen, fleht die Mörder an: »Tötet mich!« Das ist zuviel verlangt. Der Tod wäre eine Erlösung, die sie ihr nicht gewähren wollen.

Mercede, die Mutter, löst sich auf, gleitet in den Wahnsinn ab, spricht wie in einer Apotheose aus dem Hintergrund. Der Kriegsgroll, Neid und Eifersucht zersprengt die Familien. Es bleibt der Wille zum Überleben, dem Schicksal eisern die Stirn zu bieten, verbissen, unumkehrbar, blind und banal, wie einst die Liebe zwischen Michele Angelo und Mercede.

Ein ganz und gar archaischer Stoff? Nein, sagt der Autor: »Ich lebe diesen Diskurs – das ist der Zeitbezug aktueller Art – über die Rassenreinheit, wie die Lega ihn im heutigen Italien herausschreit, mit großem Zorn im Bauch.« Und er schlägt all den Rassenideologen mit dieser Geschichte ein großartiges Schnippchen. Der Protagonist kommt aus dem Nichts, aus einem Waisenhaus bei Cuglieri, der Nachname Chironi ist dem Zufall geschuldet – bei dem ein kleiner Trick nachgeholfen hat. Aber dieser Name leitet sich in Wirklichkeit, sehr schön erzählt im Buch, von einem fernen Urahn katalanischen Geschlechts ab, Luigi de Quíron, er, der im Mittelalter den Inquisitor verhaften wollte.

Rettung in Form von Läuterung kommt erst im II. Band, »Nel Tempo di mezzo’«, (Shortlist Premio Campiello und Premio Strega), deutsch: »Zwischen den Zeiten«. Vincenzo, Sohn des kriegswahnsinnigen Luigi Ippolito, den er nie kennengelernt hat, galt während seiner ganzen Jugendzeit als Sohn N.N, »Vater unbekannt«; die Mutter, Erminia Sut, eine Kriegsliebe aus dem Friaul. Jetzt aber tritt Vincenzo, ein Papier des Notars, eine papierne Vaterschaft, bei sich, die Heimreise ins unbekannte Núoro an, zu seiner unbekannten Familie. Es ist wie eine Neugeburt. Im Kapitel »Die Dämmerung der dinglichen Welt«, von großer poetischer Schönheit, betritt er zum ersten Mal sardischen Boden, trifft auf einen blinden Ziegenhirten, der ihm den Weg weist. Der Großvater wird ihm Vater, wie er nie einen hatte. Doch nun, in jeder Hinsicht Teil der Familie, verliebt er sich in die einzige ihm verwehrte Frau, Cecilia, die bereits verlobt ist. Und heiratet sie. Cristian, der Sohn den sie noch zeugen, bevor alles auseinanderbricht, tut es ihnen mehr oder weniger gleich. Er nimmt sich Maddalena, »sie sind füreinander bestimmt«, obwohl diese bereits seinem besten und brüderlichen Freund versprochen ist.

Fortan sind es die Frauen in den verbotenen, auch gewalttätigen Liebesbeziehungen, die die Handlungsstränge festhalten. Aber wieder einmal machen die Männer und ihre eisern geschmiedeten Gesetze der Mannesehre, auch die der Freundschaft, eine Tragödie daraus. In den 1980/90er Jahren, durchdrungen von Verrat, Korruption, Bauspekulation auch in Sardinien, neoliberalem Allmachtsgebaren, wird klar, »dass das Geschlecht der Chironi zu unbequem geworden ist, um noch länger geduldet werden zu können.« Was bleibt ist das Verzeihen, ein Akt dessen ist das Schreiben. Und mehr noch das Lesen. Davon erzählt der III. Band der Saga, »Luce perfetta«. Noch keine Übersetzung ins Deutsche, dafür aber in andere Sprachen.

Mit »Del dirsi addio« (»Abschiede«) kehrt Fois an seine Anfänge, zum Noir zurück – der zwangsläufig im Norden spielen muss, »denn der Noir ist quasi freudianisch, eine Expressivität des Nordens. (…) ein außerordentliches Dispositiv mit einer Reihe von Regeln, die umso mehr Sinn machen, je mehr sie außer Acht gelassen werden!« Der atypische Noir also, durchzogen von psychologischen Strukturen, voll düsterer Abgründe. Die polizeiliche Ermittlung ist hier eine raffinierte Jagd eher nach einem Täterprinzip, mehr noch nach einer Tat, denn bis auf den Umstand, dass Michele verschwunden ist, erfahren wir lange nichts. Das Warum, das Ausleuchten der Hintergründe wird zur Frage, der auch der junge Kommissar für sich und sein Leben nicht mehr ausweichen kann. Denn in dem hochbegabten, außergewöhnliche Neigungen kultivierenden Jungen erkennt er, Indiz um Indiz, sich selbst. Er ermittelt praktisch in eigener Sache. Und beginnt, vor sich, vor der Verlobten, vor Leo, seiner Liebe, und vor allem vor seinem Vater, der dem Tod nahe ist, sich endlich zu öffnen. So finden auch die vier, für den heute Lesenden vielleicht verwirrenden Aufsätze über das Leben des großen Humanisten und Baumeisters Leon Battista Alberti ihren Platz als Rahmenhandlung im Erzählgeschehen. Sie stammen aus der Feder des jungen Fois2, der sie hier in die seines Protagonisten Sergio Striggio legt: »Gewiss, als junger Bursche konnte er es nicht wissen, aber jetzt als erwachsener Mann war ihm klar: Seine Leidenschaft für Alberti rührte von der Affinität, die er aufgrund seiner Unvollständigkeit verspürte. Dieser wunderbare Theoretiker war törichterweise von der Wirklichkeit bestraft worden, die ihn zwang, für jede seiner Theorien und seiner Schlussfolgerungen Leid auf sich zu nehmen. Er war nicht auf der Höhe seines Denkens gewesen. Beispielsweise war es ihm nicht gelungen, die Perspektive zu konzipieren, sondern nur die Illusion der Perspektive.«

Warum also Bozen? Weil Bozen – hier, ein Schmuckkästchen, das alle Geheimnisse erst einmal unter Verschluss hält – und die außerordentliche Schönheit der Landschaft ringsum ein Ort »mit ebenbürtiger Wucht wie die wirkmächtige Barbagia seiner Trilogie, die Magnifizenz des Mittelmeerraums ist«. Auf die Natur als konstitutives Element, als sprechende Gestalt meiner Geschichten kann und will er nicht verzichten.

Den Beziehungen in der Krise – die des »inzestuösen« Paars Gea und Ludovico, vor allem aber die zwischen Vätern und Söhnen, selbst die zwischen Zeus und Vulcano – gilt sein Hauptinteresse. In einer Zeit, wo die Väter zunehmend weniger Vorbild zu sein imstande sind, und die Söhne, die Kinder, gegen die verheerend leeren Zeiten, die fehlenden Modelle nicht mehr gefeit sind. Zeiten, in denen sich die Kinder der Eltern auch durch eiskalt geplante Morde entledigen.

Die in grellem Licht erzählten Abwehrhaltungen und -manöver; die unerhörten Verleumdungen und Verdächtigungen – alle führen sie letztlich zum Selbstmord, eine doppelte Form der Gewalt, die zur Nachahmung anhält, gewinnen mehr und mehr an tragischer Wirkung. Die mythologischen Exkurse in »Abschiede«, sind quasi als narrative Absolution gesetzt – irgendwann bekommt auch der falsche Priester Gewissensbisse: In der Prähistorie kann die Triebgesteuertheit der handelnden Figuren sich noch in einer Reihe von Archetypen wiederfinden, die außerhalb der Zeit stehen. Doch hier zwingt Fois sie zurück in die ihre, zieht sie zur Verantwortung. Viel Zeit bleibt keinem. Ein Klassiker also, der Fortsetzung verspricht. Denn auch die Auflösung des genial angelegten Verbrechens hat nicht die Farbe des Endgültigen und Erlösenden.

Monika Lustig, Juni 2020

1 Sempre caro mi fu quest’ermo colle …/ Stets teuer war mir dieser karge Hügel (ins Deutsche übertragen von Bruno Goetz)

2 Bei der Präsentation des Buchs in Gorizia – bekennt Fois, damit sein autobiografischstes Werk geschrieben zu haben. Er, heute, aus der Perspektive des Vaters, blickt zurück in die eigene Vergangenheit.

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