»Welcome to Hell!«

Ein Nachwort von Marcus Müntefering
©Max Soklov / Adobe Stock

»Life’s an illusion, love is a dream«

– The Buzzcocks

Der Herr will nur die Rechtschaffenen. Und wie viele von euch sind rechtschaffen? Na? Wie viele? Euch ist die Hölle gewiss. (…) Noch ist Zeit für Umkehr, für Rettung, doch die wird langsam knapp …« Aus Jon Bassoffs »Zerrüttet« Puh, geschafft! Ich weiß natürlich nicht, wie es Ihnen ging. Aber ich nehme stark an, dass Sie ähnlich wie ich heilfroh waren, als Sie endlich am Ende von »Factory Town«, am Ende des verfluchten und verpfuschten Lebens von Russell Carver, angekommen waren. Und das ist durchaus und ausdrücklich als Kompliment an den Schriftsteller Jon Bassoff zu verstehen. Denn was nur wenigen Autoren gelingt – das Lesen zu einer körperlichen Erfahrung zu machen – Bassoff hat es mit »Factory Town« geschafft. Seinen Roman lesen wir nicht einfach, wir durchleiden ihn; gleichermaßen fasziniert wie abgestoßen rasen unsere Augen über die Seiten, um tiefer und tiefer einzutauchen in Bassoffs Höllenvision eines Sterbenden.

Denn nichts anderes ist »Factory Town«: die letzten Zuckungen in den Gehirnwindungen eines tödlich verwundeten Mannes, ein finales Feuerwerk der Synapsen. Erinnerungen werden zu Halluzinationen, die Realität wird brüchig, Identitäten werden fluide, Menschen verwandeln sich in der Millisekunde eines Blinzelns in andere, und auch die Topografie des Ortes kennt keinerlei Beständigkeit. Nichts ist sicher in Factory Town, Kausalitäten laufen Amok, die Gesetze von Raum und Zeit gelten nicht länger, und wenn hier überhaupt eine Logik herrscht, dann die des Albtraums, der Kontingenz. Factory Town steht pars pro toto für eine Welt, die schon lange jenseits von Gut und Böse ist: »Die Welt wäre nur dann ein besserer Ort, wenn es überhaupt keinen von uns gäbe«, denkt Carver einmal. Und dieser Gedanke findet sein Echo vielfach in diesem Roman, der auch und vor allem von einer Selbstauflösung, von einer Selbstauslöschung erzählt: »Die Stadt muss mit uns sterben« zieht sich wie ein Mantra durch die Geschichte.

In den USA, wo »Factory Town« bereits 2014 erschienen ist, löste der Roman aufgrund seiner Sprunghaftigkeit und der surrealen Sequenzen einige Konfusion aus, viele Leser verstanden nicht, dass der Mann, der in Factory Town vergebens nach seiner Tochter sucht, derselbe ist, der sich im Prolog in den Kopf schießt und im Epilog stirbt – und dass die Handlung sich in kürzester Zeit allein in Carvers Kopf vollzieht. Die Suche nach dem Mädchen ist reines Hirngespinst, Ausdruck einer tiefen Schuld, vielleicht noch der Hoffnung auf Erlösung. In der echten Welt hat Carver seine schwangere Frau ermordet und trat damit in die Fußstapfen seines gewalttätigen Vaters – der Cowboy in der Geschichte, der Herrscher über Factory Town, dieses Fantasiegebildes aus Erinnerung und Verdrängung, Schuld und Sünde. Natürlich können wir diesem Erzähler nicht vertrauen, wissen nicht wirklich, was passiert ist, wie sehr sich Carver etwa gegen das schier übermächtige böse Erbe des Vaters gestemmt hat. Denn welcher Erzähler sollte weniger glaubwürdig sein als ein Sterbender, der keinerlei Kontrolle mehr über sein Narrativ hat. Carver reiht sich in die Reihe großer unzuverlässiger Erzähler ein, von Nabokovs Humbert Humbert (»Lolita«) bis zu Verbal Kint/Keyzer Söze aus dem Film »Die üblichen Verdächtigen«.

Jung hätte seinen Freud daran gehabt, diesen Roman zu entschlüsseln, aber eigentlich braucht man kein Psychologiestudium dafür, es reicht völlig, wenn man den Hinweisen folgt, die Bassoff vielfach streut. Der eindeutigste darunter ist sicherlich die Zeit: 11:57 Uhr ist es, als Carver sich im Prolog eine Kugel in den Kopf schießt, eine Uhrzeit, die in der Folge immer wieder genannt wird. Und am Ende, im Epilog, schlägt die Uhr zur vollen Stunde, kurz nach Carvers Tod. Weitere Spuren, die Bassoff gelegt hat: die blutende Schläfenwunde, die Carver immer wieder zu schaffen macht, und vor allem die grausige Szene, in der er sich sein eigenes Grab schaufelt: »Er ist noch nicht da, sagte der alte Mann, aber das ist nur eine Frage der Zeit. (…) Er hat sich selbst erschossen, mit einer Pistole. (…) Wenn er sich ins Herz geschossen hätte, hätt’s länger gedauert. (…) So nicht. Nur ein Sekundenbruchteil. Explodierende Nerven und Synapsen. Die Erinnerungen eines ganzen Lebens auf den Bodendielen verteilt.«

Wer sich nach der Lektüre von »Factory Town« Sorgen um den Geisteszustand von Jon Bassoff macht, der kann beruhigt sein. Er ist ein ganz normaler Mann, Jahrgang 1974, der in der ganz normalen Stadt Longmont, etwa 50 Kilometer nördlich von Denver, Colorado, an einer Highschool Englisch unterrichtet. Er ist verheiratet, hat eine Tochter und einen Sohn im Teenager-Alter – und einen schrägen Sinn für Humor: »Meine Schüler denken, ich sei verrückt, was okay für mich ist; auch meine Kollegen halten mich für irre, womit sie natürlich Recht haben.«

Wann immer sein Job und seine Familie ihm Zeit lassen, schreibt Bassoff seine einzigartigen Geschichten, die sich sehr oft in der Schnittmenge zwischen Noir und Horror bewegen. Er selbst nennt sich einen »gothic noir writer«. In den USA erschien mit »Captain Clive’s Dreamworld« im September 2020 bereits sein achter Roman seit dem Debüt »Corrosion«, das 2013 in den USA und 2016 unter dem Titel »Zerrüttung« im Polar Verlag auf Deutsch veröffentlicht wurde. Ein verzwickter Neo-Noir, der als Ausgangssituation die klassische fatale Dreieckskombination nimmt, wie sie vor allem James M. Cain in seinen frühen Romanen »Wenn der Postmann zweimal klingelt« und »Double Indemnity« perfekt beherrschte und über die der italienische Literaturtheoretiker Franco Moretti in seinem Buch »Ein fernes Land« so treffend sagt: »Das Dreieck des Ehebruchs ist nur der Initialzünder für eine unablässige Vermehrung der Leichen.«

Bereits in »Zerrüttung« zeigte sich, dass Bassoff nicht zu den Autoren gehört, die Noir-Klischees benutzen, um die Erwartungen eines Publikums zu bedienen, das auch im 21. Jahrhundert noch immer nach Romanen sucht, die seine Sehnsucht nach Vergangenem stillen. Statt in Nostalgieseligkeit zu schwelgen, setzt Bassoff bereits in seinem Erstling auf extreme Gewaltdarstellungen mit einer albtraumhaften Szenerie und Figuren, die nicht die sind, für die wir (und manchmal auch sie selbst) sich halten. Seine radikalsten Werke – und hier ist »Factory Town an erster Stelle zu nennen – entziehen sich jeder Genreeinordnung. Sie sind das, was man in den USA »transgressive fiction« nennt, die Literatur der Überschreitung, des Exzesses. Unter dem Begriff, der auf einen Text Foucaults zu George Batailles »Geschichte des Auges« zurückgeht, werden heterogene, aber immer Grenzen (des Geschmacks, der Toleranz, der Fantasie) herausfordernde Werke gefasst, darunter »American Psycho« von Bret Easton Ellis, »Ran« von Dennis Cooper oder »High Life« von Matthew Stokoe, um nur einige der aktuelleren und besseren zu nennen.

Wenn Bassoff sich weit entfernt von Genrekonventionen, bedeutet das nicht, dass er die Säulenheiligen des Noir nicht etwa kennen und verehren würde. Zu seinen Einflüssen gehören, so sagt er, James M. Cain und Dashiell Hammett, aber auch die Autoren des Southern Gothic, zu denen er William Faulkner und Flannery O’Connor zählt. Am wichtigsten für Bassoff in seiner Entwicklung als Autor war aber sicherlich Jim Thompson. Sein Roman »Der Killer in mir« (1952) über einen Kleinstadtsheriff, der sich als Psychopath entpuppt, weckte in Bassoff zunächst den Wunsch, alles von Thompson zu lesen, und wenig später den Drang, selbst Ähnliches zu schreiben. War sein erster und, wie er selbst sagt, zum Glück unveröffentlicht gebliebener Roman noch der »klägliche Versuch, Thompson zu kopieren«, fand er mit »Zerrüttung« einen ganz eigenen Weg, seinem Vorbild zu huldigen.

Einen Weg, der ihm seitdem reichlich Lob von Kollegen und Kritikern einbrachte. »Factory Town« wäre der Roman, den Kafka geschrieben hätte, wenn dieser länger gelebt hätte, schreibt etwa der Krimiautor Les Edgerton, und nennt das Buch dann gleich noch eine zeitgenössische Version von »Pilgrim’s Progress«. Der Vergleich mit John Bunyans Allegorie aus dem 17. Jahrhundert über die Reise eines schuldbeladenen Mannes ins Jenseits liegt nahe, die strukturelle Ähnlichkeit ist allerdings reiner Zufall: Auf Nachfrage verrät Bassoff, dass er den christlichen Klassiker nie gelesen habe.

Religiöse Motive ziehen sich dennoch durch sämtliche Romane Bassoffs, der sich selbst einen »nicht-praktizierenden, nicht-religiösen Juden« nennt. Immer wieder tauchen der Teufel und Jesus auf, auch wenn man sie, so Bassoff, oft nicht auf Anhieb erkenne. Er selbst würde gern gläubig sein, sagt Bassoff, weil es viele Dinge im Leben vereinfachen würde, aber am Ende glaube er höchstens an eine Zeile aus dem Song »Heartattack and Vine« des Sängers Tom Waits: »Don’t you know there ain’t no devil, just God when he’s drunk.«

In »Factory Town« präsentiert uns Bassoff den Messias als vergessene und missachtete Freakshow-Attraktion. Eine erbärmliche Kreatur, die angesichts der grundsätzlichen Verderbtheit der Menschen längst ihren Glauben verloren hat. Die Aufzählung von Gräueltaten, die wie eine Pervertierung von Leonard Cohens Todessong »Who by Fire« daherkommt, gehört zu den schrecklichen Höhepunkten des Romans und zeigt, in welchen Furor des Erzählens sich Bassoff hereinsteigern kann. Und auch wenn hier das schuldbeladene Unterbewusstsein Carvers spricht: Die Scheußlichkeiten – Vergewaltigungen, Sex mit Kindern, Kindesmord, Amokläufe – hat Carver/Bassoff sich nicht ausgedacht, diese Dinge passieren in unserer Wirklichkeit. Jeden Tag, ad infinitum. Die Hölle ist leer, alle Teufel sind hier.

Dass Kritikerlob sich nicht immer (wahrscheinlich sogar eher selten) in Verkaufszahlen übertragen lässt, musste auch Bassoff erfahren. Eine überschaubare, aber treue Leserschaft habe er, sagt er, und dass er – auch dieses Schicksal teilt er mit vielen der ambitionierteren Noir-Autoren – in Frankreich wahrscheinlich bekannter sei als in seiner Heimat. Von der Masse der Leser wird Bassoff ignoriert, und dass es so ist, hat viel damit zu tun, dass er zwischen alle Stühle fällt; Ambivalenz ist leider kein Verkaufsargument. Kriminalromane werden immer noch hauptsächlich zur Ablenkung gelesen, dürfen deshalb nicht übermäßig komplex sein, ein Happy End nach all den Gräueln kann auch nicht schaden. Aber auch hier macht Bassoff keine Kompromisse, nicht einmal für seine Mutter: »Ich wünsche mir ein glückliches Leben, aber meine Kunst soll dunkel wie die Hölle sein. Meine Mutter bittet mich immer wieder, ein Buch mit Happy End zu schreiben. Ich würde ihr diesen Gefallen gern tun, aber das ist einfach nicht in meiner DNA.«

Mit »Factory Town«, kurz nach »Zerrüttung« entstanden, entfernt sich Bassoff noch weiter von den gängigen Tropen des Noir, auch wenn die Atmosphäre in dieser Stadt, die eigentlich ein Fegefeuer ist, durchaus an die schrägeren Entwürfe Thompsons erinnern mag. Vor allem an das auch heute noch schockierende Ende von »The Getaway« (das Sam Peckinpah in seiner kongenialen, aber romantisierenden Verfilmung aus dem Jahr 1972 wegließ), wo dem Bankräuber Doc McCoy zwar die Flucht nach Mexiko gelingt, sich das vermeintliche Refugium aber als eine Art Vorhölle entpuppt.

Doch die Intensität der in »Factory Town« oft tableauartig arrangierten Scheußlichkeiten – verhungernde Menschen, die zu Kannibalen werden, Massen(selbst)- morde, die schier unfassbare Brutalität, mit der am Ende die Kinder erschlagen werden – erinnert weniger an Thompson als an Dantes Versepos »Die Göttliche Komödie« oder an die surrealistischen Meisterwerke des chilenischen Filmemachers Alejandro Jodorowsky, »El Topo« und »Montana Sacra«.

Die Struktur des Romans wiederum – eine Erzählung, die sich im Nachhinein als Vision eines Sterbenden entpuppt – verweist noch auf weitere Vorbilder. Adrian Lynes unterschätzten Film »Jacob’s Ladder« (1990) etwa, der von einem in Vietnam tödlich verwundeten Soldaten handelt, der im Sterben ein Leben in New York halluziniert. Und natürlich Ambrose Bierces klassische, im Amerikanischen Bürgerkrieg spielende Kurzgeschichte »An Occurrence at Owl Creek Bridge« (1890), in der von der vermeintlichen Flucht eines gefangenen Südstaatlers erzählt wird, die sich in einer finsteren Pointe als Fantasie eines gerade Gehängten erweist.

»Factory Town«, dieser bösartige, bissige Bastard von einem Roman, mag Tausend Väter haben, am Ende aber ist er Jon Bassoffs ganze eigene Vision von der Hölle auf Erden. Selten zuvor ist ein Autor so tief in eine Welt eingetaucht, die ausschließlich aus Tod und Zerstörung, aus Verfall und Verzweiflung besteht, eine Welt, in der die Verrückten das Irrenhaus übernommen haben und keinerlei Hoffnung auf Erlösung besteht. Was wird sein nach dem Ende von Factory Town, das mit dem Tod von Russell Carver verschwunden und vergessen ist? Eine mögliche Antwort finden wir bereits in Bassoffs Debüt »Zerrüttung«: »Vielleicht gibt’s für Leute wie uns einen Himmel«, heißt es dort. »Ich glaub’s aber nicht.«

zurück