Ein demokratischer Held

Ein Nachwort von Carsten Germis
©Max Soklov / Adobe Stock

J. Todd Scott kennt den Big Bend, die bergige und trockene Grenzregion in West Texas, wo der Rio Grande seine große Schleife dreht, wie seine Westentasche. 2013 zog er mit seiner Familie in den Südwesten der USA. In den Big Bend brachte ihn damals der Job. Schon vorher hatte ihn die Arbeit immer wieder in diese Gegend geführt. Seit mehr als 20 Jahren ist Scott Polizist, mehr als die Hälfte der Zeit hat er als Drogenfahnder an der mexikanischen Grenze verbracht. Gewalt, Drogen, Prostitution und Menschenschmuggel gehören zum Alltag in dieser Region. Gleichzeitig ist die Kluft zwischen Menschen, die tief verwurzelt sind in ihren Traditionen, die sich vergessen fühlen in einer Welt, die sich rasend schnell ändert, in der Grenzen und Gewissheiten infrage gestellt werden, und denen, die für die neue Zeit stehen, tiefer als anderswo. Das gegenseitige Misstrauen ist größer. »Einige Leute wollen einfach nicht akzeptieren, dass die Welt da draußen jetzt eine andere ist«, lässt Scott seinen Helden, Chris Cherry, einmal sagen.

Die Welt im Big Bend ist bekannt als Outlaw-Territorium. Immer wieder gibt es dort Tote, wenn Menschenschmuggler Migranten aus den lateinamerikanischen Ländern ausnehmen und allein die Wüste durchqueren lassen – in der Hoffnung, die Grenze zwischen Mexiko und den Vereinigten Staaten zu überwinden und ins gelobte Land zu kommen. »Beaner« nennt man sie in der Region. Wird eine Leiche gefunden, rufen die Farmer die Polizei nur, um die Schweinerei zu beseitigen. Tote Migranten interessieren hier nicht mehr. Es sind zu viele. Sie gehören im Big Bend des Rio Grande zum Alltag wie der Kampf gegen die Drogen, die aus Mexiko über die Grenze in die USA geschmuggelt werden.

Scott arbeitet für die DEA, die dem Justizministerium in Washington unterstellte Polizeibehörde. Deren Aufgabe ist es, die illegale Herstellung von Drogen und den Drogenhandel zu unterbinden. Zimperlich gehen die Ermittler der DEA in ihrem Kampf gegen die Drogen nicht immer vor. Scott weiß also, worüber er schreibt. Nichts wirkt angelesen. Da schreibt ein Autor über eine Welt, die er aus eigenem Erleben kennt. Trotz des Erfolgs, den er mit seinem 2016 in Amerika erschienenen Erstling »The Far Empty« und den folgenden Romanen hatte, jagt Scott bis heute im Hauptberuf weiter Verbrecher. Allerdings »nicht mehr auf der Straße, als Undercover-Ermittler oder bei der Festnahme von Kriminellen, wie ich es früher gemacht habe«, sagt er. Mittlerweile ist der im ländlichen Kentucky geborene Scott einer der Chefs bei der DEA – er plant die Einsätze der Ermittler, die ihren Kampf gegen Drogen auch außerhalb der USA führen.

Allzu große Nähe zur Polizeiarbeit birgt Risiken. Schließlich ist nach Aussagen von Praktikern auch bei den Ermittlern nichts so langweilig wie die Routine im täglichen Klein-Klein. Scott ist der Versuchung nicht erlegen, die Leser zu tief in die Feinheiten seines Polizeialltags zu führen. Evan Hunter, der als Ed McBain die Kriminalromane um das 87. Polizeirevier zu Klassikern des Polizeiromans gemacht hat, zählt zwar zu seinen Vorbildern, doch »Police Procedurals« mögen den Polizisten zu sehr an den eigenen Alltag erinnert haben. Ihn treibt die Frage, wie seine Charaktere auf einer Bühne agieren, auf der Gewalt, Rassismus und die bibelschwarzen Seiten des Alltags im Süden der USA die Kulisse sind. Scott zeigt die Brutalität in der Grenzregion zu Mexiko, in der Verlierer gegen Verlierer, aber auch Oben gegen Unten kämpfen und vor allem eine archaische Kultur des Auge um Auge, Zahn um Zahn mit der modernen, identitätspolitisch korrekten liberalen Weltsicht um die Vorherrschaft ringt. Scott schildert mit ihnen, welche Verrohung und welche Gewalt der Konflikt zwischen einer (meistens weißen) ländlichen Bevölkerung mit ihren tief verwurzelten Überzeugungen und den Erwartungen einer liberalen, weltoffenen Elite aufbrechen lassen kann. Was die moderne Zeit als böse empfindet, ist – frei nach Friedrich Nietzsche – schließlich oft nur ein unzeitgemäßer Nachschlag dessen, was ehemals als gut empfunden wurde, – der Atavismus eines älteren Ideals.

Scott ist ein Moralist. Er sieht sich jedoch ganz bewusst nicht als Autor, der eine klare politische Botschaft hat. Er lässt Dinge offen, Ambivalenz ist ausdrücklich erlaubt. Nicht der Plot steht im Zentrum seines Schreibens. Spannung entsteht in Scotts Romanen durch die Charaktere und durch das Setting. Die rohe Wildheit und die Nähe zur Grenze in West Texas prägen die Einstellungen der Figuren. Da ist zuerst Sheriff Stanford Ross, von allen nur »Judge« genannt. Mit Staubmantel und Lederhandschuhen sieht er aus, wie die Ordnungshüter lange vergangener Zeiten, die in Schwarz-Weiß-Fotos an den Wänden seines Büros hängen. Er denkt auch so. Klare Ziele von Recht und Ordnung, klare Handlungen, nach diesem brutal einfachen Leben sehnt und richtet er sich aus. »Blut und Gerechtigkeit« – das sind die alten Werte, die er in der Stadt durchsetzt. Im Städtchen Murfee ist Ross alles in einer Person: Sheriff, Richter, Geschworener und Vollstrecker mit eiserner Hand.

Auf der anderen Seite steht sein Stellvertreter, Chris Cherry. Einst war Chris umjubelter Footballstar der Oberschule. Dann wollte er nach einer Verletzung nur noch weg, weil er fast alles in seiner Heimatstadt gehasst hat. Und doch ist er zurückgekehrt nach Murfee. Er kommt mit dem Blick von außen, der als Insider die Missstände noch intensiver empfindet. Chris ist Neuling, unsicher bei seinen Auftritten als Polizist – aber mit einem ausgeprägten Sinn für Recht und Anstand. Gewalt versucht er, wenn möglich zu vermeiden. Ihn treibt an, das Richtige zu tun. Er tue, was getan werden müsse, sagt er seiner Partnerin immer wieder, als er nach einem Leichenfund im Verborgenen auch gegen den korrupten »Judge« und dessen finstere rechte Hand ermittelt. Tun, was ein Mann tun muss. In diesem einen Satz zeigt sich der typische Grundton des Western, der Konflikt, der auf das Duell zwischen Gut und Böse hinausläuft. Ein bisschen erinnert das an die Filme, in denen einst Männer wie John Wayne vorwärtsstürzten und den Kampf mit korrupten Sheriffs und Gangstern aufnahmen. Immer nach dem Motto: Ein Mann tut, was er tun muss.

Scott ist stark beeinflusst von Western wie Clint Eastwoods Erbarmungslos oder The Assassination of Jesse James mit Brad Pitt. Die tonale Entscheidung für den Western hat er bewusst getroffen. »Ich wollte, dass das Buch die epische, fast mythische Qualität eines Western hat«, sagt Scott. Die daran ausgerichtete Tonalität passt auf das soziale Milieu und die Charaktere dieser südtexanischen Grenzregion. Nicht die Auflösung des Verbrechens interessiert. Er will wissen, was mit Menschen passiert, wenn sie mit Verbrechen konfrontiert werden, wenn sie spüren, wie sich das Böse in ihrem Leben auf leisen Sohlen anschleicht. Welche Kräfte kommen dann in Bewegung? Welche Formen und Richtungen geben sie der Geschichte? Es zeigt sich als Stärke, dass Scott nicht vom Plot her erzählt. Er baut die Handlung um seine Charaktere herum auf, um ihre Begehren und Leidenschaften, Ängste und Albträume. Doch die Zeit der John Waynes, James Stewarts und Robert Mitchums ist lange vorbei. Wie sieht ein Held in den egalitären postheroischen Gesellschaften des Westens heute aus?

Helden und Demokratie, das mag für viele so recht nicht passen. Eine Liebesbeziehung jedenfalls ist es nicht. Helden sind Figuren aus einer langen vergangenen Zeit – sie gehören in griechische oder germanische Sagenwelten, wir kennen sie aus Heldenepen wie der »Ilias« und der »Odyssee«. Sie ragen heraus über den Durchschnittsmenschen. Für das demokratische Gleichheitsideal sind Helden daher per se eine Provokation. Zudem stehen sie unter Verdacht, Machtansprüche zu haben und diese auch mit Gewalt durchzusetzen. Der Held aus alten Zeiten, bei Lichte besehen, ist vordemokratisch und neigt zu autoritären Denkmustern. Wie Sheriff Stanford Ross eben und sein noch finsterer Hagen. Sie faszinieren Leser auch heute noch, als Vorbild haben sie ausgedient.

Wie also sieht ein moderner Held aus? Kann es überhaupt einen geben? Müssen in der Demokratie mit ihrem Gleichheitsanspruch nicht alle zu Helden werden, wenn nicht mehr herausragende Individuen, sondern – wie zum Beispiel in Pandemiezeiten – bestenfalls ganze Berufsgruppen wie Kindergärtnerinnen, Lastwagenfahrer oder Frauen und Männer an den Kassen der Supermärkte zu »Helden der Arbeit« gemacht werden? Doch solch ein kollektives Heldentum reicht wohl kaum, Menschen mit Erzählungen zu fesseln. Sollte man Helden also besser gleich ganz abschaffen? Eine Welt ohne Kampf, ohne Helden, mit Frieden und Freiheit für alle ist schließlich ein alter Menschheitstraum.

Nur zeigt sich, dass die Hoffnung auf ein glückliches »Ende der Geschichte«, auf den Siegeszug von liberaler Demokratie und Menschenrechten nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion wohl die größte politische Selbstüberschätzung in der Geschichte war. Die Bösen war man los, das Böse ist geblieben. Und mit ihm das Bedürfnis nach Helden, die Sicherheit und Ordnung schaffen. Scotts Antwort auf die Suche nach dem modernen Helden ist Chris Cherry, der Vize und Gegenspieler des korrupten alten Sheriffs Ross. Weil der »Judge« mit seiner Bürowand voller Schwarz-Weiß-Fotos seiner bewunderten Vorgänger aus dem 19. Jahrhundert zum Helden nicht mehr taugt, bekommt der moderne Leser einen zeitgemäßen Grund, sich mit Chris zu identifizieren. Chris ist der anständige Kerl, der sauber bleiben und nicht korrupt werden will wie der »Judge« und seine Handlanger. Der Antiheld wird zum modernen Helden des Zeitgeists. Ein Held, der Gewalt nur dann anwendet, wenn es unbedingt sein muss und auch dann noch Skrupel hat. Chris wird mit all seinen Schwächen gezeigt, auch mit seinen Zweifeln. Seine wahre Größe, der Anstand und sein Gewissen als innerer Wert scheinen damit nur noch größer. Das ist wohl der Kern des demokratischen Helden, an dessen Konturen der Autor Scott mit den langjährigen Erfahrungen des Polizisten Scott arbeitet: Er wächst mit seinen Aufgaben.

Scott widersteht dabei der Gefahr, mit der Geschichte über den korrupten Sheriff und seinen integren Stellvertreter ins Klischee abzurutschen, ins schlichte Schwarz-Weiß. Fast ist es wie bei Schillers Gedanken über den Gebrauch des Gemeinen und Niedrigen in der Kunst: »Wir sehen nicht rückwärts in die Seele des Täters, sondern vorwärts in sein Schicksal, auf die Wirkungen seiner Tat.«

Und doch ist der altruistische Held der guten Tat offenbar noch nicht stark genug, alleine die Last zu tragen, die Polizeimarke und Waffe ihm täglich aufbürden. Chris bekommt Hilfe. Der Kraft der Tradition mit ihren alttestamentarischen Werten als Held mit Anstand und Regeltreue entgegenzutreten ist das eine, ganz ohne Abgründe geht es aber nicht. Ein friedliebender, politisch korrekter, moderner Held, dem alles gelingt, wäre kein Held mehr. Heuchelei, Gier, Hass – am Ende ist jede Utopie in der Geschichte schließlich immer wieder am Menschen gescheitert.

Chris wird geerdet durch America Reynosa. America ist eine junge Latina. Sie ist vielleicht der ambivalenteste Charakter des Romans, traumatisiert, missbraucht, trotz ihrer inneren Stärke ein Opfer von rassistischer und sexueller Gewalt. Auch Americas Lebensgeschichte ist über ihren vermissten Bruder, einen angeblich korrupten Grenzpolizisten, eng verwoben mit den Verbrechen und der Korruption im Big Bend. America ist härter als Chris, in manchen Zügen fast ein weiblicher »Judge«.

Chris weiß, wie stark Vorurteile in den ländlichen Regionen sind. »Alles ist wie in der Zeit eingefroren«, sagt er einmal. America steht als Frau, dazu als hübsche und junge Latina, für die im Alten verhafteten Menschen im Big Bend noch mehr als Chris für die Welt draußen, die eine andere geworden ist. Von ihr verlangt der Kampf gegen antiquierte Einstellungen und ältere Vorurteile nicht nur wegen ihrer alten Narben mehr Willen, sich durchzusetzen, als von Chris.

Die Wunden des Bürgerkriegs, die Niederlage gegen den liberalen Norden wirken in den Südstaaten der USA nach bis heute. Hier tobt der schmutzige Krieg, hier kämpfen Verlierer gegen Verlierer oder – wie bei Chris und dem »Judge« – die alten Helden gegen die modernen Macher. Ihnen setzt Scott zwei Ermittler entgegen, mit denen auch die liberale amerikanische Elite in Yale und Harvard leben kann – regelkonform und divers.

Mit Chris und America ist die Suche des jetzt in Texas lebenden Schriftstellers nach dem modernen Helden noch nicht zu Ende. Bei seinen Fahrten durch den Big Bend hat sich der Drogenfahnder schon ein paar Notizen für weitere Romane gemacht. Ideen und Anregungen gehen ihm wegen seines Hauptjobs nicht aus. Einblicke in die dunklen Seiten der menschlichen Seele bekommt Scott täglich, wenn er morgens nach der Arbeit am nächsten Roman vom Schreibtisch aufsteht, sich die Waffe nimmt und sich die Polizeimarke ansteckt. Er bleibt ein Mann im Polizeialltag auf der Suche nach dem modernen Helden in der Literatur.