Die Macht der Schatten

Ein Nachwort von Ute Cohen
©Max Soklov / Adobe Stock

Der Titel des Buches ist trügerisch: Ein Horizont, der uns fehlt, ein Horizont, dessen wir verlustig gegangen sind, bedeutet nicht Hoffnungslosigkeit. Wenn die Sehnsucht nach einer Perspektive fehlt, bedeutet das noch lange nicht, dass nicht etwas Anderes, noch nicht Greifbares im fernen Blau aufleuchtet. Vielleicht wirft uns der Verlust einer Grenze, einer klaren Linie zurück auf das, was sich in unserer unmittelbaren Nähe befindet, eine zwitschernde Amsel, eine Muschel am Strand, die Haut eines geliebten Menschen. Dieser poetische Zwischenton, der hier aufscheint, lässt an Songs von Scott Walker denken. So möchte man dem Buch Walkers Lyrics aus dem Album »Climate of Hunter« voranstellen: »The shadow of the sun makes the sun a shadow«. Dieses scheinbare Paradox erschließt sich erst auf den zweiten Blick. Ein Perspektivwechsel verkehrt Unten und Oben, Licht und Schatten, Vergangenheit und Gegenwart und nicht zuletzt die Sicht auf Leben und Tod. So wandelt sich auch Pascal Dessaints Buch im Auge des Betrachters: Auf den ersten Blick ist es eine Anklage. Es klagt die Ausbeutung der Natur an, die Zerstörung der französischen Küsten, die durch Kriege erzeugten Verheerungen und das Scheitern des Menschen an einem unmenschlichen System. Auf den zweiten Blick aber bilden sich kleine schillernde Biotope heraus in einem feindlichen Umfeld. Es zeichnen sich Gemeinschaften ab, in denen der Einzelne in seiner Einsamkeit mit Schutz und Aufmerksamkeit bedacht wird, ohne dass man ihm den Rückzug verwehrte. Diese Bündnisse der Versehrten entwickeln eine seltsame Stärke, in der Gesetz und Moral ihre Gültigkeit verlieren. Der Helligkeit des Tages, der Strahlkraft der Sonne setzen sie die Macht der Schatten entgegen. Die verkehrte Welt kehren sie gegen sich selbst.

Diese Schattengemeinschaften bilden sich bei Dessaint an einem wilden Küstenabschnitt in Nordfrankreich zwischen Gravelines und Calais heraus. Es ist eine an tragischen Ereignissen reiche Region. Im Jahre 1940 fielen am sogenannten »Cochon Noir«, einem Ort in der Nähe von Gravelines, Hunderte von Menschen kriegerischen Auseinandersetzungen zum Opfer. Belgische Zivilisten gerieten auf der Flucht sowohl in die Schusslinie der deutschen Angreifer als auch der französischen, belgischen und englischen Verteidiger. Lediglich eine Stele zeugt heute vom dramatischen Tod der Kriegsflüchtlinge. Dessaint ruft dieses Schreckensereignis wieder in Erinnerung, indem er den Ort zum Schauplatz seines Romans macht.

Zugleich bestätigt er das Diktum, Geschichte wiederhole sich immer zweimal. Im sogenannten »Dschungel« von Calais kampierten Tausende von Flüchtlingen 2015 und hofften auf eine Einreise nach Großbritannien. Die hygienischen Zustände vor Ort waren katastrophal; psychische und physische Erkrankungen häuften sich. Zahlreiche Hilfsorganisationen versuchten die Probleme zu lindern, konnten jedoch eine Eskalation der Lage nicht verhindern, zumal die Migranten für politische Zwecke instrumentalisiert und ausgenutzt wurden. Die Spannungen zwischen der ortsansässigen Bevölkerung und den Migranten verschärften sich. Die französische Regierung setzte schließlich mit Gewalt 2016 die Räumung des Lagers durch. Immer wieder aber siedelten sich Menschen in den Dünen an und bildeten Zeltlager, die von der Polizei regelmäßig aufgelöst werden.

An diesem blutgetränkten und schicksalhaften Ort lässt Dessaint drei Menschen aufeinandertreffen, die sich alle auf ihre Weise auf der Flucht befinden. Anatole, ein alter Jäger, der sich seine Zeit mit ungelenken Vogel-Schnitzereien und der Jagd nach Rabattmarken vertreibt, Loïk, ein Kleinkrimineller, der sich am Hafen als Hilfsarbeiter verdingt und die Ich-Erzählerin Lucille, die den Schuldienst quittiert hatte, um den Flüchtlingen im Dschungel Französischunterricht zu erteilen. Alle drei leben in Wohnwagen am Strand und versuchen sich ihre Unterkunft so heimelig wie möglich zu gestalten. Anatole dekoriert den Caravan zum Chalet mit marineblauem Dach um, Loïk friemelt sich eine ehemalige Frittenbude zurecht und Lucille macht es sich mit einer Wasserlilie gemütlich. Die drei unterstützen sich mit Pasta, Salicorn und einem schrottreifen Auto und wahren das fragile Gleichgewicht dieser Wahlverwandtschaft mit Diskretion und unbedingter Solidarität.

Protagonisten und Setting befriedigen zweifelsohne jede Erwartung an einen sozialkritischen Kriminalroman, doch trickst Dessaint mit seinem Blick auf fremdes Leid. Einerseits gesellt sich »Verlorener Horizont« zu französischen Romanen, die das Thema »Klasse« behandeln: Arbeiterkindheiten werden beleuchtet, das Leben in Gewalt und dessen grausame Ausläufer in die Gegenwart skizziert. Die Abtrünnigkeit der letzten Arbeiter vom Sozialismus sieht Dessaint in »gefährlichen Vermählungen« wurzeln: Der Siegeszug der Rechten verdankt sich »purer Verzweiflung«, einer fatalen Sehnsucht, »sich in die Arme eines befreundeten Kannibalen« zu werfen.

In dieser rauen nordfranzösischen Landschaft siedeln keine Opfer, sondern Menschen mit Herz und Hirn, eigensinnig, nachdenklich, freigeistig und ganz und gar nicht beschränkt. Vereint in der Verschiedenheit ist ihnen ein Gedanke gemein: »Die Armen begannen zu verlieren, verloren, hatten bereits verloren, wenn sie es ablehnten, ihr Gehirn zu benutzen.« Der denkende Mensch aber ist nichts ohne Humor, der sich in diesem Buch in einer ganz besonders elegant-proletarischen Ausprägung zeigt: in »Gabinerien«. Das durchgängige Motiv des Romans ist die geliebte Gaunerhaftigkeit eines Jean Gabin. Der französische Charakterdarsteller ist die Kraft, die all diese auseinanderdriftenden Menschen miteinander verbindet. Jedes Kapitel dieses Buches ließe sich mit dem Titel eines Gabin-Films überschreiben: »Die große Illusion«, »Bestie Mensch«, »Hafen im Nebel«, »Ein Herr ohne Kleingeld« und natürlich »Pläsier«.

Diese Oase der knorrigen Mitmenschlichkeit ist freilich nicht nur den Unbilden der Natur ausgesetzt, sondern auch den Eindringlingen aus einer Welt hinter diesem selbstgesteckten Horizont. Die Umgebung aber sollte man nicht unterschätzen, denn: »Mit den Pflanzen lief es so wie mit den Menschen. Die Chance zum Blühen, Wachsen und Gedeihen hing sehr stark von der Umgebung ab.« Was aber lässt die Lebensgeister mehr erwachen und das Blut berauschter durch die Adern fließen als die Liebe? Die Liebe zirkuliert frei in diesem Buch. Sie folgt keinem menschlichen Gesetz, sondern lässt sich nieder wie ein Reiher oder Kiebitz, fliegt davon wie ein Zugvogel. Gänzlich unabhängig ist sie vom fremden Blick, vergleichbar einem Vogel, der »blindes Vertrauen in seine Natur« hat. Lucille, die Ich-Erzählerin, erlebt Liebe in ihrer Vielgestaltigkeit. Zwei kuriose Einzelgänger lassen ihr familiären Schutz angedeihen, beschützen sie vor diesen Schatten, die durch die Dünen streichen. Dessaint deutet diese Gefahren nur an. Sind sie Vorboten kommenden Unheils oder die Nachhut einer Vergangenheit, die nicht ruhen will? Eine Mischung aus Verletzlichkeit und Vitalität charakterisiert Lucille, auch eine unbändige Rage. Eifersucht und Sexualität kleidet sie nicht selten in Worte, die sie der Sprache Anatoles und Loïks entlehnt: »Wenn ich eine Waffe gehabt hätte, hätte ich die beiden dort auf der Stelle abgeknallt wie tollwütige Hunde« sagt sie über ihren Ex-Liebhaber und dessen Freundin. »Außerdem besteigt der Hahn nicht nur eine einzige Henne, wie Loïk bestimmt gesagt hätte« reflektiert sie über die erneuten Annäherungen des Verflossenen. Ist es die Gemeinschaft mit den vom Leben gestählten Männern, die zu dieser Anverwandlung von Realitätssinn und gesunder Wut führt? Dessaint gelingt es, den inneren Konflikt Lucilles pointiert, aber nicht wertend zum Ausdruck zu bringen. Als Martin, ein Polizist, auftaucht, geraten Lucilles Gewissheiten endgültig ins Wanken. Polizisten waren für sie bisher Gegner, von der Allianz mit den Grenzgängern Anatole und Loïk ganz zu schweigen. Nun aber entdeckt sie Zuneigung bei einem Menschen, der einem schematischen Weltbild gemäß ihr Feind sein müsste. Schematisch aber ist nichts in diesem Buch, denn es kreist um Menschlichkeit. Die Menschlichkeit aber »steht im Begriff, zu etwas außerordentlich Verabscheuungswürdigem zu mutieren«. Der Grund dafür ist die Totaldurchrechtlichung der Gesellschaft, die nicht einmal vor der Verabreichung eines Glases Wasser an einen Migranten Halt macht. Dieser Hüter des Gesetzes, der die Menschlichkeit lobt, ist aber keineswegs verblendet von ihr. Er macht aus Menschlichkeit genauso wenig eine Ideologie wie aus jedem anderen politischen Kampf, denn er beurteilt den Menschen nur nach seinen Taten: »Ein Migrant ist nicht zwingend ein Heiliger. Der kann ein ganz schöner Schweinehund sein. Mein Verstand zwingt mich in allen Fällen dazu, nach begangener Tat zu urteilen und nicht nach der Natur des Individuums.« Wer aber Menschen nur an Taten misst, wird der Liebe nicht gerecht. So ist dieses zarte Pflänzchen, das sich der Sonne entgegenreckt, bereits der Verderbnis preisgegeben: »Du erwartest die Liebe, es kommt der Tod.« Der Tod aber kommt nicht auf Bestellung, schon gar nicht ist er erwünscht. Dessaint lässt ihn ein wenig clownesk und verschlagen auftreten. Er stolpert durch das Dünengras, ganz zufällig oder auch nicht löst sich ein Schuss und eine politaktivistische Schreckaktion stellt die Weichen in ein neues, aber nicht besseres Leben. Die Jagd auf Menschen fordert Opfer: Nicht immer lassen die Bösen ihr Leben, zumal wenn wie in Loïks Fall Gut und Böse untrennbar voneinander sind: »Loïk stand für das Gute im Bösen.« Da genügt es schon, wenn Anatole, der ungeschickte Schnitzer, ganz ungelenk am Jagdgewehr hantiert und Lucilles treuloser Ex, Naturschützer, Ornithologe und Jagdgegner, dran glauben muss. Auch der Vorarbeiter am Hafen, ein guter, ein einfacher Mensch, wird gehetzt und landet im Koma. Jäger und Gejagte sind auf diesem Terrain allesamt Verlierer. Homo homini lupus est – letztlich hapert es immer an der Menschlichkeit. Die zarten Bande lösen sich, die Bande versprengt sich und irgendein neues Leben zeichnet sich ab am Horizont. So ist dieser Horizont vielleicht nicht verloren und fehlt uns weniger, als wir es ahnen. Die Linie ziehen wir selbst, die Entfernung bemisst sich nach unserem inneren Auge. Mit Scott Walkers Worten: »A life of its own lays down the horizon the distance rigged in its eyes«