»Die Essenz des Daseins«

Ein Nachwort von Alf Mayer
©Max Soklov / Adobe Stock

»Es galt, wahrhaftig zu sein, es galt, die beiden Wahrheiten weiterzugeben. Die erste der Wahrheiten ist die, dass es einfache, nackte Menschen gibt; die andere die, dass – jenseits aller Literatur – diese lebende Erde existiert; dass man mit ihr zu rechnen hat, und dass alle Irrtümer des Menschen daher rühren, dass er sich einbildet, er ginge über etwas Totes, während sich seine Schritte doch in ein Fleisch eindrücken, das voll von großem Willen ist.« – Jean Giono, 1929 in seinem Vorwort zu »Der Hügel« (»Colline«).

»Rauer Himmel« führt uns auf ein Terrain, auch literarisch, jenseits der üblichen Kriminalliteratur. Der Himmel, den Franck Bouysse über seine Geschichte und über seine Figuren spannt, ist so alt wie die Menschheit selbst, ist archaisch. Und hier darf man sich freuen. Denn ein Romancier mit universalem Anspruch, dessen Bücher aber tief in der Provinz spielen, das ist im literarischen Mainstream nicht unbedingt vorgesehen. Jean Giono (1895–1970) blieb zeitlebens in der Schublade »Regionalist« eingesperrt, galt nicht nur in Frankreich als Außenseiter. Heute zählt der »Prix Jean Giono« zu den renommiertesten Auszeichnungen des Landes. Franck Bouysse hat ihn im Jahr 2020 erhalten. Von Regionalliteratur redet bei seinen Romanen niemand mehr. Sein Werk ist universell.

2013 zog Franck Bouysse in einen verlassenen Weiler im Herzen des Départements Corrèze, das im Nordwesten des Massif central liegt und auf 5.857 Quadratkilometer gerade 240.000 Bewohner zählt. Der Hauptort Corrèze hat 1.132 Einwohner. Der Gartenbaulehrer an einer Berufsbildungsstätte verwahrte »Die Geschichte von zwei Kerlen in den Cevennen mitten im Winter mit einem Hund« in einer Schublade, überzeugt davon, dass niemand sich dafür interessieren würde. Sein bester Freund überredete ihn, das Manuskript trotzdem an einen Verlag zu schicken. Es war der Beginn einer großen Schriftstellerkarriere. »Grossir le ciel« (»Rauer Himmel«) wurde 2014 veröffentlicht und war ein großer Erfolg. Der schillernde Noir-Roman, mit zahlreichen Literaturpreisen ausgezeichnet, verankerte Franck Bouysse als eine wesentliche Stimme der zeitgenössischen französischen Literatur. Es war das erste Mal in seinem literarischen Werdegang, dass Bouysse durch seine Herkunft – genauer durch die sich vom Boden seiner Kindheit nährende Art zu Schreiben – ein nationales und dann auch ein internationales Publikum fand. Im Interview (siehe die Internetseite des Polar Verlags) beschrieb er das so: »Wie ein Wünschelrutengänger, der Wasser findet und nun weiß, wo er graben muss.«

»Rauer Himmel« spielt in einem kleinen Ort in den Cévennen und bleibt ganz und gar am Boden. Der Roman hat eine erstaunliche Präsenz und lebt aus der Demut für das Kleine. Sein Reichtum liegt auch im Nichterzählten. Seine Protagonisten sind schweigsame Menschen. Wie Jean Giono sieht Bouysse sich von Homer geprägt. Gionos Erstlingsroman von 1927 hieß explizit »Die Geburt der Odyssee« (»Naissance de L‘Odyssée«) und war eine Umdeutung des Homerschen Epos. Bouysse jedoch schreibt von Anfang an in einer ebenso realen wie metaphysischen Landschaft ohne Götter. Ohne Überhöhung. Ohne Pathos.

Seinen Sisyphos brauchen wir uns nicht als unglücklichen Menschen vorzustellen. Gus macht, was notwendig ist. Er ist auf unaufgeregte Art mit seinem Schicksal einverstanden. Er ist ein Mann ohne Überzeugungen, sagt sein Autor über ihn. Auch zum Platz, an dem er lebt, wurde Gus nie nach seiner Meinung gefragt. Und dennoch: »Er war darüber nicht unglücklich, aber auch nicht wirklich glücklich. Es war sein Platz in der gewaltigen Ordnung des Universums, weil er sich keinen anderen vorstellen konnte. Hätte er darüber nachgedacht, wäre er wahrscheinlich zu dem Schluss gekommen, dass nur wenige Leute das Gleiche behaupten konnten. Es war schließlich nicht allen Menschen vergönnt, einen eigenen Stuhl zum Sitzen zu haben.«

Ich bin selbst vom Land, eigentlich sogar Hoferbe. Andere Leser und Leserinnen mögen an anderen Stellen empfindlich sein, ich bin es bei der Schilderung bäuerlicher und dörflicher Verhältnisse und weiß um die literarischen wie philosophischen Konnotationen des Landes als »verlorenes Paradies«. In Fortführung eines Barock- und Renaissance-Arkadiens mit seinen Schäfer- und Gartenspielen wird der »einfache Landbewohner« gerne zum (unreflektierten) künstlerischen Ausdruck der Sehnsucht des Intellektuellen nach einer ihm unerreichbaren Naivität. Das Land als Paradiesgarten und Arkadien, der paradiesische Urzustand des »Bon Sauvage« als Gegenwelt zur unbefriedigenden eigenen Situation in der Gegenwart. »Der Mythos von der besseren und verlorengegangenen Vorzeit scheint beinahe so alt zu sein wie die Äußerung menschlicher Kultur überhaupt«, meint Michael Rössner in seiner Studie »Auf der Suche nach dem verlorenen Paradies. Zum mythischen Bewusstsein in der Literatur des 20. Jahrhunderts«. Verklärung also, oder eben, auch dies ein literarischer Topos bis hinein ins »Country Noir«, das Land als Brutstätte des Dumpfen und Reaktionären. Hinterwäldler ahoi.

Von all diesen Klischees schreibt Franck Bouysse meilenweit entfernt. Sogar wenn er sagt: »Ich spreche von Menschen und ihren winzigen Leben, von diesen Poeten des Alltags, die nicht wissen, wie edel und würdig sie sind. Ich möchte, dass man sie nicht vergisst, ich würde sie am liebsten zu mythologischen Wesen machen, ohne ihre Schwächen auszusparen.«

Bouysse ist bäuerlicher Herkunft, ist ein Landmensch. Seine Großeltern waren Bauern. Die ganze Kindheit war davon bestimmt. Er sagt von sich: »Ich habe mein Leben damit verbracht, das Land zu beobachten und es zu fühlen. Ich kenne die Namen von Tieren und Pflanzen, die es ausmachen. Ich habe das Land für einige Jahre verlassen und bin dann zurückgekommen, denn auf dem Land fühle ich mich gut, ganz bei mir.«

Bei sich zu sein, das heißt für ihn: auch in seinen Erinnerungen, in seiner Tradition. Hatte ich mich beim Aufblättern des Buches noch über das vorangestellte Motto von James Agee gewundert und gefragt, wie ein Zitat aus dem 1941 erschienenen großen Reportage-Essay »Preisen will ich die großen Männer« seinen Eingang in einen französischen Roman von heute findet, so wurde das für mich schnell beantwortet. Der Essayist James Agee und der Fotograf Walker Evans waren im Jahr 1936 durch den amerikanischen Süden gereist, um die Baumwoll-Pachtwirtschaft zu dokumentieren. Es entstand ein Werk, das zu den einflussreichsten Buchdokumenten des 20. Jahrhunderts gezählt wird. Es basiert auf der Idee, eine verschwindende Bevölkerung zu würdigen. Eine verschwindende Arbeitskultur und Kultur.

»Rauer Himmel« ist eine Hommage an das sterbende Bauerntum, an eine untergehende Lebensform. Bis weit ins 20. Jahrhundert lebte noch ein Drittel aller Franzosen von der Landarbeit. Heute sind es gerade noch zwei Prozent. Wie James Agee & Walker Evans fühlt auch Franck Bouysse sich berufen (und gerufen), Zeugnis darüber abzulegen, bevor niemand mehr in der Lage ist, dies zu tun. Und dabei, »im Namen derer zu sprechen, die das nicht können«.

Also für jemand wie Gus, seit über 50 Wintern auf seinem Hof, die Hauptfigur dieses Romans. Gus spricht lieber mit Tieren als mit Menschen. Sein Großvater wurde von einem Stier getötet. So etwas kommt vor, ein Augenblick Unaufmerksamkeit genügt. Sein Vater war ein Trinker. Seine Mutter kam ins Gefängnis, weil sie sich aus dem Gewaltverhältnis mit ihrem Mann gewaltsam befreite – dies eine sehr eindringliche Szene im Roman. Gus hat als Junge Dinge gesehen, die einen verstummen lassen. 17 Kühe, acht Kälber, das sind die Mitbewohner seiner Welt. Sein Nachbar ist Abel, jenseits der 70. Irgendetwas ist dort auf seinem Gehöft passiert. Gus ist kein Ermittler, »Rauer Himmel« hat keinen Polizisten oder Detektiv. Trotzdem ist da Spannung. Und als Leserin oder Leser stellt man den Blick immer schärfer. Der Suspense liegt im Ungesagten, im Ungefähren, in der Stimmung.

Es war für Bouysse ein schriftstellerischer Prozess, eine Sprache dafür zu finden, die Wortkargheit, die sparsamen Gesten und das Schweigen seiner Protagonisten in sein Buch zu übersetzen. Er kann es. Und er kann Zäune reparieren, Bachforellen fangen und braten, mit einer Bindemaschine umgehen, bei einer Kalbsgeburt helfen.

In »Rauer Himmel« schreibt Bouysse sich an die Essenz des Daseins heran.