»Lost Girls«
Ein Nachwort von Sonja Hartl
Eine aufreibende Unruhe durchzieht Felicity McLeans »Cordie« – eine Unruhe, die ihre Protagonistin und Erzählerin Tikka befallen hat, als vor 20 Jahren die Nachbarstöchter Cordelia, Ruth und Hanna verschwunden sind. Seither glaubt sie, sie zufällig zu sehen, sogar in ihrer neuen Heimat Baltimore, über 16000 Kilometer von Australien entfernt. Gesucht hat sie sie jedoch nie, genau wie Detective Senior Constable Mundy es direkt nach dem Verschwinden zu ihr und ihrer älteren Schwester Laura gesagt hat. »Sitzt und wartet, sagte er und wir haben uns mehr oder weniger daran gehalten. Hatten seit zwanzig Jahren nichts anderes getan.« Dann treibt die diffuse Angst, ihre an Krebs erkrankte Schwester zu verlieren, Tikka nach Australien zurück. Sie will nicht, dass Laura auch verschwindet.
Verschwundene Menschen hinterlassen eine Unsicherheit, die auch Tikka nicht abschütteln kann. Sie weiß nicht, was mit den van Apfel-Mädchen geschehen ist, warum sie verschwunden sind. Bei Kindern und Jugendlichen vermutet man eine Unschuld. Womöglich haben sie nicht aus eigenem Antrieb gehandelt, möglicherweise sind sie aus falsch verstandener Zugehörigkeit mitgegangen. Das war es vermutlich bei Ruth, der jüngsten Schwester. »Es ist nicht möglich, sieben Jahre alt zu sein, wenn deine Schwestern dreizehn und vierzehn sind. Unmöglich mitzuhalten. Unmöglich, ernst genommen zu werden.« Aber Ruth wollte ernstgenommen werden, sie wollte mithalten, ist mitgegangen und gestorben. Es ist Ruth’s Tod, der andere Verdächtige – Mr. van Apfel, Mr. Avery – nahezu entlastet. Ruth wurde nicht ermordet, jedenfalls hat die Obduktion nichts ergeben. Wahrscheinlich ist sie verunglückt, als sie ihre Schwestern begleitet hat, die weggelaufen sind. Sie sind älter als Ruth, aber offenbar war die Möglichkeit, dass ihnen etwas zustößt, weniger grausam als ihre Wirklichkeit.
Von Mädchen, die verschwinden, wird in der Literatur häufig erzählt, und McLean bettet ihre Geschichte in Verweise auf populäre Vorläufer ein. Auf den Fall Azira Chamberlain, die 1980 im Alter von neun Wochen verschwunden ist und deren Mutter fälschlicherweise wegen Mordes verurteilt wurde. Ein Fall, der durch ihre in die Verfilmung mit Meryl Streep aufgenommene Aussage, »a dingo ate my baby« in die Popkultur einging. Das Verschwinden der drei van Apfel-Mädchen erinnert zudem an Australiens berühmtestes fiktionales Verschwinden einer Gruppe von Mädchen. Im Jahr 1976 erschien Joan Lindsays »Picnic at Hanging Rock« (»Picknick am Valentinstag«). Angelegt als wahre Geschichte wird in diesem Roman von dem spurlosen Verschwinden einer Lehrerin und drei Schülerinnen während eines Picknicks am Valentinstag 1900 erzählt. An dem heißen Februartag wollten Miranda, Irma und Marion die Felsformation Hanging Rock erkunden und sind nicht zurückgekehrt. Einzig Irma wurde Tage später gefunden.
Es war auch bemerkenswert heiß, als die van Apfel-Schwestern verschwunden sind. Ruth erinnert an eine naive jüngere Mitschülerin, die an dem Tag erst mitging, dann aber umkehrte und zurückkam. Ihr Auffinden ähnelt dem vom Irma, die allerdings lebend entdeckt wird. Beide werden von der Landschaft regelrecht verschlungen. Ruth wird am Fluss gefunden, »(d)irekt hineingerammt, als wäre das Tal nicht schon tief genug, als hätte sie versucht, noch tiefer zu kommen, versucht, direkt hineinzukriechen und bei lebendigem Leib gefressen zu werden.«
Vor allem aber gibt es bei beiden vermissten Mädchengruppen diejenige, die alles überstrahlt. Es ist Cordie, der sich Tikka nicht entziehen kann. »Und immer war es Cordie, immer Cordie. Nie Hannah oder Ruth. Cordie war die Eine, die zurückkehrte. Die auftauchte und dann vor meinen Augen verdunstete.« In »Picnic at Hanging Rock« ist es Miranda, an die sich alle erinnern. »Miranda, ohne Hut mit glänzendem Haar. Ein Picknick ohne Miranda machte keinen Spaß. Es ist immer Miranda, die in dem blendenden Licht erscheint und verschwindet. Wie ein Regenbogen. Oh, Miranda, Miranda, wo seid ihr?«. Sie sind diejenigen, die im Mittelpunkt stehen. »Die Luft summte, wenn Cordie über das Gras des Vorgartens schritt. Als würde man einen Atem ausstoßen, von dem man nicht gewusst hatte, dass man ihn angehalten hatte: Cordeli. Aaah. Jeder hatte etwas über Cordelia van Apfel zu erzählen.« Miranda ist diejenige, die vorangeht; Cordie ist die Mutige, die gegen ihren Vater aufbegehrt. »Cordie war so einzigartig, so komplett Cordie, dass sie nicht so wirkte, als müsse sie irgendwen anderes berühren.« Miranda sieht aus wie ein »Engel von Botticelli« – bei der Beschreibung von Cordie wird dieser Vergleich negativ bemüht: »Sie sah aus wie eine Mischung aus Woods American Gothic und Kylie Minogue. (Aber nicht wie ein Botticelli-Engel, so viel ist sicher.)«
In der Originalpublikation von »Picnic at Hanging Rock« wird nicht aufgelöst, warum und wohin die Mädchen verschwunden sind. In den Jahren bis zu Lindsays Tod sind zahlreiche Versionen in Umlauf gekommen, was mit den Mädchen passiert sei: Sie seien in ein Paralleluniversum abgedriftet, in die Traumzeit versetzt worden, auf ein UFO gestoßen oder es stecke doch ein Verbrechen dahinter. Die deutschsprachige Ausgabe von 1994 hat sogar noch eine weitere Erklärung angefügt, die sich der Übersetzer Werner Wolf überlegt hatte: Durch eine Art Zeit-Raum-Spalte sind sie mit der Lehrerin in deren alten Heimat auf den St. Kilda gelandet. Tatsächlich hatte Lindsay damals eine Lösung geschrieben, die aber nicht veröffentlicht wurde – auch sie arbeitet mit Übersinnlichem. Aber die Entscheidung, es nicht zu publizieren, war wohl überlegt. Es ist das Geheimnis am Verschwinden, das fasziniert – noch heute.
Einem anderen Aspekt der Geschichte von Hanging Rock wird indes weit weniger Aufmerksamkeit geschenkt: Bevor die Mädchen verschwinden, entledigen sie sich ihrer Korsetts. Auch Irma wird ohne Korsett gefunden – es fällt einer Frau auf, aber sie würde niemals vor dem männlichen Arzt die Unterwäsche einer Frau, geschweige denn eines jungen Mädchens ansprechen. In diesem Verschwinden der Korsetts kann man auch eine Befreiung sehen: eine Befreiung aus den rigiden Etikette-Vorschriften der Gesellschaft, aus Möglichkeiten, die sogar für die jungen, hübschen, klugen und reichen Mädchen um 1900 nur begrenzt waren. Was hätte schon aus ihnen werden können? Im Australien des Jahres 1992 sind es weniger die gesellschaftlichen Konventionen als vielmehr der Vater, der die van Apfel-Mädchen einschränkt. Er sieht ihre Körper, ihren Glauben und ihren Geist als seinen Besitz an.
Diesem Kontrollanspruch der Eltern haben sich vor den van Apfel-Mädchen bereits andere Mädchen in der Literatur entzogen – berühmtes Beispiel sind die »Selbstmord-Schwestern« in Jeffrey Eugenides’ gleichnamigen Buch. Jedoch hat McLean eine kraftvollere Erzählerin gewählt. Bei Eugenides erinnert sich eine Gruppe Jungs an die Schwestern, Tikka indes weiß, wie es ist, ein Mädchen zu sein. Für sie ist nicht schon das ein Geheimnis. Mit elf-ein-Sechstel Jahren zum Zeitpunkt des Verschwindens hat sie das für die Erzählung perfekte Alter. Sie ist noch ein Kind, aber schon alt genug, um die meiste Zeit ohne Aufsicht zu verbringen. Vieles bekommt sie mit, übersieht aber so manches, was eine Erwachsene sehen würde. Schon ihre Schwester Laura – sie war 14 Jahre alt, als ihre Freundinnen verschwanden – berichtigt sie bei manchen Erinnerungen.
Diese unzuverlässigen Erinnerungen bauen Spannung auf, dazu kommen Vermutungen, bei denen Tikka im Nachhinein nicht mehr weiß, wie sie zu bewerten sind. Sie ahnte schon damals, dass bei den van Apfels etwas nicht stimmt, genauso wie sich ihr »Magen auf eine Art« verkrampfte, »die mir gar nicht gefiel«, als sie von dem undurchsichtigen Mr. Avery angesprochen wird. Aber sie weiß damals noch nicht, dass sie ihren Instinkten vertrauen kann und sollte. Außerdem hat man mit Elf-ein-Sechstel-Jahren ganz eigene Sichtweisen und Absichten. Tikka will vor allem dazugehören und von ihrer älteren Schwester und Hannah nicht außen vorgelassen werden – alleine schon, um sich von der noch jüngeren Ruth abzugrenzen. Als sie von ihr erfährt, dass Hannah und Cordie abhauen wollen und ihre Schwester ihnen dabei hilft, hat sie eigentlich nur eine Frage: »Warum hatten sie mich nicht eingeweiht?« Schnell findet sie einen Ausweg aus dieser Situation, sie will gar nicht erst zugeben, dass es auf sie nicht ankommt. Also überzeugt sie sich, dass ihr Einakter beim Showstopper alle ablenken muss, damit die Mädchen verschwinden können. So hilft auch sie ihnen. Diese Logik ist bestechend für eine Elfjährige – und klingt aus ihrer Perspektive genauso überzeugend wie Tikka sie empfindet. Deshalb fällt ihr auch erst als Erwachsene die Frage ein, die sie hätte stellen müssen: »Warum planten Hannah und Cordie, von zu Hause wegzulaufen?«
Die zeitliche Verschränkung der Erzählebenen wird durch wiederkehrende Motive unterstützt. McLean spielt mit Namen. Allein van Apfel erinnert zum einen an die Schulleiterin in »Picnic at Hanging Rock«, die Appleyard heißt. Zum anderen betont Mr. van Apfel, dass der Name auf den Apfel anspielt, den Eva Adam gibt. Cordelia van Apfel fällt vom Baum – sie ist in den Augen des Vaters Versuchung wie Verdammnis. Ihr Fall führt nicht zu einer (verbotenen) Erkenntnis, vielmehr erhofft sich Tikka nur, dass das der Anfang der Geschichte ist. Aber sie findet den Anfang genauso wenig wie das Ende. Cordelia »verdunstet« vor ihren Augen. Als sie ihrer Mutter erzählen will, dass Mr. van Apfel Ruth geschlagen hat »lösten sich« die Worte »einfach in meinem Mund auf«. Passend zum »Pzzzt-pzzzt-pzzzt« des Rasensprengers vom Nachbargrundstück schweigen Laura und sie. Dieses Schweigen lastet schwer auf ihnen, sie ahnen nicht, dass die Erwachsenen viel größere Dinge verschwiegen haben. Für Tikka bleibt vor allem das Gefühl, die Mädchen und ihr Verschwinden nicht richtig zu fassen – wie der Hitzeschleier, der zwei Horizonte bildet »den echten und sein Doppelbild«, bekommt Tikka kein richtiges Bild hin. »Als die Mädchen verschwanden, dachten wir, wir hätten das Schlimmste gesehen. Doch mit dem Sehen und Nicht-Sehen ist das so eine Sache. Selbst heute weiß ich nicht, was letzten Endes grausamer ist.« Es sind diese Lücken, die für Tikka ihre Kindheit ausmachen, die ihrer Meinung nach erwähnenswert sind – sogar bei dem Canyon, der ihren Heimatort formt: »Selbst heute ist seine Topografie nur wegen dem erwähnenswert, was fehlt.« Und was ihr fehlt, sind die van Apfel-Mädchen.
Mit ihrem Verschwinden sind Cordelia, Hannah und Ruth auf ewig die van Apfel-Mädchen geworden. Eine Gruppe, zusammengefasst. Sie werden nie die Heldinnen ihrer eigenen Geschichten sein. Das unterscheidet die Geschichten von verschwunden Mädchen von denen über verschwundene Jungs. Vermisste Jungen erleben Abenteuer. Sie sind Entdecker, sie sorgen für Unruhe. Mädchen indes sind Auslöser, keine Handelnden. Ihre Absichten und Gedanken werden durch andere vermittelt, sie sind Projektionsfläche für Vermutungen und Gefühle. Insbesondere Cordie ist für Tikka all das, was sie hoffte, dass sie ist – aber es sind ihre Ideen und Vorstellungen, die Cordie zum Leben erwecken. Deshalb handelt dieses Buch nur vordergründig von dem Verschwinden der drei Mädchen, tatsächlich wird die Geschichte von Tikka erzählt. Am Ende löst sich etwas auf – aber es ist nicht das Rätsel des Verschwindens der van Apfel-Schwestern. Wie in allen Geschichten über Verschwundene löst sich etwas für diejenige, die sich erinnert und sucht. Tikka löst sich von ihren Schuldgefühlen, von dem Gefühl, verantwortlich zu sein. Für die van Apfel-Mädchen aber liegt in ihrem Verschwinden die einzige Macht, die sie haben: das allumfassende Schweigen über das, was zu ihrem Verschwinden geführt hat.
Die Zitate aus »Picknick am Valentinstag« entstammen der zweiten Auflage der deutschsprachigen Ausgabe 1994, erschienen im Zsolnay Verlag. Übersetzung von Werner Wolf.