»Der Teufel und die Theologie des Zynismus«

Ein Nachwort von Günther Grosser
©Max Soklov / Adobe Stock

Hat der Teufel schon gewonnen, als Pastor Weatherford sich einen kleinen schwulen Seitensprung erlaubt, der ihn erpressbar macht, oder trägt er den Sieg erst davon, als die Spirale des Mordens sich zu drehen beginnt? Für die fünfzehn Millionen Anhänger der größten amerikanischen Kirche, der Southern Baptist Convention, gibt es da keine Zweifel: Jegliche sündige Verfehlung öffnet dem Treiben des Satans Tür und Tor. Und Jake Hinkson weiß ganz genau, wovon er redet, wenn er in »Verdorrtes Land« draußen im Van Buren County in den Ausläufern der Ozark Mountains eine Baptistenfamilie an den Rand des Abgrunds treibt. Tief eingebettet in eine erzkonservative christliche Umgebung wuchs er in ebenjenem Van Buren County in Arkansas auf, der Vater Diakon, ein Onkel Pastor, die Mutter führte die Bücher der Kirchengemeinde. »Das Christentum bildete in meiner Familie das Zentrum der menschlichen Existenz.« Das klingt harmlos, nach 365 Seiten »Verdorrtes Land« weiß man jedoch, welche Fallgruben und Minenfelder da lauern. Inzwischen lebt der 46jährige Hinkson in Chicago und unterrichtet Medienkunst an der dortigen Academy for the Arts. In seinem rabenschwarzen Debüt »Hell on Church Street« bohrte er vor zehn Jahren zum ersten Mal in der schwärenden Wunde der Bigotterie und des religiösen Fundamentalismus. In Frankreich schätzte man das Angriffslustige dieser Noir-Haltung sehr und zeichnete ihn mit dem Prix Mystère de la Critique aus. Mit »Verdorrtes Land« und Richard Weatherford kehrt er erneut zurück zu seinem halb-autobiografischen Ansatz.

Mit den Pastoren und Pfarrern der klassischen Kriminalromane aus dem klerikalen Milieu hat Weatherford jedoch nur am Rande zu tun; er und Chestertons Pater Brown etwa hätten sich wenig zu sagen, seine pragmatische Glaubensvariante würde auf Erstaunen und Naserümpfen stoßen. Er ist ein Mann aus der Riege der schwarzen Priester des Film Noir, wo die Sünde und das Böse nicht durch zweitausend Jahre theologischer Spitzfindigkeiten raffiniert wurden, sondern wie Urgewalten aus dem Hinterhalt über die Leute kommen und Kerle mitbringen wie Harry Powell, den »bible-totin’ son of a bitch« mit den Love- und Hate-Tatoos auf den Fingern, den Höllenpriester aus Charles Laughtons schwarzem Meisterstück »Die Nacht des Jägers« aus dem Jahr 1955. Harry Powell lechzt noch nach dem alten Ziel aller Gier, nach Geld, Weatherford nach dem neuen – Sex. Als ausgewiesener Experte des Film Noir, Autor zahlreicher Essays zum Thema, kennt Hinkson die Regeln des Genres und weiß, wo das 21. Jahrhundert seine Anknüpfungspunkte hat und wo es neue Regeln und neue Ästhetik nötig hat. Korruption und Machtmissbrauch sind nicht mehr die Kernthemen, es ist der Zerfall des Sozialen: Pastor Weatherfords Familie wird den Zentrifugalkräften der Zeit nicht standhalten können, seine Frau Penny akzeptiert den Frust nicht mehr und fordert ihren Platz. Dazu gehört auch Sex, Sünde hin oder her.

Zu den sündigen Verfehlungen zählt auch der Genuss von Alkohol, und die Southern Baptist Convention setzt seit dem Ende der Prohibition in den frühen 1930er Jahren alles daran, dem Teufel hier einen Riegel vorzuschieben, indem sie wo immer möglich auf Politik und Öffentlichkeit einwirkt und den Verkauf des Teufelszeugs verbieten lässt. So verwandelten sich über die Jahrzehnte zahlreiche US-amerikanische Landkreise in sogenannte »Dry Countys«, wo der Verkauf von Alkohol verboten ist wie in fast der Hälfte aller 75 Countys in Arkansas. Mehr als 500 Gemeinden – Städte, Dörfer, Landkreise – in den USA sind bis heute »dry«, und man muss über die Grenze ins nächste Dorf oder County fahren, um sich einen Sixpack Bier oder eine Flasche Whiskey zu kaufen. Die Kuriosität, dass eine der größten Whiskey-Brennereien der USA, Jack Daniels, im »Dry County« Moore in Tennessee seine hochprozentige Ware brennt, sie dort aber nicht verkaufen darf, muss man sich auf der Zunge zergehen lassen. Verständlich, dass Brian Harten in »Verdorrtes Land« alles auf die eine Karte Schnapsladen setzen will: Würde das Verbot gekippt, wäre er ein gemachter Mann. Hinkson lässt ihn auflaufen. Ungeschoren kommt hier sowieso keiner davon und mit dem Leben auch nur die wenigsten. Ist das tragisch?

Die Frage ist berechtigt, denn eine der zwiespältigen Leistungen der US-amerikanischen Kultur ist die Abschaffung des Tragischen: Die Helden der ersten Frontier-Romane und der billigen Cowboy-Heftchen des frühen 19. Jahrhunderts plagten sich nicht mit Skrupeln und fanden immer einen Ausweg. Der Westerner, dann der Privatdetektiv, der Cop, der Weltraumreisende – es waren bis vor kurzem nahezu ausnahmslos Männer – geriet vielleicht an den Rand seiner Möglichkeiten und musste viel einstecken, ausweglos scheitern wie Ödipus oder Hamlet, die tragischen Helden mit den zerrissenen Seelen, wird er hingegen nie. Die Wunscherfüllungsmaschine Hollywood perfektionierte diesen verlogenen Optimismus und lässt ihre Helden bis heute von Glück erfüllt in den Sonnenuntergang reiten. Tragisch untergegangen, weil sein eigener Codex einfach nicht mit der verlotterten Gesellschaft in Übereinstimmung zu bringen war, ist da schon lange keiner mehr. Ein paar wenige Grübler allerdings wie Melville, Hemingway, Orson Welles, Kubrick und besonders die Tragödienbastler des Noirs wie Cornell Woolrich, James M. Cain oder Jim Thompson spürten diese Diskrepanz, diese Lüge, ließen ihre Figuren »schuldlos schuldig« werden und trieben sie in den Untergang. Jake Hinksons Pastor Weatherford wird schuldlos schuldig – eine kurze Affäre, und seine Welt kollidiert mit der anderen; er kann die Spirale der Gewalt nicht aufhalten, stapelt Leiche auf Leiche und erfährt schließlich eine kuriose Läuterung: Er weiß nun, dass seine Schäfchen allesamt die Lüge leben und sonntags nur darauf warten, dass sie von der Kanzel herab verabreicht wird. Untergehen darf er nicht, er muss mit Schuld und Lüge leben.

Als wichtigen Einfluss auf seinen Roman nennt Hinkson übrigens mit »Dare Me« ein schwarzes Meisterstück der im deutschsprachigen Raum noch so gut wie unbekannten 51jährigen Megan Abbott aus Detroit, von deren zehn Romanen bislang nur ein einziger ins Deutsche übertragen wurde. »Dare Me«, eine Noir-Perle aus dem Cheerleader-Milieu, zeigt Obsessionen, Träume, Hinterhältiges ganz aus dem Blickwinkel zweier Teenager und ihrer neuen Trainerin. Dieser Einfluss scheint kurios, denn überzogene Religiosität, Heuchelei und Bigotterie in Arkansas haben mit Cheerleadern, Teenagerträumen und Machtspielchen in Ohio nicht einmal mehr am Rande zu tun. Allerdings geht es Hinkson hier um das Formale: Wie Abbott erzählt er den Untergang seiner Weatherford-Familie konsequent aus den Blickwinkeln der fünf zentralen Figuren. Diese radikal subjektiven Perspektiven erlauben hier wie dort Einblicke in geschlossene Gruppen, die sich ihre eigenen Regeln geben und Einfluss zu nehmen versuchen auf die Gesellschaft, ob missionarisch, politisch oder ökonomisch. Das genauso streng durchgehaltene Erzählen im Präsenz gibt den Vorgängen dann zusätzlich eine treibende Dringlichkeit – so etwa dem Abstieg und dem Versinken Pastor Weatherfords in der kohlrabenschwarzen Theologie des Zynismus: »Die Kirche ist still. Sie warten … Sie warten auf die Lüge. Also gebe ich sie ihnen.« Der Teufel kichert.

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