Gewalt liegt in der Luft

Ein Nachwort von Peter Henning

©Max Soklov / Adobe Stock

»Man wird nicht reich dabei, und viel Spaß macht es einem auch nicht. Manchmal wird man zusammengeschlagen, oder es wird nach einem geschossen, und manchmal landet man im Knast …

Jeden zweiten Monat fasst man den Entschluss, den Kram hinzuschmeißen und sich einen vernünftigen Beruf zu suchen, dem man ohne dauerndes Kopf-schütteln nachgehen kann. Dann ertönt der Türsummer, man öffnet die Innentür zum Wartezimmer und dann steht da ein neues Gesicht mit einem neuen Problem und einem kleinen Batzen Geld …«

Was seinerzeit für den Arbeitsalltag von Raymond Chandlers Privat Eye Philip Marlowe galt, der sich erstmals in dessen 1950 erschienenem L.A.-Roman »Der große Schlaf« blaue Flecken holte, das gilt für den Anwalt Jay Porter allemal! Seine Klienten sind in der Regel knapp bei Kasse, seine Honorare entsprechend mies – und die Auftragslage mehr als überschaubar.

Trotzdem kämpft der Kerl in Attica Lockes endlich auf Deutsch vorliegendem Debüt Anfang der 1980er-Jahre unverdrossen für das Recht der in Houston mit dem Gesetz in Berührung gekommenen kleinen Verlierer – und manchmal sogar um sein Leben.

Geleitet wird er dabei auf geradezu Marlowe-hafte Weise von Werten wie Lauterkeit und Unbestechlichkeit, die so alt und so unwandelbar sind wie der Golf von Mexico, der seit Ewigkeiten von Osten her an der Stadt nagt, und für Jay Porter – mag der Gegenwind ihm auch noch so kräftig ins Gesicht blasen – nicht verhandelbar sind!

So verkörpert Porter, diese wunderbar altmodische Seele, den Idealtyp des Außenseiters auf eigentlich verlorenem Posten, der, mag er noch so lädiert sein von der zuletzt geschlagenen Schlacht, auch morgen wieder in Space City losziehen wird, um sich zwischen Sam Houston-Denkmal, Rice University und der Main Street in Downtown auf die Suche nach der verborgenen Wahrheit zu machen, sofern ein paar Dollar für ihn dabei herausspringen – und jene, für die er das tut, ihm nicht gleichgültig sind.

Warum? Weil er nicht anders kann! – und sich Don Quichotte und Sisyphos offenbar als glückliche Menschen vorzustellen vermag. So einem sieht man gern bei der Arbeit zu! Zumal, wenn sie einem auf solch plastische Weise geschildert wird, wie Attica Locke es in ihrem nunmehr dritten, auf Deutsch publizierten Roman »Black Water Rising« tut; einem Debüt von imponierender erzählerischer Frühreife, so dass man sich ungläubig fragt, wie es die seinerzeit 35-Jährige vermochte, ihren sich bald wie eine Sprengfalle nach allen Seiten hin gleichzeitig entladenden Plot derart souverän zu händeln, ohne dass dieser auch nur einmal in diese oder jene Richtung Schlagseite bekäme.

Das Ganze beginnt wie eine leichte Sommergeschichte von Tennessee Williams oder James A. Michener: Jay Porter überrascht seine hochschwangere Frau Bernie mit einer Geburtstagsfahrt auf dem Buffalo Bayou, er hat einen Kahn gemietet und schmücken lassen, sie tanzen zu den Liedern von Sam Cooke und Otis Redding, trinken und genießen den Augenblick. Doch dann zerreißen zwei Schüsse die behagliche Stimmung des Abends – und es sind »gleichsam Schläge an das Tor des Unheils«, wie es in Albert Camus` berühmtem Thesenroman »Der Fremde« vergleichbar heißt.

Jay rettet einer um Hilfe rufenden Frau vermeintlich das Leben – und dies bildet den Auftakt zu einer faszinierenden David-gegen-Goliath-Geschichte, in deren Zentrum er sich plötzlich gestellt sieht, als man tags darauf an den Ufern des Bayou die Leiche eines mit zwei Schüssen getöteten Mannes findet – und er schlagartig begreift, wer in Wahrheit am Vorabend geschossen hat.

Das alles rollt an in den USA des Jahres 1981: Der Republikaner Ronald Reagan ist am 20. Januar als 40. Präsident der Vereinigten Staaten vereidigt worden. William Saroyan erhält den Pulitzer-Preis – und Nelson Algren stirbt. Als erstes Wild Card-Team gewinnen die Oakland Raiders den Super Bowl – und in Houston, Texas, wo mehr als ein Duzend mächtiger Ölfirmen um den großen Schwarzen Kuchen streiten, sind die Arbeiter in einem der wichtigsten Häfen der USA kurz davor, in den Ausstand zu treten, weil die Frachtfirmen sie zu unbezahlter Mehrarbeit zwingen wollen.

Gewerkschaften, Frachtfirmen und die Hafenkommission liefern sich heftige rhetorische Scharmützel. Und auch hier ist Jay gefordert, als er von seinem Schwiegervater dazu genötigt wird, als Mittler zwischen den zum Streik bereiten Hafenarbeitern und der amtierenden Bürgermeisterin, mit der ihn einst eine Liebesgeschichte verband, zu fungieren, nachdem man einen der ihren als Warnung vor einem möglichen Streik zusammengeschlagen hat. Die Stadt steht vor der großen Zerreißprobe – und es scheint, als steuere alles ähnlich wie 1973 auf eine Zweite Ölkrise zu: »An den Tankstellen, die er passiert, warten mindestens drei Autos an jeder Zapfsäule, bei einigen reicht die Schlange bis auf die Straße. An einer Tankstelle an der Almeda Road füllt ein Mann mehrere Benzinkanister und wuchtet sie auf seinen Truck … Leute, die Benzin horten aus Angst, es könnte ausgehen. Er kann die Aufregung wegen ein paar Arbeitern, die mehr Lohn fordern, nicht begreifen, es ist, als würde die ganze Stadt von einer Welle der Hysterie erfasst.«

Langsam, wie in Zeitlupe, treibt Attica Locke ihre Geschichte voran. Und es ist ein undurchsichtiger Mehr-Fronten-Krieg, in den sie ihren wackeren Einzelkämpfer Porter hineinschickt:

»Wenn all die Gewalt, die sich in den Kirchen, Spielhallen und Kneipen Haarlems ansammelt, jemals zum Ausbruch käme«, schrieb dereinst der schwarze Romancier James Baldwin, der in New Yorks seinerzeit von Schwarzen geprägtem Stadtteil aufwuchs, »würden Haarlem und seine Bewohner wahrscheinlich in einer apokalyptischen Flut versinken.«

Was damals für New York galt, das gilt für das Houston des Jahres 1981 nach wie vor: Rassenspannungen brodeln unter der Alltagsoberfläche, Gewalt liegt in der Luft. Denn die dortige schwarze Community kämpft auch 17 Jahre nach dem 1964 von Lyndon B. Johnson verabschiedeten »Civil Rights Act« um Anerkennung und gesellschaftliche Gleichstellung. Der einst von Martin Luther King öffentlich beschworene Traum von vollständiger Gleichberechtigung hat sich nicht erfüllt. So irrt der schwarze Odysseus Porter über das ihm von seinen zunächst unsichtbaren Gegnern bereitete Minenfeld, und jeder seiner Schritte kann der letzte sein. Darin erinnert der Kerl von fern an »Jake« Gittes, den starrköpfigen Spürhund aus Roman Polanskis formidablem Los Angeles-Noir »Chinatown« von 1974, der einst ähnlich unbeugsamen am Ball blieb – und sich dabei eine aufgeschlitzte Nase holte.

Man bricht in Porters Wohnung ein, hetzt ihm einen Killer auf die Fersen und versucht ihn mit einer größeren Summe davon abzuhalten, nicht länger herausfinden zu wollen, was die Schüsse der ehemaligen und vielfach vorbestraften Prostituierten an den Ufern des Buffalo Bajou mit den vor den Toren Houstons unterirdisch gehorteten riesigen Ölmengen zu tun hat, die die Konzerne zurückhalten, um die Preise hoch zu halten.

All das mischt Attica Locke zu einem mitreißenden Stück heutiger Literatur engagée über die Kämpfe Schwarzer in einer immer noch von Weißen dominierten Welt. »Man kann den Preis gar nicht hoch genug ansetzen, den ein Neger zahlt, um aus dem Dunkel ans Licht zu gelangen – denn es ist ein ganz besonderer Preis der dadurch bestimmt wird, dass man ein Neger ist«, bekannte einst der afro-amerikanische Krimi-Schreiber Chester Himes.

Auch Porter zahlt ihn auf seine Weise. Denn in ihrem durch und durch politisch motivierten Schreiben geht es Attica Locke bei all ihrem bewundernswerten Plotting nicht alleine um ihren Fall und dessen Aufklärung, sondern allem voran um Menschen und die Desaster, in die sie geraten. Und um den Preis, den sie bezahlen müssen, um wieder rauszukommen.

Es geht ihr um all jene, die im realen Houston und anderswo in den USA mitunter ihr Leben ließen für den bis heute nicht abschließend gewonnenen Kampf der Schwarzen. Denn Schreiben heißt bei dieser Schriftstellerin auch, sich an jene zu erinnern, die vor ihr diesen Weg gegangen sind: Den der Anklage mit schrift-stellerischen Mitteln! Das Resultat ist erstklassiges literarisches Entertainment in Form hochaufgelöster soziologischer Fallstudien, die zeigen, wie packend eine Literatur sein kann, die ihr Thema bis in seine feinsten Verästelungen ernst nimmt, ein Anliegen hat – und noch an so etwas wie die aufklärerische Kraft gut erzählter Geschichten glaubt; Stories, die ihren Ursprung nicht in der Fantasie haben sondern dort, wo es für uns alle tagtäglich um Gut oder Böse geht: in der Wirklichkeit, ganz gleich ob sie London, Köln oder Houston heißt.

Dass sich am Ende auf die meisten in ihrem Roman gestellten Fragen zufriedenstellende Antworten finden, gehört zur Logik des Genres, in dem ihre Stoffe wurzeln. Denn diese Autorin versteht ihr Handwerk: Das Gewehr, das bei ihr im ersten Akt an der Wand hängt, geht im Zweiten natürlich auch los! Was Raymond Chandler einst für Los Angeles war, das ist Attica Locke in gewisser Weise für ihre Geburtsstadt Houston: die Chronistin des bis heute nicht gewonnenen Kampfes der dort lebenden Schwarzen um Gleichberechtigung und Anerkennung. Und sie wird weiter darüber schreiben, Bücher voller Anliegen, Zorn und Wärme für all jene, die sich nicht einverstanden erklären mit dem Lauf ihrer Welt; Romane wie überhitzte Laboratorien, in denen einander abweisend gegenüberstehende Elemente jeden Moment eine riesige Explosion auslösen können – verstanden als furchtlose Arbeit des Autors an der Grenze. Unwägbar im Ausgang. Ein tückisches Spiel mit schwindenden Schatten. So stoßen wir in all ihren Romanen auf Wesen wie Jay Porter; Typen, die getrieben bleiben von ihrer Sehnsucht nach einer besseren, friedlicheren und offeneren US-Gesellschaft: Kämpfer und verkappte Aktivisten, die sie ihre Anliegen jeweils in der ihnen ganz eigenen Sprache artikulieren lässt: Mal in Form ruppiger Verzweiflungsreden, als scheues Wispern, und nicht selten als unüberhörbare Anklage.

»Ich weiß nicht, wie Du das aushältst!« sagt eine Figur in den großartigen, 2018 auf Deutsch erschienenen Storys der 1988 verstorbenen Afro-Amerikanerin Kathleen Collins. »Die Apartheit frisst an unserer Würde, aber sie lässt uns wenigstens unsere Kultur. Wir haben noch unsere Wurzeln, unsere Traditionen.« Beide beschwört Attica Locke in all ihren Büchern zwischen den Zeilen ganz selbstverständlich mit. Entsprechend meint man bei deren Lektüre die Stimmen von Toni Morrison, Alice Walker oder Ralph Ellison zu vernehmen. Denn Literatur, das weiß auch Attica Locke, kommt von Literatur. Und zuletzt sind da immer noch Leute wie Jay Porter; unnachgiebige Moralisten, die, wenn es mal wieder drauf ankommt und ein paar Dollar für sie dabei rausspringen, in unserem Auftrag losziehen, um sich auf die Suche nach der verborgenen Wahrheit zu machen. Im Namen der Gerechtigkeit – und gegen alle Anfeindungen. Gut zu wissen!